Ehe ohne Trauschein?

Ich schreibe gerade an einem Artikel über das Abendmahl und habe dabei neben der Frage der Symbole unter anderem auch die Position der Heilsarmee studiert. Wegen der konfessionellen Grabenkriege verzichtet die Heilsarmee ganz auf Sakramente. Auf der Website heißt es dazu:

Nach Auffassung der Heilsarmee haben rituelle Handlungen nur dann einen Sinn, wenn auch ihr geistlicher Sinn erfasst und verwirklicht wird. Daher verzichtet sie auf die Sakramente als symbolische und äußerliche Handlung. Die geistliche Bedeutung jedoch, die hinter dem symbolischen Akt (Wassertaufe und Abendmahl) steht, wird von der Heilsarmee ausdrücklich vertreten.

Die Argumentation – wir wollen den Inhalt, aber verzichten auf die Form – hat mich an die Debatte um die Ehe erinnert. Da wird völlig analog beklagt, dass in der Ehe und um die Ehe gestritten wird, dass es Pro-Forma-Ehen gibt, die den Namen nicht verdienen, und dass ein Trauschein keine Liebe erzwingt. Folglich lässt sich die „geistliche“ (oder eigentliche) Sache vielleicht ohne solche Äußerlichkeiten besser und einfacher haben. Sie liegt ja sowieso „hinter dem symbolischen Akt“ – auf einer ganz anderen Ebene.

Damit bürdet man natürlich dem einzelnen noch viel größere Lasten auf, weil man die Erwartung an Authentizität erhöht. Nun muss man sich zumindest theoretisch in jedem Augenblick neu entscheiden und ständig kritisch beäugen. Ein Tief oder eine Durststrecke werden schnell zum existenziellen Fragezeichen, wenn jede äußere Klammer fehlt.

Man kann diese Logik pflegen und diese Position vertreten. Wenn man das aber beim Abendmahl tut, müsste man das bei der Ehe dann nicht auch machen? Oder es umgekehrt bleiben lassen? Dass diese Symbolkritik von der einzigen protestantischen Kirche stammt, die Uniform trägt und „Blut und Feuer“ im Wappen führt, entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Ironie…

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Nur ein Symbol?

Immer wieder begegne ich Menschen, die sagen, dieses oder jenes (darunter auch das Brot und der Wein beim Abendmahl) sei nur ein Symbol. Als wäre das eine minderwertige Wirklichkeit, ein bloßes Hinweisschild, ein austauschbarer Begriff, eine leblose Abstraktion. Wenn aber in Teheran oder Gaza Israelfahnen verbrannt werden, wenn Neonazis aufmarschieren und den Arm zu Hitlergruß erheben, wenn um Kruzifixe in Schulen oder auf dem Cover von Titanic gestritten wird, oder wenn wir – um mal vom Politischen ins Private zu wechseln – beim Schwimmen im Meer den Ehering verlieren, dann wird ganz schnell deutlich, dass Symbole einen Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern auch schaffen und prägen. Deswegen kommt man für den Hitlergruß richtigerweise in den Knast. Deswegen lieben wir Brautkleider und Taufkerzen.

Symbole ordnen unsere Wirklichkeit. Unsichtbares – eben die Beziehungen zwischen Personen und/oder Gegenständen – wird sichtbar. Betrachte dich einen Augenblick im Spiegel: Wie viele Schriftzüge oder Zeichen von Marken sind auf Kleidung, Schuhen, Uhr oder Brille zu erkennen? Die allgegenwärtigen Firmenlogos tragen zur „Corporate Identity“ bei. Sie zeigen, dass wir zu bestimmten Gruppen dazugehören oder eben nicht. Sie verraten, wer wir sein wollen, wofür wir sind und wogegen wir protestieren. Und schließlich: Münzen und Geldscheine haben in der Regel keinen hohen Materialwert, aber das nehmen wir kaum noch mehr wahr. Der grüne Schein ist 100 Euro wert, und wehe, wenn ich ihn verliere. Also – wirklich nur ein Symbol, Tinte auf Papier, bloß eine Konvention?

