Die lange Nacht und der helle Morgenstern

In meiner Straße leuchten zur Zeit Sterne überall aus den Fenstern, wenn es dunkel wird. Sterne gehören zu Weihnachten, ebenso wie die Nacht, in der die Engel bei den Hirten erscheinen und der Stern die Weisen lotst.

Die „heilige Nacht“ erinnert an Nächte, die nicht enden sollten – verliebt, im Glücksrausch, im Flow. Sie erinnert auch an Nächte, die nicht enden wollen. Mit einem kranken Kind, mit Schmerzen, mit Sorgen, die mir keine Ruhe lassen, mit schlechten Träumen.

Viele von uns haben das Gefühl, dass sich unsere Welt verdunkelt hat in den letzten Jahren. Pandemie, Kriege und viele ungelöste Probleme, die wir vor uns herschieben. Und dann noch unsere privaten und persönlichen dunklen Stunden und Wegstrecken. Wird es noch einmal besser? Wann hört das auf?

Wer in diesen Tagen vor Sonnenaufgang an den Himmel schaut, kann den Morgenstern sehen. Heller als alle anderen. Wenn er erscheint, dann ist es die längste Zeit dunkel gewesen. Nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher. Auch wenn es in diesem Moment noch stockdunkel ist.

Das liegt an der besonderen Beziehung zwischen Erde, Sonne und dem Morgenstern – unserem Nachbarplaneten, der Venus. Sie ist immer in der Nähe der Sonne zu sehen. Und ihr helles Licht ist das Licht der demnächst aufgehenden Sonne.

In der Bibel wird Jesus ab und zu als „Morgenstern“ bezeichnet. Das ist wunderbar poetisch. Aber wie kommen die Menschen in der Bibel dazu, Jesus als Morgenstern zu bezeichnen, als den Vorboten des neuen Tages für die Welt und uns? Ist das mehr als bloß Zweckoptimismus?

Ja, und das liegt an seiner besonderen Beziehung, in der Jesus zu Gott und zu uns steht. Jesus ist in unser Universum gekommen und an unserer Seite, und er ist Gott so nahe, dass Gottes Licht und Liebe und Schöpferkraft aus ihm hervorstrahlen wie nirgendwo sonst. Die Nacht dauert zwar noch an, es ist noch ziemlich dunkel, aber das Ende ist schon besiegelt. Es wird nicht ewig so weitergehen. Das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis kriegt es nicht in den Griff.

An Weihnachten feiern wir den Beginn einer großen Verwandlung. Sie beginnt in Gott selbst. Er legt sich unwiderruflich fest auf diese Liebe zu seiner kaputten Welt. Mein Computer warnt mich manchmal: „Sie können den folgenden Arbeitsschritt nicht mehr rückgängig machen. Möchten sie fortfahren oder abbrechen?“ Wir feiern, dass Gott sich fürs „Fortfahren“ entschieden hat. Wohl wissend, dass dieser Weg zu neuem Leben für die Welt durch den Tod am Kreuz führt.

So sehr identifiziert er sich mit seinen Geschöpfen. Und wir können zwar die Welt und die Lebewesen auf der Erde zerstören, aber nicht Gott. Mitten in der Welt existiert jetzt eine Quelle von Leben und Güte und Kraft, die größer ist als die Welt selbst und alle Verwüstung, die in ihr herrscht. 

Weil Gott sich so festgelegt hat, deshalb besteht heute Hoffnung für uns: Welt ging verloren, Christ ist geboren. Paulus nennt ihn den „Erstgeborenen der neuen Schöpfung“. Dieser Anfang liegt zwar schon in der Vergangenheit, aber seine ganze Wirkung hat er noch gar nicht entfaltet.

So sicher wie der Morgenstern sich zeigt, so sicher kommt der Tag. So sicher, wie Jesus sich auf den Weg machte zu uns, so sicher bringt er uns zum Ziel. Also feiern wir heute schon mal ein Ende von Krieg, Hass, Unterdrückung, Einsamkeit, Krankheit, Verzweiflung und Tod. Das ist alles noch da, aber nicht mehr übermächtig. Übermächtig ist die Liebe. Und darüber dürfen wir uns ausgelassen freuen. 

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Solidarisches Seufzen: Von Walen, Wehen und dem Schmerz der Welt

Es gibt wenige Texte aus der Bibel, die mir mehr bedeuten und mich öfter beschäftigen als das achte Kapitel des Römerbriefes, und immer öfter der Mittelteil vom Seufzen der Kreatur. Das ist der Predigttext übermorgen, am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, und diesmal habe ich die Evangelische Morgenfeier im BR dazu vorbereitet. In dieser Blogfassung sind ein paar Dinge etwas ausführlicher möglich als in der Sendefassung

Jetzt, im November, wenn es früh dunkel wird und das letzte bunte Laub von den Bäumen fällt, schüttele ich die Traurigkeit nicht mehr so leicht ab wie sonst. Nicht nur persönlicher Kummer meldet sich, auch all der Kummer, den ich von anderen mitbekomme. Dann tut es gut, zu spüren: Ich bin nicht der einzige, der seufzt oder sich eine Träne abwischt. Und auch wenn ich für die Traurigkeit keine Worte finde, bin ich nicht allein – sondern umgeben von einer Welt voller mitfühlender Wesen.

Talequah ist ein weiblicher Orca-Wal. Ihre Schule (so heißt ein Familienverband bei Walen und Delfinen) lebt im nördlichen Pazifik, vor den Hafenmetropolen Seattle und Vancouver. Meeresbiologen, die die Walpopulation dort beobachten, sagen: Seit Jahren hat dort kein Jungtier mehr überlebt. Das Meerwasser ist zu verschmutzt und der Fischbestand zu stark geschrumpft. 

Dann aber, am 24. Juli 2018, bringt Talequah eine Tochter zu Welt. Es gibt wieder Hoffnung für die kinderlose Schwertwal-Sippe.

Die Freude ist jedoch nur von kurzer Dauer. Das Kalb stirbt nach wenigen Stunden. In den folgenden 17 Tagen und über eine Strecke von über 1.500 Kilometern trägt die Mutter ihr totes Baby auf ihrem Körper. Wenn es abrutscht, taucht sie ihm nach und bringt es zurück an die Oberfläche. Als hofft sie immer noch, das Kalb werde irgendwann wieder anfangen zu atmen. Es dauert bis sie schließlich so weit ist, dass sie das Kleine loslassen kann. Die Forscherinnen beobachten sie mit einer Mischung aus Ergriffenheit und Erstaunen. Wir Menschen sind nicht die einzigen Wesen, die trauern – und nicht die einzigen, die lieben. Denn Trauer gibt es nur da, wo auch Liebe ist. 

Wie in der Liebe versagen auch in der Trauer manchmal die Worte, und es bleibt nur ein Seufzen. Wenn der Apostel Paulus, der ja viel auf dem Meer unterwegs war, die Geschichte von Talequah gehört hätte, hätte er sich vielleicht an seine Worte aus dem Brief an die Römer erinnert:

Wir wissen ja: Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz wie in Geburtswehen – bis heute. Und nicht nur sie: Uns geht es genauso! Wir haben zwar schon als Vorschuss den Geist Gottes empfangen. Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Innern.

Unheilbarer Weltschmerz

Es scheint, als hätte Paulus Ohren für die Klage und das Leid unserer Mitgeschöpfe gehabt. Und darin eine Verbindung zu seinem eigenen Schmerz entdeckt. Hören und Sehen ist ja immer „Hören und Sehen als“: Die einen hören den Ruf einer Möwe als störenden Lärm, für andere ist es der Klang der Sehnsucht nach dem weiten Meer und fernen Ländern. Die einen sehen eine Sternschnuppe als hellen Streifen am Himmel, für die anderen ist es ein zauberhafter Augenblick voller Verheißung.  

Es hängt alles davon ab, wie ich hinsehe und hinhöre, und was die Bilder und Töne in mir zum Klingen bringen. Die Schriftstellerin P.D. James beschreibt das, indem sie ihren Protagonisten Adam Dalgliesh an die Küste Cornwalls schickt. Wo manch anderer nur die Brandung hören würde, begegnet der feinsinnige Detektiv dem Seufzen der Kreatur:

„Er lauschte, und zwar nicht so, dass er auf das rhythmische Schlagen der Wellen gegen den unnachgiebigen Granit achtete. Er ließ den unaufhörlichen Klang in die tiefen Schichten seines Bewusstseins, wo er zu einer ewigen Klage über den unheilbaren Schmerz der Welt wurde.“

Ich lebe nicht am Meer, aber manchmal spüre ich etwas ähnliches. Ich gehe gern in den Wald, und ganz besonders, wenn ich traurig bin oder angespannt und gestresst. Umgeben vom Grün der Bäume, Gräser und Moose, geborgen unter dem schattigen Kronendach und abseits vom Lärm der Zivilisation kann ich in der frischen Waldluft unbedrängt durchatmen. Die Aufregung legt sich und der Kopf wird wieder etwas freier. Leider hat das in den letzten fünf Jahren nicht mehr gut funktioniert. Immer öfter kam ich traurig und niedergeschlagen zurück. Die meisten Bäume sind vor Hitze und Dürre krank geworden, viele sind abgestorben. Im Frankenwald waren es dieses Frühjahr ein Viertel aller Bäume. Unwetter haben andernorts fußballfeldgroße Löcher in den Wald gerissen. Die Forstwege sind zerfurcht von den Maschinen, die Berge von Totholz abtransportieren müssen.

Das ist nicht mehr der Wald, den ich kenne. Es tut mir fast körperlich weh, die tiefen Wunden in der Natur zu betrachten. Wenn ich meine Sehnsuchtsorte nicht mehr wiedererkenne, dann ist das eine Art psychischer Kahlschlag. Dafür gibt es seit einigen Jahren den Begriff „Solastalgie“. Das heißt so viel wie: Leiden an der Trostlosigkeit. Als wäre der Freund, der mir immer geduldig zugehört und mich getröstet hatte, nun selber sterbenskrank und verzweifelt.  Immer wieder einmal hat der Wald mit mir geseufzt. Jetzt seufze ich mit dem Wald, und das geht in Ordnung.

Wenn nur das Seufzen bleibt

„Uns geht es genauso!“, schreibt Paulus. Damals wie heute versuchen Menschen, ihre tiefe Erfahrung von Schmerz und Verbundenheit auszudrücken. Manchmal reicht es nur für ein tiefes Seufzen. 

Andere singen von ihrer Trauer, zum Beispiel die Musikerin LeAnn Rimes in „Throw my arms around the world“: „Ich lege meinen Bauch auf den Boden, drücke mein Ohr auf die Erde, ich kann hören, wie sie innerlich weint, dass sie einfach nie, nie gehört wird. […] Ich möchte die Welt in meine Arme schließen, vielleicht kann ich sie ins Leben zurück lieben.“

Ich denke noch einmal zurück an die Walmutter. Talequahs Schmerz ist vermutlich nicht nur die Trauer über das verlorene Kalb, sondern auch darüber, dass ihre Sippe dort, wo sie lebt, keine Zukunft mehr hat. So etwas spüren Wale tatsächlich! Anders als noch zu Paulus’ Zeiten sind wir Menschen es, die uns und anderen Lebewesen solchen Schaden zufügen, indem wir das Wasser und die Luft verschmutzen und vergiften. Im Lärm unserer Schiffe und Flugzeuge, unserer Kraftwerke und Fabriken, unserer Dauerberieselung mit Musik und Nachrichten, geht das leise Seufzen der Kreatur so leicht unter. Parallel dazu haben immer mehr Menschen Mühe, sich selbst noch zu spüren. Kein Wunder, würde Paulus sagen, es hängt ja beides zusammen. Weil wir taub geworden sind für andere Geschöpfe, nehmen wir auch die leisen Signale der eigenen Seele nicht mehr wahr. Die äußere und die innere Verwüstung gehen Hand in Hand.

