ÜberbeWERTEt?

Immer wieder hört und liest man, dass man Werte verändern müsse, damit sich im persönlichen und gesellschaftlichen Leben etwas verändert. Ganze Kongresse drehen sich darum, mit Werten in Führung zu gehen. Und das ist ja auch nicht ganz falsch.

Aber vielleicht auch nicht ganz richtig…?

Ein Gespräch über die komplexen Tücken von Entwicklungshilfe hat mich diese Woche ins Zweifeln gebracht, wie erfolgsversprechend der Werte-Ansatz ist. In vielen primitiven Kulturen sind es nicht die Werte, sondern feste Praktiken und Traditionen, die Menschen Halt geben, auch wenn sie deren Sinn nicht immer verstehen oder die mittel- und langfristigen Wirkungen gar nicht abschätzen können. Werte sind also schon eher europäisch-abstrakt gedacht. Aber bestimmte Praktiken und Gewohnheiten haben das Leben mancher Stämme und Völker so geregelt, dass sie langfristig und nachhaltig lebten. Manches davon funktioniert heute nicht mehr, und nun müssen extrem mühsam alte Gewohnheiten verlernt und neue Praktiken eingeübt werden.

Und bei uns ist es im Grunde gar nicht so viel anders. Wir haben alle möglichen Werte und können die auch aufsagen, aber nicht immer bewegt uns das automatisch in die richtige Richtung. Der Grund ist gar nicht der, dass hier Heuchler in bloßen Lippenbekenntnissen einem bestimmten Wert pro forma huldigen, in Wahrheit aber andere Dinge im Schilde führen. Sondern schlicht der, dass ein Wert ohne korrespondierende Praxis und Gewohnheit bedeutungslos ist.

Ein banales Beispiel: Für viele ist Fitness oder ein passables Aussehen (wir reden nicht von Hungermodels) durchaus ein Wert. Dennoch leiden auch viele unter Übergewicht. Der Grund ist neben einer gewissen Veranlagung nicht bei den Werten, sondern den Gewohnheiten zu suchen. Wir essen zu viel, zu unregelmäßig, zu schlecht, zu oft in Eile oder vor dem Fernseher. Früher hat sich einiges davon von selbst geregelt: Es gab kaum Süßigkeiten und Fertigzeugs, Fleisch bestenfalls sonntags, man aß mit der Großfamilie zu festen Zeiten um einen gemeinsamen Tisch herum. Es gab keine Autos und weniger Bürojobs. Ulkigerweise war schlank Sein damals gar kein wichtiger Wert.

Heute haben sich die Bedingungen geändert, unter denen wir leben und arbeiten, aber wir haben keine neuen Gewohnheiten entwickelt, die jeder von klein auf lernt (an dieser Stelle kann man nun fragen, ob wir da nicht unter unerwünschten Nebenwirkungen eines anderen Wertes leiden, nämlich der uneingeschränkten Autonomie des Individuums). Vielleicht brauchen wir also mehr gesunde Gewohnheiten. Vielleicht muss man sich in sogar erst in bestimmte Praktiken einüben, um bestimmte Werte schätzen zu lernen. Klar kann ein plumpes „das macht man so“ auch als Einschränkung empfunden werden, das ist es wohl auch ab und zu, aber es waren eben nicht alle Bräuche bloß eine Form von Freiheitsberaubung. Vielleicht brauchen wir auch neue, denn allein aus den richtigen Werten ergibt sich offenbar nicht von selbst die richtige Praxis.

Liebe, Treue und Familie sind für die Mehrheit der Menschen immer noch die höchsten Werte, wenn man Umfragen glauben darf. Dennoch scheitern viele Ehen und viele Familien zerbrechen. Vielleicht scheitern sie gar nicht an irgendwelchen konkurrierenden Werten, sondern an dem, was uns die alltägliche Praxis in unserer Gesellschaft als „normal“ verkauft, angefangen bei einem ungesunden Lebensrhythmus und den allgegenwärtigen Konsumzwängen, die naiv als „Lebensstandard“ bezeichnet (und mit Lebensqualität verwechselt) werden? Vielleicht scheitern viele Menschen sogar genau daran, dass diese intimen Beziehungen ein solch hoher Wert sind und es nichts anderes gibt, was noch irgendeine Form von Sinn und Erfüllung verspricht – so wie (davon hatten wir es ja die letzten Tage auf diesem Blog) mache christliche Gemeinschaften daran scheitern, dass die Erwartungen zu hoch sind. Also nicht fehlende Werte, sondern ein Mangel an gelebten und erprobten Alternativen?

Share