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Appetithappen

Für alle, die schon neugierig waren, hier aus der Satzdatei des Verlags das ausführliche Inhaltsverzeichnis von Kaum zu fassen. Wie gesagt, Anfang September ist es dann da. Aber vielleicht reicht es schon mal für einen ersten Eindruck 🙂

Inhalt

Eben sehe ich: die Überschrift von Kapitel 11 („Bewegte Bilder“) ist leider nicht hervorgehoben, das wird natürlich noch ausgebessert. Dafür hier noch Umschlaggrafik und Klappentext:

Umschlag.jpg

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So dumm und Gomorrha

Die ganz Bibeltreuen müssten es ja eigentlich wissen, dass man auf Eva nicht hören sollte. Spätestens seitdem sie sich diese Woche mit – wie ausgerechnet die konservative Welt vermerkte – kalkulierter Bosheit zum Tod von 20 Menschen bei der Love Parade äußerte, sollte auch der letzte verstanden haben, wes Geistes Kind sie ist und warum man sich tunlichst nicht mit ihr einlassen sollte. Ihr Fazit lautet nämlich:

Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen. Was das angeht, kann man nur erleichtert aufatmen!

Den Toten und Verletzten eine Mitschuld dafür zu geben, dass sie niedergetreten und erdrückt wurden, die Frage nach den wahren Verantwortlichen gar nicht zu stellen, sondern am Ende über ein Gottesurteil á la Sodom und Gomorrha zu spekulieren, das das orgiastische Treiben jäh beendet, das kann nur als gnadenlose Verhöhnung der Opfer verstanden werden.

Zugleich reiht sich das Gottesbild, das Herman auf ihrem Blog propagiert, nahtlos ein in die Reihe unsäglicher Pharisäerpolemik, die schon AIDS mit kaum verhohlener Genugtuung als „Strafe Gottes“ hingestellt hatte. Kürzlich nahm sie dort Walter Mixa (dem auch Verhöhnung der Opfer vorgeworfen wurde), als verfolgtes Unschuldslamm gegen die blutrünstige Medienmeute in Schutz – auch das spricht Bände.

Apropos Bände: So richtig gruselig wird schließlich der Blick auf das Sortiment des Kopp-Verlags, in dem Hermans Bücher neben wirren UFO-Spekulationen, abstrusen „Prophezeiungen“ und so Knüllern wie „Sexualmagie“ erscheinen, deren einzig erkennbarer gemeinsamer Nenner es ist, mit der Einfalt der Leser Geld zu verdienen. Da trifft es sich natürlich gut, dass der Server nach Hermans Skandalpost fast zusammenbrach vor lauter Anfragen.

Dass idea sich für Herman nach wie vor begeistert, ist leider keine Überraschung. Allen anderen Stimmen der evangelikalen Welt stünde jedoch eine deutliche Distanzierung gut zu Gesicht. Also los, andere schaffen das doch auch!

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Darwins Vorurteile

Ausgerechnet die erste Pastorin der Vereinigten Staaten hat sich konstruktiv-kritisch mit Darwins Thesen auseinandergesetzt, wie Michael Blume auf Chronologs schreibt. Antoinette Brown Blackwell (1825-1921). Die engagierte Kämpferin für die Rechte von Sklaven und Frauen war vom Gedanken der Evolution angetan, aber entsetzt von Darwins (Blume gibt eine ausführliche Kostprobe) „wissenschaftlicher“ Begründung männlicher Dominanz und Überlegenheit.

In ihrer Kritik an der Einseitigkeit von Darwins Theorie, zum Beispiel der Rolle von Kampf und Wettbewerb, war sie ihrer Zeit weit voraus. Um so ärgerlicher, dass ihr wissenschaftlicher Beitrag bis heute weitgehend totgeschwiegen wurde. Ich finde, Michael Blumes Anstoß zur Wiederentdeckung einer großen Denkerin hat viele Leser verdient!

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Gemeinschaftsmythen (6): Kleingruppen

Das letzte Patentrezept, das Joseph Myers verwirft, sind Kleingruppen. Eine Gemeindestruktur, die auf Kleingruppen setzt, schafft deswegen nicht automatisch mehr Zugehörigkeit und Verbundenheit. Solche Vorgänge sind wesentlich komplexer.