Womöglich hätten wir alle etwas weniger Grund zum Seufzen und Stöhnen, wenn wir fremdem Leid gegenüber kein so dickes Fell hätten. Aber wenn unsere Gesellschaft die leisen Töne so meisterlich verdrängt, müsste die Schöpfung da nicht lauter und nachdrücklicher auftreten? Bernhard Pötter schreibt in einem Kommentar für die taz:

»Wenn sie krachen, stinken und raufen würden, wenn sie auf der Straße Autoreifen anzünden und ihre Wut rausschreien würden, wenn sich die Moore mit der Polizei prügeln würden und das Wasser im Wasserwerfer streiken würde. Wenn wir mit Wäldern, Seegraswiesen und Mittelgebirgen Tarifverhandlungen führen müssten und uns über ihre unverschämten Forderungen ärgern könnten – es wäre eine bessere Welt. Wenn die Natur endlich mal das Maul aufreißen würde – vielleicht würden wir dann endlich das Gras wachsen hören.«

Aber vielleicht geschieht das ja gerade? Seit einiger Zeit rempeln Schwertwale in der Straße von Gibraltar immer wieder Segelyachten an. Vorsätzlich, wie es scheint. Manche Boote waren danach manövrierunfähig. In den sozialen Medien wurde das als „Orca-Aufstand“ regelrecht gefeiert. Ist es nur ein ruppiges Spiel, oder haben die Tiere womöglich verstanden, wer für den Lärm und Schmutz in ihrem Zuhause verantwortlich ist, und reagieren nun entsprechend? Und selbst wenn wir Menschen nur unser eigenes schlechtes Gewissen in das Verhalten der Wale hineinlesen – steht dahinter vielleicht die Einsicht, dass wir den Anstoß und die Unterstützung unserer Mitgeschöpfe brauchen, um das Schlimmste für uns selbst und andere zu verhindern?

Mein neues Wir-Gefühl

In letzter Zeit habe ich öfter mit den Tieren im Garten gesprochen. Den Eichhörnchen, die sich bis auf zwei Meter herangewagt haben. Den Meisen, Amseln und Rotkehlchen. Den gewitzten Krähen, die Nüsse knacken, indem sie sie aus einigen Metern Höhe auf den Asphalt meiner Straße fallen lassen. Ich weiß schon, dass sie den Inhalt meiner Worte nicht verstehen. Aber vielleicht verstehen sie ja, dass ich mit ihnen rede: Dass sie für mich ein Gegenüber sind, auch wenn sie keine Haustiere sind, bei denen wir das alle tun.

Kürzlich kam ich an einem Baum vorbei, dem jemand ein Schild umgehängt hatte. Darauf steht: „Ich mach Dir Luft.“ Ich fand es schön, dass hier „Ich“ und „Dir“ stand und nicht: „Bäume produzieren Sauerstoff“ oder etwas ähnlich Objektivierend-Belehrendes. Ein Gespräch habe ich mit dem Baum zwar nicht angefangen, aber ich habe ihn als Verbündeten empfunden. Solche Begegnungen persönlich zu nehmen und mich von der fürsorglichen Nähe meiner Mitgeschöpfe berühren zu lassen, weckt in mir ein neues Wir-Gefühl. Und dann fühle ich mich schon ein bisschen weniger einsam und verloren.

Ein solch geschwisterliches Verhältnis zu den Mitgeschöpfen kennen wir auch von Franziskus von Assisi. Der hob Raupen und Würmer vom Weg auf, damit sie nicht zertreten werden. Er ließ hungrige Bienen im Winter mit Süßwein füttern und wies den Klostergärtner an, um die Beete herum genug Platz zu lassen für Wildkräuter, weil die auf ihre Art von der Schönheit des Vaters aller Dinge erzählen.

Wie verletzlich wir doch sind

Paulus musste sich vor 2.000 Jahren noch keine Gedanken machen über Umweltkatastrophen, Kipppunkte und Artensterben. Für ihn bezieht sich das Seufzen der Schöpfung auf die Vergänglichkeit. Vergänglichkeit, das heißt: Als Mensch bin ich – wie alle Geschöpfe – nicht einfach nur endlich und sterblich, sondern auch schon mitten im Leben ungeheuer verletzlich an Leib und Seele. Ich ahne, dass mich Krankheiten, Unfälle, veränderte Lebensumstände jederzeit aus der Bahn werfen können. Und so wirft es einen Schatten auf mein Leben jetzt und alle unverdient glücklichen Momente darin, wenn ich lese und höre, was anderen denkenden und fühlenden Wesen Furchtbares zustößt.  

Das Leid da draußen, nah oder fern, erzeugt ein Echo tief in meinem Inneren. Dabei schwingt nicht nur die Erinnerung an das Schwere mit, das ich schon erlebt habe, sondern auch eine Ahnung davon, was alles noch geschehen könnte. Was noch möglich ist, weil es gerade tausendfach anderen passiert, die ja auch nichts dafür können. Und deswegen ist dieses fremde Leid gar nicht nur fremd, sondern irgendwie auch mein eigenes; selbst wenn es bisher nicht eingetreten ist und das vielleicht auch niemals wird. 

Dieses Bewusstsein meiner Verletzlichkeit, meiner Vergänglichkeit kann mich ganz schön verunsichern. Darf, ja soll ich mich dem stellen, oder macht – wie beim sprichwörtlichen Kaninchen vor der Schlange – das Hinschauen alles noch schlimmer? Was rettet mich vor der drohenden Resignation und Verzweiflung? Was hilft? Oder gibt es gar keinen Ausweg? Bleibt es beim ewigen Seufzen?

Für Paulus scheint schon in der angespannten Sehnsucht danach, dass Vergänglichkeit und Tod überwunden werden, ein Funke Hoffnung zu stecken:

Die ganze Schöpfung wartet doch sehnsüchtig darauf, dass Gott die Herrlichkeit seiner Kinder offenbart. Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen – allerdings nicht durch eigene Schuld. Vielmehr hat Gott es so bestimmt. Damit ist aber eine Hoffnung verbunden: Denn auch die Schöpfung wird befreit werden aus der Sklaverei der Vergänglichkeit. Sie wird ebenfalls zu der Freiheit kommen, die Gottes Kinder in der Herrlichkeit erwartet.

Seufzen und Hoffen, Schmerzen und neues Leben gehören offenbar eng zueinander. Das ist vielleicht der Grund, warum Paulus zu Anfang des Textes, den wir heute gehört haben, von Geburtswehen spricht: Auf den ersten Blick ein etwas gewöhnungsbedürftiger Vergleich, aber es stimmt schon:

Die Wehen sind voller Schmerz und gleichzeitig voller Hoffnung, dass der Schmerz überwunden und das neue Leben in all seiner kleinen, schrumpeligen Baby-Herrlichkeit sichtbar wird!

Diese Geburtswehen von Gottes neuer Welt betreffen Frauen und Männer. Sie aus der Perspektive der werdenden Mutter zu sehen hilft mir, unter Schmerz durchzuhalten. Das rettet mich vor Verzweiflung und hält den Fluchtreflex im Zaum. 

Der Vergleich mit der Geburt hilft zum einen, weil er den Blick über den momentanen, akuten Schmerz hinaus richtet. Aber er erinnert mich auch an das, was wir selbst erlebt haben und was mir andere Eltern oft erzählt haben: Wenn die Schmerzen irgendwann kaum noch auszuhalten sind, hilft nur noch eines: Dass der Mutter jemand die Hand hält und sie spüren lässt: Ich bin da und weiche nicht von deiner Seite, bis alles durchgestanden ist.

Gekommen, um zu bleiben

Wenn Paulus von den Geburtswehen spricht, dann ist da auch jemand, der sagt: „Ich bin da und weiche nicht vin deiner Seite“ – Gott!

Auf dieses „ich bin da“ Gottes gründet sich für Paulus die Hoffnung der Menschen. In Jesus von Nazareth ist Gott Teil seiner seufzenden Welt geworden. Er ist gekommen, um zu bleiben, bis alles gut ist. Und im Heiligen Geist bleibt er bei jeder und jedem einzelnen. So, wie Jesus bis hin zum Tod am Kreuz das Leid und die Dunkelheit der Menschen geteilt hat, so tut er es jetzt durch den Geist. Und diese bleibende Anwesenheit Gottes im Schmerz enthält das Versprechen, dass Schmerz und Leid ein Ende finden. Er schließt die Welt in seine Arme und liebt sie zurück ins Leben. Paulus sagt es fast ein bisschen trotzig:

Ich bin überzeugt: Das Leid, das wir gegenwärtig erleben, steht in keinem Verhältnis zu der Herrlichkeit, die uns erwartet. Gott wird sie an uns offenbar machen.

Und allen, die sich lieber heraushalten und nicht in Mitleidenschaft ziehen lassen wollen, die das zähe Warten und die Härten einer aus den Fugen geratenen Welt lieber auslassen oder überspringen würden, hält er entgegen:

Denn wir sind zwar gerettet, aber noch ist alles erst Hoffnung. Und eine Hoffnung, die wir schon erfüllt sehen, ist keine Hoffnung mehr. Wer hofft schließlich auf das, was er schon vor sich sieht? Wir aber hoffen auf etwas, das wir noch nicht sehen. Darum müssen wir geduldig warten.

Diesen Gedankengang des Paulus hat wohl auch P.D. James verstanden. Ihre Romanfigur Adam Dalgliesh ist nicht nur Polizist, sondern auch Poet. Er hört nicht nur das Seufzen der Kreatur im Meeresrauschen, er sieht auch den Schmerz im Licht der Liebe:

„Die Welt ist ein wunderbarer und schrecklicher Ort. Gräueltaten werden jede Minute verübt, und am Ende sterben jene, die wir lieben. Wenn die Schreie aller Lebewesen auf der Erde ein einziger Schmerzensschrei wären, würde das gewiss die Sterne erschüttern. Aber wir haben die Liebe. Sie mag nur ein zerbrechlicher Schutz gegen die Schrecken der Welt sein, aber wir müssen sie festhalten und an sie glauben, denn sie ist alles, was wir haben.“

Warten, ausharren, und ab und zu ein Seufzen: Wenn ich die Liebe nicht verlieren will, muss ich den Schmerz zulassen. Auch den Schmerz der anderen. Aber ich kann das auch, ohne daran zu zerbrechen. Denn Liebe und Schmerz verbinden mich mit all den anderen Geschöpfen – und mit dem Schöpfer selbst. Der hört nicht nur mein Seufzen, er seufzt mit mir, weil es auch ihm nahegeht. Ganz anders als manche Zeitgenossen nimmt er nämlich eigenen Schmerz nicht zum Anlass, anderen bedenkenlos Schmerz zuzufügen. Im Gegenteil: Er trägt meinen Schmerz mit, aus freien Stücken – ein solidarisches Seufzen.

Eines unserer Kinder kam, als es noch klein war, öfters nachts zu uns ins Schlafzimmer. Ein schlechter Traum, ein lautes Geräusch oder irgendwas anderes hatten es aus dem Schlaf gerissen. Ich erkannte schon am Klang der Schritte, wer da neben meinem Bett stand. Manchmal hielt ich dann still und hoffte, meine Frau würde wach. Und manchmal war es umgekehrt.

Da stand nun der Zwerg und brauchte einen von uns. Gleichzeitig wollte er uns aber nicht aufwecken und womöglich schlechte Laune riskieren. Er löste das Dilemma, indem er ganz tief schnaufte. Und wenn das Schnaufen noch nicht reichte, hängte er nach ein paar Versuchen einen kleinen Seufzer dran. Damit hatte er dann eigentlich immer Erfolg, und zugleich waren wir Eltern immer ein bisschen gerührt, wie schonend wir geweckt wurden.

So ähnlich stelle ich mir Gottes mütterlich-väterliche Liebe vor. Sie ist für den Augenblick alles, was wir haben. Und sie ist gekommen, um zu bleiben. Unter allen Umständen. Während wir schnaufen und seufzen. Bis schließlich und endlich alles gut ist in der Welt. Für alle Geschöpfe Gottes: Wale, Wald, uns Menschen – und die Amsel, die mitten in der Nacht übt, mit ihren lädierten Flügeln wieder loszufliegen. 

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Wiedergeburt und die Krisen unserer Zeit

Das Evangelium für den Trinitatissonntag morgen ist das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus in Johannes 3, in dem Jesus von der (für sein Gegenüber befremdlichen) Notwendigkeit spricht, von neuem (genauer: „von oben“) geboren zu werden. Und dann noch den kryptischen Satz über den Geist/Wind anhängt, der Menschen treibt.

Nikodemus (…) suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.
Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden.
Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. 

Joh 3,1-8

Aus den vielen Dingen, die es dazu zu sagen gibt, greife ich hier nur ein paar Punkte heraus. Ich fange mal mit dem Begriff „Wiedergeburt“ an. Wenn zur „natürlichen“ Geburt da in irgendeiner Form eine Analogie besteht, dann am ehesten darin, dass Geburt für die, die geboren werden, weder eine Errungenschaft noch eine Erfahrung ist. Sondern ein Widerfahrnis, aufgrund dessen ich mich in einem Geflecht von Beziehungen wiederfinde. Und deren werde ich mir zunehmend bewusst.