Myers unterscheidet daher im Anschluss an Edward T. Hall vier Bereiche: Den öffentlichen, den sozialen, den persönlichen und den intimen. In jedem dieser vier Bereiche leben wir in Beziehungen: Distanzierte Beziehungen zu Fremden, deren Namen wir meist nicht kennen, im öffentlichen Bereich. Bekanntschaften im sozialen Bereich. Freundschaften im persönlichen Bereich. Und der intime Bereich von Beziehungen, in dem man alles von sich preisgibt, ist ganz wenigen Menschen vorbehalten. (wer es noch detaillierter möchte, kann bei Depone weiterlesen)

Ein gravierender, aber verbreiteter Fehler besteht nun darin, dass wir eines dieser Felder zur Norm erklären und meinen, alle guten Beziehungen müssten persönlich oder intim sein, nur dann sind sie „gut“. Nur werden auch in der besten Kleingruppe Bekannte nicht automatisch zu Freunden. Vielleicht fällt uns das gar nicht auf, weil viele die Gruppe verlassen, wenn sie an dieser Hürde scheitern, weil die Chemie einfach nicht stimmt.

Zugehörigkeit ist multidimensional. Was das im einzelnen bedeutet, werde ich in den nächsten Tagen/Wochen skizzieren.

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Der Spiegel am Boden

Heute habe ich eine Kurzgeschichte von Andrea Camilleri gelesen, in der Commissario Montalbano sich mit seiner Abneigung gegen psychologische Tiefbohrungen herumschlägt und nebenbei einer Frau das Leben rettet, ihr Glück allerdings ist, wie er dabei geistesgegenwärtig bemerkt, irreparabel zerstört. Am Ende bleibt diese bittere Einsicht:

Es stimmte, Livia hatte recht. Er hatte Angst, er fürchtete sich davor, sich in die »Abgründe der menschlichen Psyche« zu begeben, wie dieser blöde Matteo Castellini das nannte. Er fürchtete sich, weil er genau wusste, dass er am Grund einer solchen Schlucht unweigerlich einen Spiegel vorfände. In dem sich sein eigenes Gesicht spiegelte.

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Ein Tropfen auf den heißen Stein?

Als es in den letzten Wochen so heiß war, haben sich viele nach Abkühlung gesehnt. Hin und wieder streifte uns einer der seltenen Schauer, dann tröpfelte es etwas – und Schluss. Der Regen verdunstete in dem Moment, als er am Boden aufkam.DSC06162.JPG

Gestern beim Erlanger Umweltfest hatten sich viele Gruppen und Organisationen zusammengetan und viele Besucher informiertes sich, diskutierten über Dinge, die man tun könnte und sollt und, ja eigentlich müsste. Und doch fragt man sich nach so einer Aktion, was denn neben bekanntlich selten langlebigen guten Vorsätzen auf Dauer bleibt.

Wir haben hier ja den Luxus, ohne Gefahr für Leib und Leben solche Aktionen machen zu können. Verrückterweise lähmt uns kaum etwas mehr als die Sorge, alles, was wir tun, könne am Ende nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Die ganze Mühe vergebens? Mich tröstet da auch die bekannte Geschichte von den Seesternen nicht so richtig. Manchmal überwältigt einen die gewaltige Dimension der sozialen und ökologischen Probleme. Vielleicht brauchen wir nichts so sehr wie Hoffnung.

Was mich tröstet, ist ein Satz wie 1. Korinther 15,58: „…seid standhaft und unerschütterlich, nehmt immer eifriger am Werk des Herrn teil und denkt daran, dass im Herrn eure Mühe nicht vergeblich ist.“ Der sagt mir, dass wir die Welt nicht retten werden, sondern Gott, der sie geschaffen hat. Und zugleich, dass alles, was ich als einzelner und wir als Minderheiten dazu beitragen, am Ende zählt: Jede Kilowattstunde Strom, die ich spare, jeder Liter Wasser, der sauber bleibt, jedes Pfund fairer Kaffee, jedes Kleidungsstück, das unter menschenwürdigen Bedingungen hergestellt wurde, und jeder Flug, auf den ich verzichte.DSC06201.JPG

Und: jedes Gespräch, das ich führe, um anderen den Grund dieser Hoffnung zu erklären und sie sensibel zu machen für die Probleme, aber auch die Möglichkeiten, die wir Menschen haben. Zu denen zählt auch das Gebet, also haben wir gestern am Ende des Umweltfestes mit den Gästen gebetet. Christliche Hoffnung sagt, dass Gott diese Welt mit ihrer Schönheit und dem Reichtum an Arten und Ressourcen geschaffen und uns anvertraut hat. Aber auch, dass ihn jede Form von zerstörtem Leben nicht unberührt lässt. Das bezeugt das Leiden Christi. Und seine Auferstehung, auf die Paulus seine Ermunterung für die Korinther und uns bezieht, sagt, dass Leid und Zerstörung nicht das letzte Wort haben werden. Sondern der Schöpfer, der in seiner Treue und Liebe eines Tages dafür sorgen wird, dass alles gut und heil wird.

Und dass wir von da aus auf unser Leben zurückblicken können und sagen: „Kaum zu glauben, aber es hat sich wirklich und wahrhaftig alles gelohnt!“

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Missionalinkarnatorischorganisch…

… das gibt es, ohne den ganzen Jargon, offenbar alles auch in der katholischen Kirche, und zwar unter dem Stichwort „Kleine Christliche Gemeinschaften“. Hier ein paar Statements von der dazugehörigen Website:

In einer Kleinen Christlichen Gemeinschaft verwirklicht sich eine Kirche,

  • in der die wahre Gleichheit und gemeinsame Würde aller Gläubigen konkrete Gestalt gewinnen kann,
  • in der alle Teilnehmenden als Geistträger ernst genommen werden,
  • in der jede und jeder in der Gruppe Leiterin und Leiter sein kann,
  • in der persönliche und soziale Situationen des täglichen Lebens im Licht des Evangeliums gedeutet werden,
  • in der ein herrschaftsfreier Führungsstil angewendet wird.

Eine Kleine Christliche Gemeinschaft (KCG) hat vier Merkmale:

  • Eine konkrete KCG besteht aus Personen, die einen gemeinsamen Lebensraum haben.
  • Eine KCG nimmt die Bedürfnisse und Nöte der Menschen in ihrem Umfeld wahr und entdeckt darin den Anruf Jesu. sie weiß sich gesandt
  • Eine KCG lebt aus der Eucharistie der Pfarrgemeinde und ist so mit der gesamten Kirche verbunden.
  • Eine KCG wächst immer neu aus dem Wort Gottes, das sich ihr besonders im Bibel-Teilen erschließt.

Wenn eine Kleine Christliche Gemeinschaft so lebt, wird das Wort aus dem Johannesevangelium erfahrbar:
„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Joh. 1,14

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ÜberbeWERTEt?

Immer wieder hört und liest man, dass man Werte verändern müsse, damit sich im persönlichen und gesellschaftlichen Leben etwas verändert. Ganze Kongresse drehen sich darum, mit Werten in Führung zu gehen. Und das ist ja auch nicht ganz falsch.

Aber vielleicht auch nicht ganz richtig…?

Ein Gespräch über die komplexen Tücken von Entwicklungshilfe hat mich diese Woche ins Zweifeln gebracht, wie erfolgsversprechend der Werte-Ansatz ist. In vielen primitiven Kulturen sind es nicht die Werte, sondern feste Praktiken und Traditionen, die Menschen Halt geben, auch wenn sie deren Sinn nicht immer verstehen oder die mittel- und langfristigen Wirkungen gar nicht abschätzen können. Werte sind also schon eher europäisch-abstrakt gedacht. Aber bestimmte Praktiken und Gewohnheiten haben das Leben mancher Stämme und Völker so geregelt, dass sie langfristig und nachhaltig lebten. Manches davon funktioniert heute nicht mehr, und nun müssen extrem mühsam alte Gewohnheiten verlernt und neue Praktiken eingeübt werden.