So wie ein Neugeborenes in eine Familie – klein, groß, eher heil oder eher traumatisiert, reich oder arm – hineingeboren wird, so finden sich Menschen auch in einer Beziehung zu Gott wieder. Noch genauer (wir feiern ja die Dreieinigkeit): Sie nehmen, ohne es darauf angelegt zu haben, teil an der Beziehung, die Gott in sich schon ist. Und dem Beziehungsgeflecht, das um ihn herum entsteht (dem „Reich Gottes“). Diese Verbindung mit Gott wird für sie zur prägenden, identitätsstiftenden Beziehung.

Ich bin also nicht mehr durch meine soziale und biologische Herkunft definiert und festgelegt, sondern dieses neue Verhältnis bestimmt, wer und wie ich bin und wohin mein Weg führt. Nicht die Vergangenheit mit ihren Altlasten und Erfolgen legt meine Zukunft fest, sondern Gottes fürsorgliche Gegenwart in meinem Leben. Nicht das „Fleisch“ in seiner Vergänglichkeit, Anfälligkeit und den nachlassenden Kräften (und der Verzweiflung, Aggression und Niedergeschlagenheit über diesen Verfall in der Welt, bei mir selbst und anderen) macht mich aus. Nicht die guten oder schlechten Gene, die meine Eltern mir mitgegeben haben. Sondern ein geheimnisvoller Antrieb, der immer wieder ganz unvermittelt gute Dinge geschehen lässt.

Diese Kraft kann ich ebensowenig dingfest machen wie den Wind oder die Wolken am Himmel. Aber wenn ich lerne, mich auf sie einzustellen, dann wird (wie beim Wind) einiges leichter.

So weit, so bekannt für viele. Aber hier kommt der neue Gedanke: Wenn Gott mich aus einer Lebensweise befreit, die von der Vergangenheit gespeist wird und in der sich die Vergangenheit reproduziert (History will teach us nothing, lautet ein Songtitel von Sting), und mir ein Leben in und aus seiner Gegenwart ermöglicht, dann hat diese Transformation eine ganz aktuelle Parallele: Die hart umkämpfte Klima- und Energiewende.

Denn auch da geht es darum sich von einer Lebensweise zu verabschieden, die Ablagerungen der Vergangenheit (fossile Brennstoffe, die in vielen Millionen Jahren entstanden, noch älteres und länger strahlendes Uran, aber auch Holz, das Jahrzehnte braucht zum Wachsen) verbrennt. Weil das die Zukunft aller Menschen verqualmt und beschädigt. Wir müssen also maßgeblich bis ausschließlich von dem leben, was uns im jeweiligen Augenblick an Energie in Wind und Sonne zur Verfügung steht. Auch hier also: Bezug zur Gegenwart vor Bezug zur Vergangenheit.

Kann die persönliche Energiewende der Wiedergeburt in Gottes verzweigte Sippe die kollektive Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise erleichtern? In den USA halten viele Christen, die sich selbst als „wiedergeboren“ bezeichnen, Ökologie und Klimaschutz für Teufelszeug. Aber ich denke, das ist eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Form des Glaubens. Eine Form von Kirche, die ebenso destruktiv ist wie die parasitäre Lebensweise, die sie mit dem Reich Gottes verwechselt. Die sich an die Vergangenheit klammert und sie festhält, statt sich dem Wind des Wandels auszusetzen.

In der kommenden Woche haben wir in Nürnberg den Kirchentag zu Gast. Mit dabei ist unter anderem auch Eckart von Hirschhausen. Der schrieb kürzlich in Chrismon davon, welche Rolle Christen in den Krisen dieser Zeit spielen könnten:

Während der Zeithorizont von Politikern oft nicht ausreicht, um auf den ersten Blick unpopuläre Entscheidungen voranzubringen, könnten es sich die Kirchen in der Gewissheit ihres Auftrags und ihrer Geschichte leisten, jetzt in Vorleistung zu gehen. Wenn sich so viele Menschen ohnmächtig fühlen, wo ist denn dann diese ominöse Macht? Was können Sie tun?

Als Wiedergeborene leben wir in den Geburtswehen der neuen Schöpfung. Auch diese noch ausstehende Geburt ist etwas, das nicht in unserer Hand liegt – zum Glück. Aber wir können jetzt schon, so gut es geht, leben, als wäre das Neue schon da.

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Auseinanderklappen

Bäume altern unterschiedlich, wie Menschen auch. Auf den Wiesen im nahen Pegnitzgrund stehen etliche alte Weiden. Manche von ihnen sind im Lauf der Zeit innen so morsch und hohl geworden, dass sie nach allen Richtungen auseinanderklappen. Die dicken Äste liegen nun flach am Boden und bilden einen großen Kreis. Manchmal hat der einen Durchmesser von zwanzig, dreißig Metern.

Aber der Baum lebt noch. Und so treiben die alten Äste weiter junge Zweige aus. Die wachsen wieder senkrecht in die Höhe, bilden allmählich ein neues Blätterdach. In den hohlen Stämmen nisten sich Tiere ein und auf den dicken, horizontalen Ästen setzen sich Leute hin, ruhen sich aus, schaukeln ein bisschen oder machen ein Picknick.

Und ich denke mir: Was für eine schöne Art, alt zu werden! Diese Weiden bleiben nicht stehen, bis sie irgendwann tot zusammenklappen. Statt immer weiter in die Höhe zu wollen, wenn es schon nicht mehr richtig geht, klappen sie auseinander. Und werden einladend für andere. Jedesmal, wenn ich vorbeikomme, berührt es mich wieder.

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An Gottes Käfig rütteln

In wenigen Tagen, an Christi Himmelfahrt, liegt Ostern vierzig Tage zurück. Vierzig Tage, das ist ein transformativer Zeitraum: In vierzig Tagen oder mehr kann es gelingen, alte Gewohnheiten abzulegen und neue einzuüben. Während der Fastenzeit – also der vierzig Tage vor Ostern – tun das viele, indem sie etwas weglassen und auf etwas verzichten. So werden sie offen für das Neue, das mit dem Auferstandenen in die Welt gekommen ist. Es ist ein bisschen so, wie wenn ich im Garten den Boden lockere und Platz schaffe für einen jungen Baum oder eine neue Blume. Doch wenn die dann gepflanzt ist, sind neue Gewohnheiten gefragt: Ich gieße sie, gebe etwas Dünger dazu, und wenn eine kalte Nacht droht, decke ich sie vorsorglich zu. 

Neues Leben, neue Gewohnheiten

Ich denke an einen Kollegen, der gerade zum zweiten Mal Vater wurde und jetzt ein paar Monate in Elternzeit verbringt. Die ganze Familie nimmt sich Zeit, um die Ankunft des Neugeborenen bewusst zu feiern. Und um in Ruhe zu lernen, wie das Leben zu viert jetzt funktioniert. Denn das Neue verändert alles: Die Rollen in der Familie, die Rhythmen des Alltags, das Haushalten mit den inneren Ressourcen.

Was für eine schöne Möglichkeit: Zeit zu haben, in der das neue Leben sich einwurzeln und einruckeln kann. Auf das geistliche Leben umgemünzt wäre dann die Frage: Wie kann die Anwesenheit Jesu meinen Alltag prägen? Wie wirkt sie sich aus auf meine Rollen in Beruf, Familie, Gesellschaft? Wie finde ich einen neuen Rhythmus, der dazu passt, und wie kann mir der in Fleisch und Blut übergehen? 

Brauche ich solche spirituellen Flitterwochen auch – nicht nur einmal im Leben, sondern regelmäßig? Die Sonntage zwischen Ostern und Pfingsten tragen wohl auch deshalb klangvolle Namen: Sie rufen mich auf zum Jubeln, Singen, Beten, Ostern ausgiebig nachklingen lassen.  Der kommende Sonntag heißt: Rogate, Betet. 

Nach seiner Auferweckung von den Toten ist Jesus über vierzig Tage hinweg seinen Jünger:innen immer wieder erschienen. Die haben das damals richtig ausgekostet. Wir wissen nicht viel darüber, was Jesus mit seinen Leuten in dieser entscheidenden Zeit geredet hat. Wahrscheinlich musste auch erst einmal alles sacken: Der Schock über die Verhaftung und Kreuzigung Jesu; die Enttäuschung darüber, dass sie ihn im Stich gelassen hatten; die anfängliche Verwirrung über das leere Grab und dann die wundersamen Begegnungen, die bei aller Freude immer auch die Frage aufwarfen: Wie soll es jetzt weiter gehen?

Dass es weitergeht, lag auf der Hand: Die Auferweckung ist das große Ausrufezeichen hinter dem Leben und Wirken Jesu. Die Bekräftigung, dass Gott Wort hält. Dass seine Zusage gilt und er die Welt nicht den Kräften überlässt, die sie zugrunde richten. Dass Hass, Tod und Zerstörung nicht das letzte Wort haben – nicht im Leben der einzelnen Menschen, nicht in der Weltgeschichte insgesamt.

Krisen kommen ganz bestimmt

Die zurückliegenden Tage, vor allem der Karfreitag, hatten noch etwas gezeigt: Der Weg zu diesem Ziel führt durch tiefe, dunkle Täler. Ich stelle mir vor, das ist wie bei einer Bergwanderung, wo der gegenüberliegende Gipfel mich schon in strahlendem Sonnenschein anlacht. Doch um ihn zu erreichen, muss ich einen steilen, beschwerlichen Abstieg und einen weiteren kräftezehrenden Aufstieg hinlegen. Und wer weiß, ob das schöne Wetter so lange hält oder ob zwischenzeitlich ein Gewitter aufzieht? Wie bereite ich mich darauf vor, dass mein Glaube herausgefordert wird? Oder anders gefragt: Was ist nötig, damit das zarte Pflänzchen der Jesus-Bewegung nicht erfriert, wenn kurz nach Ostern die Eisheiligen kommen?

Gegen Ende der Zeit, die Jesus bei seinen Jünger:innen verbringt, erwähnt er immer wieder das Beten. Bestimmt erinnert er sie an so manches, was er früher schon einmal gesagt hatte. Darunter die folgende Geschichte (Lukas 11,5-8 / Basisbibel): 

Stellt euch vor: Einer von euch hat einen Freund. Mitten in der Nacht geht er zu ihm und sagt: ›Mein Freund, leih mir doch drei Brote! Ein Freund hat auf seiner Reise bei mir haltgemacht. Ich habe nichts im Haus, was ich ihm anbieten kann.‹
Aber von drinnen kommt die Antwort: ›Lass mich in Ruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen, und meine Kinder liegen bei mir im Bett. Ich kann jetzt nicht aufstehen und dir etwas geben.‹
Das sage ich euch: Schließlich wird er doch aufstehen und ihm geben, was er braucht – wenn schon nicht aus Freundschaft, dann doch wegen seiner Unverschämtheit.

Unpassende Analogien

Ein Gespräch unter Freunden. Jesus weiß, dass viel davon abhängt, in welchen Zusammenhang er das Gebet einzeichnet. Er weiß: Je nachdem, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen ich ans Beten herangehe, mache ich mir es leichter oder schwerer. Wenn ich mir Gott vorstelle wie eine gute Fee, bei der ich drei Wünsche frei habe, dann ist die Enttäuschung programmiert. So wie in den vielen Witzen über gute Feen, in der beim dritten Wunsch meistens irgendetwas Dummes passiert, das der Bittsteller nicht bedacht hatte. Beim Beten sind nicht die unüberlegten Bitten hinderlich, sondern die Vorstellung, dass Gott vor allem dazu da ist, Wünsche aller Art zu erfüllen. Gott funktioniert wie ein Automat: Ich spreche etwas aus und – schwupps – ist der Wunsch erfüllt. „Lieber Gott, ich weiß, ich müsste nicht unbedingt mit dem Auto in die Innenstadt fahren. Aber vielleicht regnet es heute ja noch. Würdest Du mir bitte einen Parkplatz direkt vor dem Laden freihalten?“

Ich kann freilich auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen: Ich stelle mir Gott als erhabenen Regenten vor, der Gesuche seiner Untertanen entgegennimmt. Die Anträge durchlaufen dann alle möglichen bürokratischen Instanzen und werden am Ende, nach langer Wartezeit, ohne Begründung gewährt oder abgelehnt. Also kommt es darauf an, dass ich meine Bitten möglichst so formuliere, dass sie bei ihm Wohlwollen hervorrufen: Garniert mit Höflichkeitsfloskeln, Komplimenten und Bekundungen meiner Ergebenheit. Gern auch mit einer langen Liste von Unterstützer:innen.

Irgendwo in der Mitte zwischen beiden liegen jene (natürlich von Erwachsenen erdachten) „Kindergebetchen“, über die  sich Joachim Ringelnatz schon vor 100 Jahren lustig gemacht hat:

Lieber Gott, recht gute Nacht,
Ich hab noch schnell Pipi gemacht,
Damit ich von dir träume.
Ich stelle mir den Himmel vor
Wie hinterm Brandenburger Tor
Die Lindenbäume.
Nimm meine Worte freundlich hin,
Weil ich schon so erwachsen bin.

Freundschaft ist voller Zumutungen

Erwachsen sind auch die zwei Freunde, von denen Jesus spricht. Die Beziehung zwischen den beiden beginnt nicht in dem Moment, als spätabends Gäste hereinplatzen. Sie kennen einander. Oft haben sie zusammen am Abend nach der Arbeit im Schatten eines Olivenbaums gesessen und einander bei einem Becher Wein von ihren Freuden und Sorgen erzählt. Sie haben einander Werkzeuge ausgeliehen und bei Reparaturen von Haus und Hof mit angepackt. Sie sehen zu, wie ihre Kinder aufwachsen, und vielleicht fragt einer den anderen sogar, ob er sich um sie kümmern würde, falls ihm ein Unglück zustoßen sollte.

Wenn es einem von beiden nicht gut geht, wäre der andere enttäuscht, nichts davon zu erfahren. Natürlich ist es anstrengend, in die Probleme anderer verwickelt zu werden. Aber das ist halt der Unterschied zwischen Freunden und Bekannten: Für einen Freund ist es schlimmer, wenn ich meine Sorgen verschweige, mich allein damit herumschlage um ihn zu schonen, als wenn ich sie ihm zumute. Selbst dann, wenn er auch keinen Rat weiß und nur schweigt oder in meine Klage einstimmt. Oft ist das schon Hilfe genug: Wenn ich jemandem mein Herz ausschütten kann, bringt mich das einer Lösung näher.

Gegen Ende ihrer Lehrzeit redet Jesus seine Jünger ganz bewusst als Freunde an – nicht mehr als Schüler und Untergebene. Das Herz ausschütten, sich mitteilen, zuhören und zusammen schweigen, all das gehört zu einer guten Freundschaft. Um Hilfe bitten natürlich auch.

Ganz so ideal ist es freilich im richtigen Leben nicht. Manchmal zerbrechen Freundschaften daran, dass einer den anderen überfordert oder ausnutzt. Manchmal lassen Freunde einander hängen. So wie der Mann, dessen Kinder neben ihm schon schlafen, als der andere klopft, weil sein Brot nicht reicht. Jesus beschreibt ganz ungeschminkt, wie genervt er zunächst auf die Störung seiner Nachtruhe reagiert. Aber spätestens als er kapiert, dass seine Kinder vom unablässigen Klopfen genauso aufwachen wie vom Aufstehen und Öffnen der Türe, wimmelt er den anderen nicht länger ab, sondern gibt ihm die Brote. Und der zieht erleichtert davon, weil er nun seinerseits nicht mehr in der Verlegenheit ist, dem Überraschungsgast – noch ein Freund! – nichts zu essen anbieten zu können. In einer Kultur, die das Gastrecht groß schreibt, wäre das ein schrecklicher Makel. Da ist es leichter zu ertragen, dass der Freund nebenan wegen der aufgewachten Kinder eine Weile schmollt.

Gott auf die Nerven gehen?

Abraham und Mose, die großen Gestalten der hebräischen Bibel, gelten als Freunde Gottes. Sie lassen sich von Gott in seine Angelegenheiten und Pläne hineinziehen. Zugleich haben sie keinerlei Hemmungen, Gott mit den Anliegen der Menschen um sie herum in den Ohren zu liegen. Mit erstaunlichem Erfolg: Gott lässt sich von ihrer Hartnäckigkeit tatsächlich beeinflussen. Freilich geht es in den Gebeten von Abraham und Mose auch nicht um Eigennutz und persönliche Vorteile, sondern um Gerechtigkeit und die Rettung von Menschen aus Not und Gefahr. Das sieht auch Walter Wink so. Der Theologe und Bürgerrechtler hat zwei historische Durchbrüche hat mit erkämpft und erlebt: Die Abschaffung der Rassentrennung in den USA und das Ende der Apartheid in Südafrika.

»Damit Fürbitte christliches Beten ist, muss es um das Kommen des Reiches Gottes auf Erden gehen. Es muss ein Gebet sein für den Sieg Gottes über Krankheit, Gier, Unterdrückung und Tod – jetzt, in den konkreten Lebensumständen von Menschen. In unserer Fürbitte richten wir unseren Willen auf die Möglichkeiten Gottes, die jetzt in diesem Augenblick latent vorhanden sind, und finden uns wieder im Wirbelwind Gottes, der darum ringt, sie zu verwirklichen.

Gott verlangt von uns, dass wir mit Gott feilschen um der Kranken willen, der Besessenen, der Schwachen – und unser Leben dann in Einklang bringen mit diesen Fürbitten. Der Gott der Bibel erfindet die Geschichte im Zusammenwirken mit jenen, die „hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“.«

(Walter Wink. Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1992, S. 303)

Ray Charles macht es uns vor: „Himmel, hilf dem Schwarzen, der sich Tag für Tag abmüht. Hilf dem Weißen, der sich von ihm abwendet. Hilf dem, der den mit Füßen tritt, der am Boden liegt. Hilf uns allen.“

Immer wieder einmal fragen mich andere und frage ich mich selbst: Warum ist es Gott so wichtig, mich in das Ringen um eine bessere Welt hineinzuziehen. Wenn Gott doch allmächtig und allwissend ist, alles kann und alles weiß, warum passiert das Gute dann nicht einfach von selbst? Warum ist es dann immer noch ein Kampf, warum gibt es immer noch Streit, und warum dauert das alles so lange? 

Seltsam unsouverän

Dieses „Gott braucht keinen Rat, er weiß es besser“ und „Gott macht eh, was er will. Was soll ich ihm reinreden?“ führt dazu, dass ich mich ins anscheinend Unvermeidbare füge. Wenn ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass Beten etwas verändert, außer vielleicht meine eigene Einstellung, wird es zur zähen Pflichtübung. Oder zur gefühlten Zeitverschwendung. Denn in der Zeit, die ich mit Beten zubringe, könnte ich auch etwas tun, das wirkt.

Der Gott, von dem Jesus spricht, ist offenbar anders als menschliche Monarchen – und garantiert anders als Autokraten und Diktatoren. Die stellen sich Souveränität in der Regel als Willkür vor – ich mache, was ich will, und lasse mir von niemand reinreden. Gott aber kommt dabei immer seine  Liebe zu den Menschen in die Quere. Walter Dietrich schrieb einmal treffend,  Israel habe mehr Macht über Gott, als es einem allmächtigen Gott lieb sein könne. 

Dieser Gott möchte nicht über unsere Köpfe hinweg seine Sachen durchziehen, sondern mit möglichst vielen seiner Freundinnen und Freunde zusammen. Ständig sucht er sich ein Gegenüber, das er an seinen Plänen beteiligt. Er haut auch nicht gleich im Affekt drauf, wenn etwas aus dem Ruder läuft, sondern er hält Rücksprache mit seinen Leuten. Er fordert sie buchstäblich ein! Wenn es darum geht, diese Partnerschaft mit einem manchmal seltsam unsouveränen Gott zu beschreiben, wird sogar ein Intellektueller wie Walter Wink zum Poeten. Hören wir ihm nochmal zu:

»Beten heißt, am Käfig Gottes zu rütteln und Gott aufzuwecken und zu befreien und diesem ausgezehrten Gott Wasser und Nahrung zu geben, die Stricke von Gottes Händen abzuschneiden und die Eisen an seinen Füßen zu lösen und den verkrusteten Schweiß von Gottes Augen zu waschen und dann zuzusehen, wie Gott an Leben und Vitalität und Energie zunimmt – und Gott dann überallhin zu folgen, wo er geht.

Beten ist keine Bitte an einen allmächtigen König, der jederzeit alles tun kann. Es ist ein Akt, der den Ursprung, das Ziel und den Prozess des Universums befreit von aller Verzerrung, Vergiftung, Verwüstung, Fehlausrichtung und blankem Hass auf das Leben, die Gottes Absichten im Wege stehen. Wenn wir beten, schicken wir keine Briefe an ein himmlisches Kanzleramt, wo sie zu den anderen sortiert werden, die sich dort stapeln. Wir beteiligen uns an einem schöpferischen Akt […]. Die Geschichte gehört den Betenden, die die Zukunft herbeiglauben. Und wenn das so ist, dann ist das Gebet nicht etwa eine Flucht vor dem Handeln, sondern ein Weg, sich auf das Handeln einzustellen und Handeln zu ermöglichen.«

(Engaging the Powers, S. 303f.)

Zwei Freunde haben eine unruhige Nacht, erzählt Jesus im Gleichnis. Diese Situation wird noch eine ganze Weile andauern. Darauf bereitet Jesus seine Jünger:innen vor. „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“ sind keine trockenen Floskeln, so lange Krieg und Gewalt an der Tagesordnung sind, so lange wir die Atmosphäre ins Unerträgliche aufheizen, das Wasser und den Boden vergiften, so lange Gerechtigkeit und Unversehrtheit für alle eher ein Ideal, eine Forderung ist – und keine selbstverständliche Praxis. So lange all das den meisten Menschen die meiste Zeit auch nicht so schrecklich wichtig ist. Wenn mir der Zustand der Welt im Großen und Kleinen nicht wenigstens ab und zu den Schlaf raubt, ist das kein gutes Zeichen. Heaven help us all!

Beten und sich einsetzen

Manchmal sagen Leute ja „jetzt hilft nur noch Beten“ und meinen: Menschlich betrachtet sind wir am … Ende unserer Möglichkeiten. Aber vielleicht gehört das auch Anbrechen des Neuen, zum Kommen Gottes in unsre Welt, dass wir ständig überfordert sind. Wenn Gott kommt, wenn wahr wird, dass Christus auferstanden ist, dann bleibt nichts mehr wie es ist. Vielleicht können und sollen wir das also gar nicht allein reißen. Vielleicht steht das Gebet nicht am Ende menschlicher Möglichkeiten, sondern am Anfang. Es hält das Osterfeuer am Brennen. Es ist der Pulsschlag des neuen Lebens. Beten hilft den Aktiven, dass sie nicht verzweifeln, wenn eine Zeit lang nichts vorwärts geht. Und den Ängstlichen oder Zögerlichen, hilft es, in Bewegung und ins Handeln zu kommen. Damit alle, die Menschen und Mitgeschöpfen mutwillig Schaden zufügen, schlaflose Nächte bekommen. 

Es ist gut und richtig, dass Fürbitten in unseren Gottesdiensten einen festen Platz haben. Jesus hätte vermutlich nichts dagegen, wenn sie noch etwas hungriger und durstiger, aufgebrachter und eindringlicher daherkommen. Im persönlichen Gebet oder in einer kleinen Runde lässt sich das leichter lernen. Um dann hoffentlich zu entdecken: Beten ist nicht das Gegenteil von Engagement und Handeln. Es ist das Gegenteil von Fatalismus und Resignation.

So empfand es wohl auch die Mystikerin Madeleine Delbrêl, die einmal schrieb: „Gott will, dass wir ihn aufdringlich darum bitten, sein Wort zu halten. Haben wir diesen Druck auf Gott ausgeübt, haben wir ihn hinreichend ausgeübt?“ 

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Verletztes Land

Ich bin seit dem Umzug vor gut einem Monat eifrig dabei, die neue Umgebung zu erkunden. Am Waldweg von Fischbach nach Altdorf liegt etwas versteckt ein Steinkreuz aus dem 15. Jahrhundert. Eine Tafel informiert über das Alter und bietet zwei unterschiedliche Mordgeschichten als Erklärung dafür an, warum hier ein Sühnekreuz steht.

Früher hätte ich eher den Verdacht gehegt, dass hier Aberglaube im Spiel ist und Menschen ein Kreuz aufstellen, um den Fluch der bösen Tat abzuwenden und göttlichen Zorn zu besänftigen. Alles Dinge, die immer wieder mit dem Begriff „Sühne“ in Verbindung gebracht werden.

Ein Kreuz ist kein „Schlussstrich“

Diesmal dachte ich mir, vielleicht waren das gar keine so schlichten Gemüter damals. Vielleicht hatten die Menschen ein Gespür dafür, dass eine Gewalttat sich in die Landschaft einschreibt oder daran haftet. Dass nicht nur Menschenseelen, sondern auch Orte durch symbolische Handlungen geheilt werden können und müssen. Und dass die Erinnerung an die Opfer eine dauerhafte sein muss – keine Spur also von Schlussstrich-Debatten, die wir im Blick auf das Dritte Reich (dessen Ruinen hier in Nürnberg sichtbarer sind als in den meisten anderen Städten) immer wieder führen, obwohl das nicht einmal hundert Jahre zurückliegt.