Und bei uns ist es im Grunde gar nicht so viel anders. Wir haben alle möglichen Werte und können die auch aufsagen, aber nicht immer bewegt uns das automatisch in die richtige Richtung. Der Grund ist gar nicht der, dass hier Heuchler in bloßen Lippenbekenntnissen einem bestimmten Wert pro forma huldigen, in Wahrheit aber andere Dinge im Schilde führen. Sondern schlicht der, dass ein Wert ohne korrespondierende Praxis und Gewohnheit bedeutungslos ist.

Ein banales Beispiel: Für viele ist Fitness oder ein passables Aussehen (wir reden nicht von Hungermodels) durchaus ein Wert. Dennoch leiden auch viele unter Übergewicht. Der Grund ist neben einer gewissen Veranlagung nicht bei den Werten, sondern den Gewohnheiten zu suchen. Wir essen zu viel, zu unregelmäßig, zu schlecht, zu oft in Eile oder vor dem Fernseher. Früher hat sich einiges davon von selbst geregelt: Es gab kaum Süßigkeiten und Fertigzeugs, Fleisch bestenfalls sonntags, man aß mit der Großfamilie zu festen Zeiten um einen gemeinsamen Tisch herum. Es gab keine Autos und weniger Bürojobs. Ulkigerweise war schlank Sein damals gar kein wichtiger Wert.

Heute haben sich die Bedingungen geändert, unter denen wir leben und arbeiten, aber wir haben keine neuen Gewohnheiten entwickelt, die jeder von klein auf lernt (an dieser Stelle kann man nun fragen, ob wir da nicht unter unerwünschten Nebenwirkungen eines anderen Wertes leiden, nämlich der uneingeschränkten Autonomie des Individuums). Vielleicht brauchen wir also mehr gesunde Gewohnheiten. Vielleicht muss man sich in sogar erst in bestimmte Praktiken einüben, um bestimmte Werte schätzen zu lernen. Klar kann ein plumpes „das macht man so“ auch als Einschränkung empfunden werden, das ist es wohl auch ab und zu, aber es waren eben nicht alle Bräuche bloß eine Form von Freiheitsberaubung. Vielleicht brauchen wir auch neue, denn allein aus den richtigen Werten ergibt sich offenbar nicht von selbst die richtige Praxis.

Liebe, Treue und Familie sind für die Mehrheit der Menschen immer noch die höchsten Werte, wenn man Umfragen glauben darf. Dennoch scheitern viele Ehen und viele Familien zerbrechen. Vielleicht scheitern sie gar nicht an irgendwelchen konkurrierenden Werten, sondern an dem, was uns die alltägliche Praxis in unserer Gesellschaft als „normal“ verkauft, angefangen bei einem ungesunden Lebensrhythmus und den allgegenwärtigen Konsumzwängen, die naiv als „Lebensstandard“ bezeichnet (und mit Lebensqualität verwechselt) werden? Vielleicht scheitern viele Menschen sogar genau daran, dass diese intimen Beziehungen ein solch hoher Wert sind und es nichts anderes gibt, was noch irgendeine Form von Sinn und Erfüllung verspricht – so wie (davon hatten wir es ja die letzten Tage auf diesem Blog) mache christliche Gemeinschaften daran scheitern, dass die Erwartungen zu hoch sind. Also nicht fehlende Werte, sondern ein Mangel an gelebten und erprobten Alternativen?

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Britische Verhältnisse

Anlässlich der gegenwärtigen Entschuldigungsorgien der Deutschen Bahn fiel mir ein altes Gedicht von Steve Turner ein: British Rail regrets. Ich habe es hier gefunden vielleicht inspiriert es ja ein paar Hobbydichter. Es ist alt, aber hierzulande wäre es mit „German Rail“ erstaunlich aktuell:

British Rail Regrets by Steve Turner

British Rail regrets
having to regret.
British Rail regrets
it cannot spell.
British Rail regrets
the chalk ran out.
British Rail regrets
that due to a staff shortage
there will be no-one
to offer regrets.
British Rail regrets, but will not be sending
flowers or tributes.
British Rail regrets
the early arrival
of your train.
This was due to industrious action.
British Rail regrets
that because of a work-to-rule
by our tape machine
this is a real person.
British Rail regrets
the cheese shortage
in your sandwich.
This is due to
a points failure.
The steward got
three out of ten.
British Rail regrets.
Tears flow from beneath
the locked doors of staff rooms.
Red-eyed ticket collectors
offer comfort
to stranded passengers.
Angry drivers threaten
to come out in sympathy
with the public.
British Rail regrets.
That’s why its members
are permanently dressed in black.
That’s why porters stand around
as if in a state of shock.
That’s why Passenger Information
is off the hook.