Nur was betrauert werden kann, wird auch geschützt

Und dann natürlich die Frage, wo solche Kreuze heute überall stehen sollten. An den europäischen Außengrenzen, wie das Zentrum für politische Schönheit vor Jahren schon vorgeschlagen hat? Auf dem Weg zum Busbahnhof in der Innenstadt kam ich vorgestern an zwei Ghostbikes vorbei – spätmoderne Nachfahren der Sühnekreuze des Mittelalters. Eingeständnisse von Schuld, Orte der Trauer und des Gedenkens an die Opfer.

Seit 600 Jahren steht das Steinkreuz nun im Reichswald. Der Ort fühlt sich nicht mehr verwundet an. Die Aufforderung, Leid und Verwundung in unserer Nähe nicht zu ignorieren, damit wir nicht Gefahr laufen, es ständig zu reproduzieren, die nehme ich nach Hause mit. Heilung dauert. Es gibt Schäden – auch ökologische – die lassen sich nicht in ein, zwei Generationen oder Jahrhunderten restlos beheben. Wenn wir das – diese Permanenz der an einem bestimmten Ort verübten Gewalt – sichtbarer machen könnten, wäre es vielleicht ein höchst willkommener und angesagter Schutz für uns alle. Leid ließe sich schlechter bagatellisieren, oder um es mit Judith Butler zu sagen: Nur was betrauert werden kann, wird auch geschützt.

Nein, mit Aberglauben hat das nichts zu tun…

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Viele kleine Flammen

Leider ohne den schönen Gesang und die Begleitung von heute vormittag - ein pfingstlicher Weg von Eden über Babel und Jerusalem  bis nach Rom aus dem Gottesdienst heute morgen in der Auferstehungskirche. Die Lesungen habe ich in Form von Anmerkungen eingefügt, so ist es etwas kompakter und übersichtlicher. Frohe Pfingsten!

Lesung aus Genesis 1 und 2 1Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. 
Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz.
Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser. 
Gott sprach: Licht werde! Licht ward. 
Gott sah das Licht: daß es gut ist.
Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis. 
Gott rief dem Licht: Tag! und der Finsternis rief er: Nacht!
Abend ward und Morgen ward: Ein Tag. 

Am Tag, da Er, Gott, Erde und Himmel machte, 
noch war aller Busch des Feldes nicht auf der Erde,
noch war alles Kraut des Feldes nicht aufgeschossen, 
denn nicht hatte regnen lassen Er, Gott, über die Erde,
und Mensch, Adam, war keiner, den Acker, Adama, zu bedienen: 
aus der Erde stieg da ein Dunst und netzte all das Antlitz des Ackers, 
und Er, Gott, bildete den Menschen, Staub vom Acker,
er blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens,
und der Mensch wurde zum lebenden Wesen. 

Ach ja, die da drüben. Ja, früher waren wir mal ganz eng. Wie eine ganz große Familie. Dann kam irgendwer auf die Idee mit dem Bau. Tolle Pläne haben wir gemacht: Türme, einer größer als der andere. So etwas schafft Zusammenhalt, haben alle gesagt. Und es zeigt, dass mit uns zu rechnen ist. Wir schaffen eine Attraktion, um die sich alle sammeln. Die Geburt einer großen Nation, und wir Erdlinge sind ihre Schöpfer.

Bild: Laurenz Heymann via unsplash.com

Ich weiß nicht, was die von drüben euch erzählt haben. Oder habt ihr sie noch gar nicht gesprochen? Das wird auch nicht ganz leicht, die versteht man nämlich nicht. Ganz komisch reden sie da drüben. Das kam fast über Nacht. Plötzlich hat nichts mehr funktioniert. Bestellungen wurde nicht ausgeliefert, Material kam am falschen Ort an, Rechnungen wurden nicht bezahlt. Steinmetze gegen Maurer, Zimmerleute gegen Flößer, alle schreien sich an, bis sie irgendwann frustriert verstummen.

Ich sage euch: Die wollen nicht, dass wir sie verstehen. Irgendwas verheimlichen sie uns, ganz sicher nichts Gutes. Selbst wenn sie unsere Sprache sprechen würden, wir würden ihnen nichts mehr glauben. Und das Beste ist ja, dass sie jetzt uns vorwerfen, wir seien es, die anders reden, und die schuld sind an den Missverständnissen. 

Wir überlegen jetzt, ob wir aus diesem Tohuwabohu der Bauruine eine Mauer hochziehen. Ich meine, irgendwie muss man sich ja schützen vor denen. Aber vielleicht verläuft sich das auch alles noch. Wenn man nicht redet, verliert man sich leicht aus den Augen und kriegt sich nicht in die Wolle.

Ezechiel 362Meinen großen, bei den Völkern entweihten Namen, 
den ihr mitten unter ihnen entweiht habt, werde ich wieder heiligen.
Und die Völker werden erkennen, dass ich der Herr bin,
wenn ich mich an euch vor ihren Augen als heilig erweise.
Ich hole euch heraus aus den Völkern,
ich sammle euch aus allen Ländern und bringe euch in euer Land…
Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.
Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust
und gebe euch ein Herz von Fleisch.
Ich lege meinen Geist in euch und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt
und auf meine Gebote achtet und sie erfüllt.

Vielleicht haben wir uns einfach übernommen. Und nicht bedacht, dass wir neben dem Fortschritt am Bau auch auf die Beziehungen achten müssen. 

Manche sagen, da steckt Gott dahinter. Der wollte nicht, dass wir so hoch hinaus kommen. Andere sagen, ja vielleicht war es Gott, aber er wollte uns vor uns und unserem Übereifer beschützen. Der Turmbau hätte uns allmählich aufgefressen. Früher waren wir alle gleich. Jetzt gibt es Chefs und Untergebene, Zeitdruck und Einschüchterung, Peitsche und Zuckerbrot. 

Und wenn wir einander ansehen, dann sind die Blicke stumpf und die Sorgen- und Zornesfalten hart eingeschnitten, wie eingemeißelt in Stein. Nicht nur mit der Sprache stimmt etwas nicht mehr, sondern auch mit den Herzen. Vielleicht war das ja schon länger das Problem, als wir dachten. Aber wie lässt sich das jetzt noch ändern?

Markus 13Johannes verkündete: Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich; 
ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Schuhe aufzuschnüren.
Ich habe euch nur mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.
In jenen Tagen kam Jesus aus Nazaret in Galiläa
und ließ sich von Johannes im Jordan taufen.
Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel sich öffnete
und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam.
Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: 
Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.
Danach trieb der Geist Jesus in die Wüste.

Manchmal denke ich, wie das wohl wäre, wenn wir nur für einen Tag wieder die alten wären. Wenn ein Wunder geschähe und wir wieder unbeschwert reden könnten. Oder vielleicht auch zum ersten Mal überhaupt zu Lebzeiten dieselbe Sprache sprächen. Wenn jeder von jedem gehört werden könnte. Was würden wir entdecken an Gemeinsamkeiten? Könnten wir wieder produktiv streiten und würden uns die Unterschiede dann noch so viel Angst machen? 

Welche Sprache spricht eigentlich Gott: Unsere? Die von drüben? Keine von beiden, sondern eine ganz andere, eine himmlische? Oder gar alle Sprachen? Und wenn wir ihn hören und verstehen könnten, was würde er uns sagen? Würde er freundlich zu uns reden oder uns zornig die Leviten lesen? Vielleicht ist ja das die richtige Antwort auf unsere Sprachverwirrung: Einfach mal still sein und nicht ständig anklagen oder mich rechtfertigen? 

Das Gegenteil von Reden ist nicht das Schweigen, hat mal jemand gesagt, sondern die Geschwätzigkeit. Man kann Dinge ja auch tot reden. Vielleicht ist unsere größte Angst ja die, wir könnten nichts zu sagen haben. So lange man zetert und zankt, braucht man sich der Stille und Leere nicht zu stellen. Was passiert wohl, wenn wir einfach mal warten und dem Gesang des Windes lauschen? Manche sagen, der Wind ist so eine Art Atem Gottes.

Apostelgeschichte 24Dann kam der Pfingsttag.
Alle, die zu Jesus gehört hatten, waren an einem Ort versammelt.
Plötzlich kam vom Himmel her ein Rauschen wie von einem starken Wind.
Das Rauschen erfüllte das ganze Haus, in dem sie sich aufhielten.
Dann erschien ihnen etwas wie züngelnde Flammen.
Die verteilten sich und ließen sich auf jedem Einzelnen von ihnen nieder.
Alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt.
Sie begannen, in fremden Sprachen zu reden –
ganz so, wie der Geist es ihnen eingab.
In Jerusalem lebten auch fromme Juden aus aller Welt,
die sich hier niedergelassen hatten.
Als das Rauschen einsetzte, strömten sie zusammen.
Sie waren verstört, denn jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.
Erstaunt und verwundert sagten sie:
»Sind das denn nicht alles Leute aus Galiläa, die hier reden?
Wie kommt es, dass jeder von uns sie in seiner Muttersprache reden hört?
Wir kommen aus Persien, Medien und Elam.
Wir stammen aus Mesopotamien, Judäa, Kappadozien,
aus Pontus und der Provinz Asien, aus Phrygien und Pamphylien.
Aus Ägypten und der Gegend von Zyrene in Libyen, ja sogar aus Rom sind Besucher hier.
Wir sind Juden von Geburt an und Fremde, die zum jüdischen Glauben übergetreten sind.
Auch Kreter und Araber sind dabei.
Wir alle hören diese Leute in unseren eigenen Sprachen erzählen,
was Gott Großes getan hat.«
Erstaunt und ratlos sagte einer zum anderen: »Was hat das wohl zu bedeuten?«
Wieder andere spotteten: »Die haben zu viel neuen Wein getrunken!«

Kann das geschehen, dass Gott mitten unter den Trümmern der alten Welt noch einmal neu beginnt? Dass er sich einfach nicht abhalten lässt von unserem Misstrauen, unseren Feindseligkeiten, unserer Resignation und unserem Selbstmitleid? 

Das wären auf jeden Fall heftige Geburtswehen, die uns bevorstehen, wenn die alte Welt neu werden soll. Andererseits – wir wissen ja, wozu es gut ist. Meine Nachbarn erwarten ein Baby. Die Übelkeit während der Schwangerschaft, die beschwerliche Entbindung und der Schlafmangel in den Monaten, die folgen, beschäftigt sie dabei nur am Rande. Viel größer ist die Vorfreude darauf, ihre Liebe mit diesem Neugeborenen zu teilen und es aufwachsen zu sehen. 

Und wir Älteren drum herum stellen uns auf mehr Lärm in der Straße ein. Aber wenn wir die beiden strahlen sehen, dann schaffen es selbst die Griesgrämigsten unter uns nur mit Mühe, sich davon nicht anstecken zu lassen. 

Römer 8 5Wir wissen ja:
Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz
wie in Geburtswehen – bis heute.
Und nicht nur sie! Uns geht es genauso.
Wir haben zwar schon als Vorschuss den Heiligen Geist empfangen.
Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Innern.
Denn wir warten ebenso darauf, dass Gott uns endgültig als seine Kinder annimmt – und dabei unseren Leib von der Vergänglichkeit erlöst.
Denn wir sind zwar gerettet, aber noch ist alles Hoffnung. (…)

Wir wissen ja nicht einmal, was wir beten sollen.
Und auch nicht, wie wir unser Gebet in angemessener Weise vor Gott bringen.
Doch der Geist selbst tritt mit Flehen und Seufzen für uns ein –
in einer Weise, die nicht in Worte zu fassen ist.

Wir wissen aber: Denen, die Gott lieben, dient alles zum Guten.

Das Neue müsste aber überall geboren werden. Hier bei uns und drüben bei all den anderen. Wir brauchen es ganz nah, in der Nachbarschaft. Wir müssen es eine Weile beäugen, uns dafür erwärmen dürfen. Ein großes Feuer hält alle auf Abstand. Viele kleine Flammen lassen es gleichmäßig warm und hell werden. Niemand darf das Neue kontrollieren und anderen den Zugang verwehren. 

Was tun wir uns schwer, die Kontrolle abzugeben. Wir finden tausend Ausreden, um sie uns zurückzuholen. Und doch gehören die Momente zu den glücklichsten im Leben, wo wir auf die Kontrolle pfeifen. Vielleicht also drehen wir das einfach mal um mit dem Bauen. Gott ist der Architekt und wir sind sein Material. Lebendige Steine quasi. So wird ein Schuh draus. Kein Turm vielleicht, aber ein Schuh. Sagt man das auch so, da wo ihr herkommt?

Die Welt liegt in Wehen. 
 Die Völker streiten um eine gerechte Ordnung. 
 Kinder sterben, aus Wohnhäusern werden Ruinen. 
 Segne die Friedensstifter im Nahen Osten und anderswo.
 Komm heiliger Geist. Komm und erbarme dich.
 
 Die Welt liegt in Wehen. 
 Menschen sehnen sich nach Normalität nach der Pandemie.
 Öffne uns die Augen für die Nöte und Bedürfnisse des anderen.
 Lass Ausgleich und Verständigung gelingen.
 Komm heiliger Geist. Komm und erbarme dich.
 
 Die Kirche liegt in Wehen. 
 Wir wissen nicht, wie wir beten können und wo wir etwas ausrichten sollen.
 Wer werden wir künftig sein, wenn sich so vieles ändert?
 Sprich zu uns in der Wüste des vertrockneten Glaubens, 
 und der Zerstreuung in Konfessionen, Milieus und Prägungen.
 Komm heiliger Geist. Komm und erbarme dich. 
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Fruchtbare Kränkung

Kleiner akustischer „Nachklapp“ vom vergangenen Wochenende. Im Gottesdienst haben wir den Evangelientext vom Weinstock und den Reben gelesen. Da steckt ja eine gewisse Kränkung oder Zumutung für uns Moderne drin, die sich gern als autonome Individuen begreifen.

Photo by Ranjith Solomon on Unsplash

Ich habe mal versucht, das mit Judith Butlers Überlegungen aus ihrem neuen Buch über die Macht der Gewaltlosigkeit ins Gespräch zu bringen. Sie zeigt: Wenn wir an unsere Abhängigkeit von anderen erinnert werden, kann das ganz schön aggressiv machen. Im Verlauf der Pandemie haben wir das – die Abhängigkeit, das Ausgeliefertsein – alle gespürt, und vielleicht erklärt das auch manch aggressives Verhalten einzelner oder ganzer Gruppen. Da würde mich Eure Einschätzung interessieren.

Der Umgang mit dieser Zumutung aber auch fruchtbar verlaufen. Für mich selbst und für andere auch. Darum geht es eigentlich. Das könnte dann auch ein positiver Ertrag sein für das Leben in einer postpandemischen Welt.

Hier ist der Mitschnitt:

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Trotz allem – Ostern!

Das zweite Ostern im Schatten der Pandemie. Beim Nachdenken über die richtigen Worte und Bilder fiel mir ein Motiv wieder ein, das ich hier vor zehn Jahren einmal erkundet habe: Der Ausbrecherkönig.

Ich habe es ein bisschen aktualisiert für die dritte Welle. Und mit der Hilfe vieler wunderbarer und talentierter Menschen aus Zabo haben wir einen kleinen, bunten Gottesdienst drumherum gebastelt, alles aufgenommen und online gestellt.

Während sich draußen der lange, kalte und einsame Winter gerade nochmal ein Stelldichein gibt, könnt Ihr hier ein paar – hoffentlich herzerwärmenden! – Worten und Klängen lauschen. Und wenn ihr mögt, am Ende sogar ein bisschen tanzen.

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Stop-and-Go in der Zeitschleife

Neulich war ich seit geraumer Zeit mal wieder auf der Autobahn unterwegs. Es kam ein längerer Streckenabschnitt mit einer Baustelle, verengter Fahrbahn, Tempo 80 und streckenweise darunter. Am Fahrbahnrand erschienen in regelmäßigen Abständen jene gelben Schilder, die anzeigen sollen, wieviel Baustelle schon hinter mir liegt und wieviel noch vor mir. Leider hatten die Menschen, die die Schilder aufgestellt hatten, die Positionsmarker überall gleich gesetzt. Es war kein Fortschritt erkennbar. Ich fühlte mich wie in einer Art Zeitschleife gefangen. Wir schlichen dahin und kamen nicht erkennbar vom Fleck.

Das trifft die allgemeine Corona-Gemütslage ganz gut, dachte ich mir.

Weil es aber keine Zeitschleifen gibt auf deutschen Autobahnen, kam irgendwann doch das Ende der Baustelle in Sicht. Und all die dunklen Audis, BMWs und Mercedes hinter mir fuhren immer dichter auf, um sich in Position zu bringen. Der angestaute Baustellenfrust war quasi messbar von Stoßstange zu Stoßstange. Und das Bedürfnis, den gefühlten Verlust zu kompensieren, immens. Kaum herrschte freie Fahrt, brach ein wüstes Gedrängel und Gerangel aus, vor dem man nur auf der rechten Fahrspur halbwegs sicher war.

Alle wollen wieder Gas geben – oder?

Die Kanzlerin und die Ministerpräsident:innen scheinen sich gefühlt zu haben wie ein alter Opel Corsa mit lauter Touaregs, Q7 oder X5 im Nacken, die ungeduldig aufblenden. Sie haben sich zu eiligen Öffnungen drängen lassen, obwohl die Mehrheit der Bürger:innen das gar nicht wollte, schrieb Thomas Fricke bei SPON und nannte es ein „Demokratiedesaster„.

Das Chaos, das sich daraus ergibt, lässt sich vor Ort besichtigen: Als ich am 14. März mittags den Inzidenzwert für Erlangen suchte, konnte ich auswählen zwischen 67,5 (Zeit Online), 63,1 (Süddeutsche und RKI), 59,5 (Spiegel, da war es eine Stunde zuvor noch 37), oder 55,1 (Erlanger Nachrichten). Zwei Tage vorher hatte die Stadt verkündet, dass die Schulen wieder geöffnet werden. Da lag der Inzidenzwert beim RKI bei 47, während das LGL schon einen Wert weit über 50 meldete. Von „Übermittlungsfehlern“ war in Online-Diskussionen die Rede. Was die Frage aufwirft:

• Warum bekommen wir es nach einem Jahr immer noch nicht hin, solch wichtige Daten täglich und zuverlässig zu übermitteln?
• Und wenn wir es nicht schaffen, warum knüpfen wir folgenreiche Öffnungsbeschlüsse an Daten, die derart unzuverlässig erhoben werden? (Und wer glaubt allen Ernstes, dass eine Taskforce mit den Ministern Spahn und Scheuer die Misere in den Griff kriegt?)

Ausgebremst

Jetzt, eine Woche später, rudern wieder alle zurück. Es ist gerade so, als würde auf der Autobahn des gesellschaftlichen Lebens die Anzeige auf den Schilderbrücken flackern und jedesmal eine andere Höchstgeschwindigkeit anzeigen. Und so nimmt im Stop-and-Go auch unter denen, die sich bemühen, ruhig zu bleiben, der Frust zu. Denn andere treffen Entscheidungen über das Tempo meines Lebens und allzu oft wirken sie dabei fahrig und überfordert. Die pandemiebedingte Ungeduld bringt die grundlegende Ungeduld und das Getriebensein ans Licht, das in mir steckt:

„Je mehr man das Gefühl hat, Oh Gott, ich muss eigentlich schon dieses und jenes erledigt haben, Oh Gott, ich muss schon hier sein, desto ungeduldiger und aggressiver wird man natürlich, wenn man durch diese Wartesituation ausgebremst wird. Das ist ja oft ein Grund für diesen großen Ärger, dieses Gefühl, ich werde plötzlich in meiner wunderbaren Erledigungsschlange ausgeknockt – und das erzeugt Ärger.“

Friederike Gräff kürzlich im DLF (Es lohnt sich, diesen Beitrag ganz zu lesen oder zu hören!)
Nichts für Eilige, diese Nebenstraße…

Kann man Ungeduld fasten?

Einige Freunde haben geschrieben, dass sie in diesem Jahr nicht fasten wollen in der Fastenzeit. Wir verzichten ohnehin auf so vieles. Das stimmt natürlich. Ich überlege unterdessen, wie ich Ungeduld fasten kann. Indem ich das Warten auf eine Rückkehr zur Normalität (was auch immer das dann ist) annehme? Dazu brauche ich die Situation ja nicht künstlich zu beschönigen. Und ich kann mir bewusst machen, wie sehr mein Leben, Glück und Wohlergehen von anderen abhängt.

Das anzuerkennen hat seine schmerzhafte Seite, aber auch seine schöne. Wenn mir beides zusammen vor Augen steht, setze ich mich und meine Mitmenschen hoffentlich weniger unter Druck.

Im oben erwähnten DLF-Beitrag ist mit Simone Weil vom Warten Gottes die Rede: Gott wartet darauf, dass wir ihm Liebe und Aufmerksamkeit schenken. Schon immer – oder auch immer noch. Er drängelt nicht, aber er hat auch nicht aufgegeben. Da hätten wir also schon etwas gemeinsam, Gott und ich. Und während ich darauf warte, dass alle möglichen anderen Dinge wieder möglich werden, kann ich im Warten auf und mit Gott meiner Ungeduld immer wieder ein Schnippchen schlagen.

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Ein Song für die Ewigkeit

Rund um den Ewigkeitssonntag geht mir ein Titel von Sting nicht mehr aus dem Kopf: Das eher unbekannte „Dead Man’s Rope“ von seinem Album „Sacred Love“.

Ich habe gelesen, dass Sting der Text einfiel, als er an seinen Memoiren („Broken Music“) schrieb. Deshalb ist dort vom „Brunnen der Erinnerungen“ die Rede, einem inneren Schwebezustand zwischen Himmel und Hölle. Aber auch von schwerem seelischen Gepäck, von Enttäuschungen und dem sanften Regen der Vergebung.

In diesem Moment des Heraustretens aus sich selbst fällt der Blick auf eine endlos lange Wanderung – tausend Jahre, eine Million Schritte. Sie hat kein besonderes Ziel, eher gleicht sie einer Flucht vor Kummer, Einsamkeit und Leere. Aber vor dem eigentlichen Problem, der Vergänglichkeit, gibt es kein Entrinnen: Den Grabstein trägt er schon auf seinem Rücken.

Im Brunnen der Erinnerung wird deutlich, dass die Flucht nur ein Laufen im Kreis war. Sisyphus lässt grüßen. Und dass er nicht nur vor Angst, Wut und Trauer, sondern auch vor der Liebe Jesu (das steht wörtlich so da) davonlief.

Und als wäre diese Erkenntnis die Wende, ändert sich die Stimmung an dieser Stelle. Im Rückblick klärt sich der Ausblick nach vorn. Er spürt die Hand eines Engels, der ihm über den Kopf streicht. Dann singt Sting davon, dass er nun „in seiner Gnade“ wandelt und „in seine Fußstapfen“ tritt. Man kann das durchaus so lesen, dass mit „er“ wieder Jesus gemeint ist.

Als er weitergeht, geht er nicht mehr mit Leere, Kummer, Zorn und Schmerz weiter, sondern er lässt sie zurück. Er geht auch nicht mehr allein weiter. Stattdessen singt er:

All the days of my life I will walk with you
All the days of my life I will talk with you
All the days of my life I will share with you
All the days of my life I will bear with you 

Für mich ist 2020 nun das dritte Jahr in Folge, in dem wir ein Familienmitglied verloren haben. Je länger, je mehr merke ich: Es dauert eine ganze Weile, bis das trauernde Herz den Trost hören kann.

Vielleicht ist der Advent, der dieses Jahr so viel stiller auf uns zukommt als sonst, ja ein guter Zeitpunkt, um sich in den Brunnen der Erinnerungen zurückzuziehen. Oder in den warmen Regen der Vergebung hineinzugehen, der Scham, Groll und Ärger löst und abwäscht.

Davon war auch heute im Gottesdienst die Rede: Vom Abwischen der Tränen, vom „Gott mit uns“, vom lebendigen Wasser, vom festlichen Ende einer langen Trennung, von unverbrüchlichem Zusammenhalt.

Der Seher und der Sänger. Ich fühle mich von beiden verstanden – und jetzt auch wirklich getröstet.

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Heimweh ohne Verreisen

Ich habe ein neues Wort gelernt: Solastalgie. Das ist die Trauer, die manche Menschen empfinden, wenn sie die Klimaschäden und das Artensterben in ihrer gewohnten Umgebung vor Augen haben. Nicht nur die Nadelbäume verdorren gerade in den Wäldern, selbst die mächtigen Eichen und Buchen sterben. Bäche und Tümpel trocknen aus oder kippen um, Tiere verlieren ihren Lebensraum. 

Photo by Meritt Thomas on Unsplash

Naturliebhaber erwischt der Klimakummer besonders hart, aber es reicht auch der Blick auf die Bäume an den Straßen und die Grünanlagen unserer Städte. Ich erinnere mich, wie vieles, was jetzt ums Überleben kämpft, vor wenigen Jahren noch relativ gesund war. Und frage mich im selben Moment, wo das alles noch hinführen soll. Mal fühle ich mich dann hilflos und niedergeschlagen, mal traurig, mal wütend. „Geh aus mein Herz und suche Freud“, das funktioniert anno 2020 nur noch ganz punktuell. Es ist wie Heimweh ohne Ortswechsel, weil die „Heimat“, die ich vermisse in der Vergangenheit liegt. Die Uhr lässt sich nicht mehr zurückdrehen.