British Rail regrets
that due to the shortage of regrets
there will be a train.

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Alles außer Hochdeutsch?

Nein, die Einladung kam nicht aus dem Südwesten. Sie sprach aber davon, dass es an der Zeit sei, „einen Unterschied zu machen“.

Das finde ich auch und plädiere hiermit dafür, umgehend einen Unterschied zwischen (wie der Franke sagt) gescheitem Deutsch und nutzlosen Anglizismen zu machen (diesen speziellen hat erst kürzlich Gerhard Delling seinem Freund Günter Netzer abgewöhnt!).

Also: Wir wollen ja alle etwas bewegen oder verändern. Aber doch hoffentlich zum Besseren.

Tatsächlich aus dem Südwesten stammte jüngst die Wortschöpfung „Bejüngern“. Ich habe mich gefragt, was wohl Passanten auf der Straße sagen würde, wenn man ihnen anböte, sie zu bejüngern? Vielleicht würden die Benutzer von Faltencremes kurzzeitig die Ohren spitzen. Der Rest würde – amüsiert, irritiert oder alarmiert – den Kopf schütteln.

Völlig zu Recht.

Manchmal beschleicht mich angesichts solch ungenießbarer Phrasen der Verdacht, dass die verbreitete Klage, Christen würden „die Sprache der Menschen nicht mehr sprechen“, nicht nur in einem übertragenen Sinn zutrifft.

An Pfingsten wirkte Gott ein Sprachwunder. Verstehen und verstanden werden ist in dieser Welt keine Selbstverständlichkeit, sondern eine kostbare Sache. Mir fällt es schwer, die erwähnten Formulierungen als kreative Sprachschöpfung zu betrachten, die verschönert und bereichert. Statt also in schlampigen Jargon zu verfallen, weil Gott es ja schon irgendwie richtet – wäre ein sorgfältiger Umgang mit Sprache nicht die bessere Möglichkeit, Gott eine Freude und dem Nächsten das Verstehen leicht zu machen?

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Gemeinschaftsmythen (5) – Entfernungen

Myers‘ Mythos Nummer 5 betrifft die räumliche Nähe. Wenn wir nur alle nahe genug beisammen wohnen würden (am besten in einer großen Kommune…?), wäre alles besser. Und natürlich erleichtert räumliche Nähe vieles und wir sollten uns von Begriffen wie „Nachbarschaft“ nicht vorschnell verabschieden.

Andererseits machen wir in unserer unmittelbaren Umgebung eben auch die Erfahrung von großer Fremdheit und Distanz. Konflikte, die auf engem Raum ausgetragen werden müssen, können sehr anstrengend sein.

Und was Gemeinde angeht, so wundere ich mich immer wieder, wie manche relative weite Wege ganz treu und regelmäßig zurücklegen, während für andere nur ein paar hundert Meter Weg unüberwindlich scheinen, weil sie über den Tellerrand ihrer individuellen Existenz kaum noch hinausschauen.

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Beziehungstechniker

Weil wir gerade beim Thema sind: Wolf Lotter lässt sich in einem aktuellen Beitrag für Brandeins über Netzwerke, Kooperation aus und himmt hier konkret den Begriff „Beziehungsarbeit“ aufs Korn:

Mit diesem Wort belegten 68er-Sozialpsychologen jenen Eiertanz, bei dem man so lange über menschliche Verhältnisse redet, bis man sich nichts mehr zu sagen hat. Sozialingenieure doktern an ihren Verhältnissen so lange herum, bis sie zum Totalschaden werden. Das liegt an der leicht irren Idee, man könne menschliche Beziehungen allgemein und verbindlich planen, steuern, konstruieren und nach Bedarf zusammenschrauben – so lange, bis sie dem eigenen, meist völlig verkorksten Weltbild entsprechen. Das hat wenig mit Beziehungsfähigkeit zu tun, aber jede Menge mit Manipulation.

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