Was hilft gegen die Depression? Mit anderen Menschen darüber zu reden, denen es ähnlich geht. Gott im Zwiegespräch meinen Kummer über den Zustand seiner Schöpfung zu klagen. Und gemeinsam mit anderen auf die Barrikaden zu gehen. Wenn die Trauer das bewirkt, dass wir zusammenfinden und uns verbünden, dann hätte die Solastalgie – der Klimakummer – doch noch einen Sinn. 

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Kann / soll / möchte ich „mir treu bleiben“?

Gelegentlich begegne ich Leuten, die ich lange nicht gesehen habe. Manchmal kannten wir uns gut, manchmal nur flüchtig. Wenn man einen Weile nichts von einander gehört hat, ist es ja interessant, ob und wie sich der/die andere verändert hat. So gesehen kann die freundliche Aussage „bleib, wie du bist“ oder „immer noch ganz der alte“ ein recht zwiespältiges Kompliment sein.

Am meisten staune ich tatsächlich über die, die auch nach Jahrzehnten noch genau dieselben Ansichten und Einstellungen haben. Dann frage ich mich, ob die Veränderungen in der Welt und die Begegnungen im Laufe des Lebens spurlos an ihnen vorübergegangen sind und sie die diversen Disruptionen schlicht nicht zur Kenntnis genommen haben, oder ob sie mit den Landkarten von früher auch nach all den tektonischen Verschiebungen noch leidlich navigieren können.

In solchen Situationen höre ich manchmal den Satz: „Sie/er ist sich treu geblieben“. Dann frage ich mich, ob das so stimmt: Bleibe ich mir treu, indem ich bestimmten Ansichten treu bleibe (statt „mit der Zeit zu gehen“, wie es auch manchmal heißt)? Oder bleibe ich mir treu, indem ich meine Ansichten verändere bzw. durch Ereignisse und Einsichten verändern lasse? Sind beide Wege am Ende gar gleichwertige Arten, sich selbst treu zu bleiben? Oder haben die, die auf bestimmten Positionen verharren, eher das Bedürfnis, einer bestimmten Idee (Dogma?) treu zu bleiben, einer darauf gegründeten Gemeinschaft (Kirche?) anzugehören? Ist ihnen der Frage, ob sie sich selbst treu bleiben, also gar nicht so wichtig?

Wenn ich über mich selbst und andere nachdenke, für die das Leben eine Reise voller Veränderungen ist, Glaube ein Wachsen und sich Wandeln, Nachfolge ein Ablegen bestimmter Dinge und ein Aufnehmen anderer, und der Gott der Bibel ein nomadischer Gott, ein Nichtsesshafter, dann steckt ja auch darin eine Idee, der wir treu bleiben. Freilich sehen die meisten das nicht als etwas an, das außerhalb des Selbst liegt. Obwohl es mehr und größer ist als das individuelle Selbst, fühlt es sich eher wie ein innerer Kompass an.

Photo by Jannes Glas on Unsplash

Ab und zu gibt es auf den verschlungenen Pfaden des Lebens Begegnungen, wo sich solch ein gegenseitiges Erkennen und Verstehen ereignet. Wieder ist es nicht unbedingt der Inhalt der Erfahrungen und Einsichten, der kongruent sein muss, sondern die fragende und suchende Haltung dabei. Und die Bereitschaft, über Grenzen und Selbstverständlichkeiten hinaus zu denken.

In solchen Momenten fällt mir das Familienwappen meines Großvaters ein. Darauf steht „Immer Vorwärts„. Das wirft eine Menge Fragen auf, aber es spricht eben auch eine ausgeprägte Sehnsucht an: Wir sind noch nicht angekommen. Alles ist vorläufig – ein Provisorium, das wir wieder aufgeben werden. Es ist noch nicht die Zeit, sich niederzulassen und zur Ruhe zu setzen. In dieser heiligen Unruhe (die etwas anderes ist als ein Getriebensein!) bleibe ich mir gerne treu.

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Ein Denkmal für die Sehnsucht

Mein Arbeitszimmer ist so aufgeräumt wie schon Jahre nicht mehr: In der Isolation der letzten Wochen (und mit viel mehr Vorlauf als gewohnt) eine Predigt zu schreiben, ließ jedes Staubkorn interessant erscheinen. Dass gefühlt alles gerade im Ungewissen und in der Schwebe ist, macht es schwer, etwas zu niederzuschreiben, ohne es umgehend wieder unter Vorbehalt zu stellen. Aber irgendwann klärten sich die Gedanken und die Worte auf dem Bildschirm dann doch.
Die Ausnahmesituation setzt sich beim Sprechen im sterilen Studio fort: Keine Gemeinde vor Augen, kein Tageslicht, schalltoter Raum. Dank der moralischen und fachlichen Unterstützung von Melitta Müller-Hansen ließ sich zum Glück noch etwas Restadrenalin mobilisieren. Und die ersten Rückmeldungen waren ganz positiv. Aber hört (oder lest) selbst, wenn Ihr mögt…

Der rastlos Reisende sitzt fest. Paulus, der Apostel, hat gerade einen Gefängnisaufenthalt überstanden. Und jetzt muss er in Athen schon wieder warten, bis sein Team nachkommt. Erst dann kann es weitergehen übers Meer. Nun sitzt er am Hafen von Piräus, und sieht, wie die Schiffe an- und ablegen. So wie ich in den letzten Wochen den wenigen Flugzeugen am Himmel hinterhergeschaut habe. Voller Fernweh. Und voller Ungeduld: Wann werde ich mich wieder wie gewohnt frei bewegen können? Reisen? Besuche machen?

Irgendwann entschließt Paulus sich, in die Stadt zu gehen. Athen im ersten Jahrhundert nach Christus, das ist so eine Art Weimar des römischen Reiches. Politisch und wirtschaftlich unbedeutend, aber voller Erinnerungen an ein goldenes Zeitalter der Kunst und Philosophie. Und die Wiege der Demokratie – auch wenn das schon längst wieder Geschichte ist.

Photo by Stavrialena Gontzou on Unsplash

Kein ganz einfaches Pflaster

Dieses Athen bietet großartige Architektur, wohin man auch schaut. Als Tourist oder Flaneur käme Paulus jetzt voll auf seine Kosten. Aber er sucht nicht den Kunstgenuss, sondern Gott auf den Straßen und Plätzen. Sein Blick fällt auf die zahllosen Götterbilder und Tempel. Er sieht sie nicht nur als kulturgeschichtliche Attraktionen. Für ihn sind sie in Stein gemeißelte Machtverhältnisse. Die Götter des Olymp sind Sinnbilder der antiken Klassengesellschaft: Freie stehen über den Sklaven, Männer über den Frauen, Eingesessene über den Zugewanderten. Diese Götter sind Schutzmächte jenes Systems, in dessen Namen er kürzlich erst verhaftet und ausgepeitscht wurde.

Auf dem Marktplatz, wo einst schon Sokrates die Passanten mit seinen Fragen nervte, kommt Paulus ins Gespräch mit den Einheimischen. Gebildet sind sie und kunstbeflissen, die Athener. Kritik und Skepsis wurden hier erfunden und in alle Welt exportiert. An die alten Göttermythen indes glaubt hier kaum noch einer. Eher, dass die Vernunft es möglich macht, sich dem Wahren, Guten und Schönen zuzuwenden. 

Ein bisschen verwöhnt sind sie auch. Jeden Augenblick könnte eine antike Version des Philosophen Richard David Precht um die Ecke kommen – gutaussehend, wohlsituiert und eloquent. Wahrheitssuche darf in Athen gern unterhaltsam sein: „Wo du schon mal da bist: Beeindrucke uns, wenn du kannst!“, sagen die Gesten und Gesichter. „Was hast du zu sagen über Gott und den Kosmos? Über das Glück und das tugendhafte Leben?“

Der Newcomer Paulus schlägt sich in seiner ersten Diskussion auf dem Markt in Athen so gut, dass er zur Begutachtung auf den Areopag geladen wird. Hier, unterhalb der Akropolis wird nicht Smalltalk, sondern Politik gemacht und Recht gesprochen. Es wird ernst:

Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Denn ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt.

Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, dass sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts. 

 (Apg 17, 22-28)

Die Anspannung, der Missmut und die Ungeduld über das unfreiwillige Warten erscheinen wie weggeblasen, als Paulus zu dieser Rede ansetzt. Ich bin ein bisschen beschämt darüber. Wie oft ist mir das in den zurückliegenden Wochen nicht gelungen, meine Verstimmung über die ernste bis deprimierende Corona-Pandemie aus persönlichen Gesprächen herauszuhalten? Auch wenn völlig klar ist, dass mein Gegenüber genauso unter der Situation leidet und ebensowenig dafür kann wie ich. Ich spüre, wie ich einsilbiger werde, wenn ich genervt bin.

Paulus hingegen schimpft und droht nicht, er zieht sich aber auch nicht zurück. Er hat etwas Positives entdeckt, etwas Verbindendes. Und das rückt er jetzt in den Mittelpunkt. Hat ihn das Kraft gekostet? Ich stelle mir vor, wie er auf dem Weg vom Markt zum Areopag tief durchatmet. Wie er ein Stoßgebet um die richtigen Worte zum Himmel schickt. Wie er in Gedanken nach dem richtigen Einstieg sucht und plötzlich diesen Moment vor Augen hat: Auf seinem Streifzug durch Athen steht er vor dem Altar eines unbekannten Gottes. Ohne die üblichen Bilder, ohne klangvollen Namen. Welches Geheimnis verbirgt sich hier?

Gott als Joker?

In Athen gibt es für alles einen Gott. Selbst für das, was man nicht bedacht hat. So gesehen ist dieser Altar für den unbekannten Gott wie der Joker in einem Kartenspiel, der für jede beliebige andere Karte zum Einsatz kommen kann. Ich denke an Dietrich Bonhoeffer, der vor 75 Jahren ermordet wurde. Er hat es abgelehnt, Gott als Joker zu benutzen. Ihn als „Gott der Lücken“ ins Reich des Unerklärlichen, Unbeherrschbaren und Übernatürlichen abzuschieben. Da erfüllt er durchaus noch seinen Zweck, da brauchen wir ihn noch: An den Außengrenzen, wo wir nicht weiterwissen, absolut ratlos sind, wo nichts mehr beherrschbar oder berechenbar ist. Da brauchen wir ihn als „Gott der Lücken“, um uns abzusichern. Zugleich aber überlassen wir das Alltägliche, das Natürliche, das Politische und alles Zwischenmenschliche sich selbst. 

Photo by Quentin Rey on Unsplash

Die Lücken in unserem Wissen und die Grenzen unserer Welt- und Selbstbeherrschung rücken gerade wieder in den Blick. Das Corona-Virus macht sie sichtbar. Schlagzeilen wie „Ökonomen im Blindflug“ gehören inzwischen zum Alltag. Man könnte auch manch andere Zunft hier einsetzen, Virologen vielleicht ausgenommen. Noch vor wenigen Wochen schien ein Kontrollverlust dieser Größenordnung völlig undenkbar. 

Manche Prediger sehen eben darin Gott am Werk und wittern neue Chancen für den Glauben. Aber wenn wir Gott als Krücke und die Verheißung ewigen Lebens als Beruhigungspille anpreisen, dann werden viele ihm den Rücken kehren, wenn die Lage sich wieder stabilisiert. Dann hat Gott seinen Zweck ja auch erfüllt. So wie wir heute für Menschen in Pflegeberufen Beifall klatschen und uns morgen darüber beschweren, dass der Beitrag für die Krankenkasse steigt oder der Staat uns die Steuern erhöht, um sie besser zu bezahlen. 

Bonhoeffer wollte dieses Spiel nicht mitspielen. Er schrieb: 

„Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen … Gott ist mitten in unserm Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf.“ 

Er hatte seinen Paulus gut gelesen, denn das ist genau der Weg, den der Apostel  einschlägt – mitten auf dem Areopag.

Ein Fragezeichen aus Stein

Paulus deutet den Altar des unbekanntes Gottes positiv: Als Fragezeichen hinter den vermeintlichen Gewissheiten der Athener. Der Altar markiert eine Leerstelle: Was haben wir übersehen? Gibt es noch mehr zu entdecken als das, was wir schon kennen? Kluge Menschen haben auch ein Gespür für das, was sie alles nicht wissen.

Zugleich ist der Altar ohne Bild Ausdruck einer Sehnsucht. Wie bei Fernweh: du siehst ein Schiff, ein Flugzeug, du suchst mit deinen Augen den offenen Horizont. Aber du weißt nicht, wohin es dich zieht. So auch die Sehnsucht nach dem unbekannten Gott: Sie kann noch gar keine genauen Koordinaten für das Ziel der Expedition nennen. Das Unbekannte hat keine Adresse, keinen Namen und kein Gesicht. Wie der geheimnisvolle Gott, der in der Wüste aus dem brennenden Busch zu Mose, dem Nomaden, über die Freiheit in einem fernen Land spricht. Der Gott der Juden, und damit auch der Gott Jesu von Nazareth.

Manchmal spüren Menschen so eine Sehnsucht, aber bringen sie nicht mit Gott in Verbindung. In der Popkultur etwa stoße ich auf Texte, die sich an eine zukünftige Partnerin oder einen Partner richten. Die Titel heißen „Dear Future Husband“ oder „I Haven’t Met You Yet“. Da geht es um die Suche nach jemandem, der mich spüren lässt, dass ich etwas Besonderes bin. Und ein bisschen auch die Sehnsucht nach jemand, der mich vor mir selbst rettet. Wie beim „Gott der Lücken“ wird da im Grunde aber jemand gesucht, der all das liefert, was mir gerade fehlt.

Das Gegenstück dazu wäre jemand – Gott oder Mensch –, mit dem ich alles teilen kann, nicht nur meine Leerstellen und Defizite. Die zarte, tastende Sehnsucht nach einem solchen Gegenüber besingt das Folkduo „The Civil Wars“:

Du hast mir gefehlt
Aber ich bin dir noch nie begegnet
Doch das würde ich so gern
Liebe(r) Wer-immer-du-auch-bist
Noch warte ich geduldig

Ich habe in diesen Tagen der allgemeinen Zwangsentschleunigung auf vieles gewartet und warte noch: Auf den ersten Friseurtermin seit Ewigkeiten. Dass es irgendwo Hefe zu kaufen gibt. Aufs Anstoßen mit Freunden im Biergarten. Und darauf, meine alten Eltern in den Arm zu nehmen. Im Moment empfinde ich das erzwungene Warten so anstrengend, dass das freiwillige Warten – die Stille, das Gebet, die Meditation – unter dem Sehnsuchtsstau leidet. Ich bete in diesen Tagen lieber draußen, unter den Bäumen, die da ruhig und unverrückbar stehen, und bei den Vögeln, die über den offenen Himmel fliegen.

Sympathische Sehnsucht

Die Sehnsucht ist eine besondere Art der Verbindung. Es gibt sie nur in Beziehungen, in denen man das Gegenüber nicht besitzt und im Griff hat. Deswegen ist die Sehnsucht nach Gott auch nie ganz zu stillen. Die Sehnsucht, der Durst nach Geist und Leben macht Menschen anziehend und schön. So lange wir träumen, ist in aller Traurigkeit noch Kraft und Hoffnung auf Veränderung. Vielleicht sagt meine Sehnsucht ja mehr über mich aus als das, was ich schon erreicht habe.

Der Altar des unbekannten Gottes ist das Eingeständnis, dass man nicht alles wissen kann oder noch nicht alles erkannt hat. Eines interessierten Nichtwissens. So sieht Paulus die Athener. Er sieht ihre Sehnsucht und sie ist ihm sympathisch. Gott nicht ganz erkannt zu haben ist keine Schwäche, deren man sich schämen müsste. Statt belehrend und besserwisserisch aufzutrumpfen, betont er noch einmal die Gemeinsamkeit: Gott braucht kein Haus, schon gar kein prunkvolles, sagt er. Und er braucht auch keine Priesterkaste, die ihn hofiert wie die Lakaien ihren Kaiser. Was für ein Gott wäre das, der das nötig hätte? 

Paulus weiß, das die Athener das wissen. Er zeigt es ihnen, indem er aus den „Himmelserscheinungen“ eines damals bekannten und beliebten Dichters, Aratus von Soloi, zitiert: „In ihm leben, weben und sind wir“, und „Wir stammen von ihm ab“: Der eine, wahre Gott ist überall am Werk, mitten im Leben und im Guten. Im Menschsein, das uns alle verbindet. Nicht in den Dingen, die uns unterscheiden und trennen. Wozu noch Tempel? Wozu noch andere Bilder? Gott lässt sich auch nicht mit Konzepten oder Begriffen dingfest machen. Wenn wir ihn in solche Gräber sperren, kommt er wieder heraus und sie sind leer.

Gott – mitten im Leben

In den letzten Wochen konnten wir uns nicht wie gewohnt zum Gottesdienst in den Kirchen versammeln. Viele haben das vermisst. Manche sind in eine der offenen Kirchen gegangen, um eine Kerze anzuzünden und still zu beten. Viele beten jetzt wieder, wenn die Kirchenglocken läuten – zuhause, wo sich gerade viel mehr Alltag als sonst abspielt. Neben dem Warten ist auch das eine der Lektionen dieser Tage: Wir leben, bewegen uns und sind in Gott. Gottesdienste und Kirchenräume dienen nicht dazu, dem Alltag zu entfliehen. Sondern mir gerade genug Abstand zu ermöglichen, dass ich Gottes Spuren im Gewöhnlichen entdecke: Beim Einkauf, im Grünen, beim Gespräch über den Gartenzaun oder übers Internet, wenn ich nachts wach liege.  

Oder wenn mir schlechte Nachrichten unter die Haut gehen. Letzte Woche etwa kommentierte die Journalistin Mely Kiyak die elende Lage tausender Geflüchteter auf Lesbos, darunter viele Kinder: 

Menschsein ist universell und spricht eine Sprache. Kinder sind Schutzbedürftige. Dieses Wissen nicht in seinem Lebenskompass eingeschrieben zu haben, bedeutet einen unglaublichen Verlust von Würde, zunächst einmal sich selbst gegenüber.

Mely Kiyak, 50 ist keine Zahl

Europas Regierungen stehlen sich im Schatten von Corona aus der Verantwortung und ich sitze hier wie tausende andere fest im Homeoffice und unterschreibe Online-Petitionen an die Regierenden.

Die Gerechtigkeitslücke

An diesem Punkt geht Paulus einen Schritt über die Einigkeit mit den Athenern hinaus. Gott ist nicht nur Grund und Urheber der Welt, sondern er verfolgt auch ein Ziel. Ja, Menschen spiegeln Gott oft und in vieler Hinsicht wider. Ja, es gibt Wahres, Gutes und Schönes unter ihnen. Manchmal aber ist es schlichtweg zum Heulen, was sie einander antun. Die Würde aller nimmt Schaden, wenn Gerechtigkeit mit Füßen getreten wird. Wenn die Gewalt der einen und die Gleichgültigkeit der anderen sich die Hand reichen, folgt die Selbstzerstörung. Und am Umgang mit leidenden Menschen zeigt sich auch, wie es um unser Verhältnis zu Gott bestellt ist.

Deswegen offenbart sich Gott ausgerechnet im leidenden und gekreuzigten Christus. Paulus reißt das nur knapp an, quasi im Telegrammstil, und die Athener haben erkennbar Mühe, ihm zu folgen: 

Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.
Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er richten will den Erdkreis mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.
Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören. So ging Paulus weg aus ihrer Mitte. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig; unter ihnen war auch Dionysius, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen.

Apg 17, 29-34

Für diesen sperrigen Christus gibt es keine passende Nische. Er stört, also wird er beseitigt. Gottes Sohn nimmt es in Kauf, selbst unter die Räder zu kommen. Und damit deckt er den herzzerreißenden Zwiespalt der Menschheit auf: So großartig und doch auch so grausam sein zu können. Aber gerade da stößt Gott nun die Tür zu einer neuen Welt auf. Im Auferstandenen erscheint sie, inmitten in der alten, kaputten Welt. Immun gegen das Virus der Unmenschlichkeit.

Unser Licht leuchten lassen

Das also macht die Osterbotschaft aus: Eine andere Welt ist nicht nur theoretisch möglich. Der Anfang ist schon gemacht. Wenn Paulus vom kommenden Gericht spricht, sagt er damit: Gott wird der Unmenschlichkeit ein Ende setzen und seine aus den Fugen geratene Welt zurechtbringen. 

Die Zeit des Leidens ist begrenzt. Aber sie ist – bei aller österlichen Erleichterung und Vorfreude –noch nicht zu Ende. Wir warten nicht auf das Ende der Corona-Krise und darauf, dass dann alles wieder „normal“ wird. Die gefühlte Normalität der Jahre vor Corona war in Gottes Augen schon längst Krise. So kann es nicht weitergehen. Wir warten sehnsüchtig auf ein Ende der Ungerechtigkeit. Wir warten auf eine Welt, in der Kinder und Alte, Frauen und Männer, Menschen und Natur in Würde und Frieden leben. Das Ende der Pandemie ist nur ein Schritt dahin.

Zu Ende ist allerdings die Zeit des Abwartens und Taktierens. „Egal, was ihr vorher gemacht habt,“ sagt Paulus den Athenern, „jetzt ist es Zeit, sich der Bewegung des Auferstandenen anzuschließen.“ Lukas nennt namentlich zwei Personen, die der Einladung folgen: Dionysius, Damaris.

Und ich? Ich muss nicht bis nach Corona warten, um es ihnen gleichzutun. Mit vielen anderen auf dieser Welt bin ich unterwegs. Zum Beispiel Joan Baez, die vom Glauben an Gott singt, der sich zwar oft nicht begreifen lässt, aber uns hilft, unser Licht leuchten zu lassen.

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Nimm’s (nicht?) persönlich: Über Baum- und Börsenpoesie

Einige von uns verbringen ja krisenbedingt mehr Zeit im Wald. Das kann den Horizont durchaus erweitern. Der Herald brachte kürzlich ein Interview mit Peter Wohlleben über dessen Anschauung von Bäumen. Der Mann wird ja immer wieder kritisiert, weil er angeblich zu menschlich von Bäumen spricht. Er beschreibt sie als soziale, kommunikative Wesen und benutzt dabei – anders als viele seiner Kollegen – Metaphern aus unserem menschlichen Miteinander. Zum Beispiel, wenn er einen Baumstumpf, der über das Wurzelgeflecht benachbarter Bäume am Leben erhalten wird, als „Ruheständler“ bezeichnet.

Freilich ist er damit eher auf der poetischen Seite des wissenschaftlichen Spektrums. Dort wird allerdings nicht weniger metaphorisch geredet. Es sind lediglich andere Metaphern, die bevorzugt werden: Mechanistische (Wohlleben nennt das „Bioroboter“) oder ökonomische Vorstellungen – Konkurrenz, Synergie, Effizienz zum Beispiel. Immer wieder ist zu lesen, diese oder Lebewesen seien darauf aus, ihre Gene so weit wie möglich zu verbreiten. Auch in solchen Formulierungen steckt eine Art Intentionalität, aber eben keine primär soziale.

Photo by Jeremy Bishop on Unsplash

Die Ökonomen sind indes schon wieder einen (zweifelhaften) Schritt weiter in Richtung Börsenpoesie. Immer wirde mal heißt es, der DAX stemme sich gegen Risiken oder schlechte Nachrichten. Während es sicher kein Fehler ist, von Bäumen als Lebewesen zu sprechen, kann man einem Börsenindex schwerlich so etwas wie Bewusstsein oder Wille nachsagen. Der bildet nur das bunte Treiben vieler Akteure auf dem Markt ab.

Es ist also akzeptabel, vom DAX personifizierend oder vermenschlichend zu reden, aber nicht vom Wald. Ich vermute, dafür gibt es nur eine Erklärung: Er steht den meisten von uns einfach näher als die Natur. Wir erkennen uns selbst in ihm wieder (klar – er ist ja unser Geschöpf!) und wir erwarten uns von ihm mehr Trost, Hilfe und Beistand als von unseren kleinen und großen Mitgeschöpfen. Das wäre eine durchaus besorgniserregende Tendenz.

Um so mehr wünsche ich allen schöne und bewusstseinsbildende Spaziergänge im Wald. Habt keine Scheu, mal mit einem Baum zu reden. Peter Wohlleben sagt zwar, dass die Bäume uns nicht verstehen. Aber das ist auch gar nicht der Punkt: Das Reden könnte uns helfen, sie wieder als Lebewesen zu sehen und nicht als Baumaterial oder stimmungsvolle Kulisse für Freizeitaktivitäten. Und das Hören auf den Wind in den Baumkronen, das Knarren der Äste, das Rascheln im Laub.

In diesen Sinn – einen gesegneten GrünDonnerstag!

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