Der Besuch der Märchenkönigin

Was wäre die Weihnachtszeit ohne Märchenköniginnen und Märchenkönige. Im familientauglichen Fernsehprogramm vertreiben sie uns die Zeit, wenn es draußen nasskalt ist und viel zu früh dunkel wird. Man kennt die Geschichten schon auswendig, und trotzdem – oder genau deshalb? – schauen wir sie immer wieder an. Ein liebgewonnenes Ritual – ganz besonders, wenn alle zusammen auf dem Sofa sitzen.  

Eine neue Variante dieses Festtagsbrauchs hat mich neulich amüsiert. Sie funktioniert so: Die Familie (oder der Freundeskreis) schaut alle drei Sissi-Filme hintereinander an. Jedesmal, wenn das Wort „Majestät“ fällt, erheben sich alle und rufen „lang lebe die Kaiserin“. Und stoßen miteinander an.

Früher war mehr Märchen

Während Sissi, Artus, oder Kleopatra eher um Weihnachten herum Konjunktur haben, ist hier in Bayern das ganze Jahr Märchensaison. Der Märchenkönig überhaupt, Ludwig II. von Bayern, Sissis Cousin, hat sich mit seinen Prachtbauten unauslöschlich in die bayerische Landschaft eingezeichnet. Millionen von Urlaubern bewundern seine Schlösser jedes Jahr. 

Ludwig II. hatte ja ein kompliziertes Verhältnis zur Wirklichkeit. In einer Zeit, in der die Monarchie ihre besten Tage längst hinter sich hatte, überließ er das Tagesgeschäft seinem Personal und strickte an seiner eigenen Legende. Bis ihm das Geld ausging. Denn nicht einmal Könige verfügen über grenzenlosen Reichtum. 

Das mit dem Mythos funktionierte dennoch glänzend: Bis heute ist kein bayerischer Regent, mag er noch so sehnsüchtig davon träumen und noch so viel Geld in den heimischen Sand setzen, auch nur annähernd so bekannt wie Ludwig. „Ein ewiges Rätsel bleiben will ich mir und anderen,“ hat er von sich gesagt. Das ist ihm gelungen wie kaum einem anderen. Sein Tod im Starnberger See unter mysteriösen Umständen hat diesen Mythos endgültig besiegelt.

Heute ist Epiphanias, im Volksmund auch „Dreikönigstag“. Mich erinnert das daran: Königssehnsucht und Königsfrust gibt es nach wie vor. Es gibt sie schon seit biblischen Zeiten. Auch die Bibel erzählt nämlich von einem Märchenkönig – dem König Salomo. Vielleicht lässt sich daraus etwas lernen. Vielleicht entdecke ich hier sogar einen Königsweg?

König Salomo war legendär für die Weisheit, mit der er einen verfahrenen Streit schlichtete, für Reichtum und Luxus, für Weltgewandtheit und – wer hätte das gedacht? – für seine großartigen Bauwerke. Allen voran der Tempel in Jerusalem, Tür an Tür mit dem Königspalast: Thron und Altar, Gott und Regent wie in einer großen Wohngemeinschaft. 

Pomp and Circumstance 

Hätte es das Goldene Blatt schon vor dreitausend Jahren gegeben, er wäre Dauergast auf der Titelseite gewesen. Aber auch die Schreiber am Königshof von Jerusalem sind großartige Geschichtenerzähler. Um ihren Monarchen ins rechte Licht zu rücken, lassen sie die Königin von Saba auftreten. Denn wer kann einen wahren Märchenkönig besser von einem Möchtegern unterscheiden als eine waschechte Märchenkönigin? 

Salomos Ruhm machte den Namen des Herrn bekannt. Die Königin von Saba hörte davon und kam, um Salomo mit Rätseln zu prüfen. Sie kam mit einem gewaltigen Gefolge nach Jerusalem: Kamele trugen Balsam, Gold und Edelstein in unvorstellbar großen Mengen. So kam sie zu Salomo und redete mit ihm über alles, was sie sich vorgenommen hatte. Und Salomo beantwortete alle ihre Fragen. Es gab nichts, was dem König verborgen war. Auf alles fand er eine Antwort. So erkannte die Königin von Saba seine ganze Weisheit. Auch der Palast, den Salomo gebaut hatte, beeindruckte die Königin von Saba. Dazu kamen noch die Speisen an seiner Tafel, die Rangordnung seiner Beamten, das vornehme Auftreten seiner Diener und ihre Kleidung, seine Trinkgefäße und seine Opfergaben, die er im Haus des Herrn darbrachte. Das alles sah sie, und es verschlug ihr den Atem. Da sagte sie zum König: »Es ist wirklich alles wahr, was ich in meinem Land über dich gehört habe. Man spricht von deinen Taten und deiner Weisheit. Ich wollte es nicht glauben, bis ich hierher kam und es mit eigenen Augen sah: Nicht einmal die Hälfte hatte man mir berichtet! Deine Weisheit und dein Wohlstand übertreffen alles, was ich von dir gehört habe.

Die Märchenkönigin zieht in Jerusalem ein mit einer Karawane kostbarster Geschenke. Und sie ist hingerissen von ihrem geistreichen Gesprächspartner, den ihre sorgfältig ersonnenen Rätselfragen nie in Verlegenheit bringen. Salomos Berater werden ihn gut gebrieft haben. Palast und Tempel genügen augenscheinlich allerhöchsten Standards. Und das Personal in dem Land, das zwei Generationen zuvor weder eine Hauptstadt noch einen Königshof hatte, ist makellos gekleidet und zeigt beste Manieren. Salomo besteht die Prüfung mit Bravour: Fünf Sterne für seinen Auftritt, und wenn es zehn gäbe, bekäme er die auch. Er spielt von jetzt an in der Liga der ganz Großen. Und er lässt sich auch bei den Geschenken nicht lumpen: Die Königin von Saba kehrt beladen mit allem, was ihr Herz begehrt, in ihre Heimat zurück. Und mit ihr zieht Salomos Ruhm hinaus in die weite Welt. Pomp and Circumstance, so weit das Auge reicht – eine Supernova am Königshimmel des alten Orients. Und die Erzähler beeilen sich zu erwähnen, dass natürlich auch Gottes Ansehen richtig Auftrieb bekommt durch den Erfolg seines royalen Senkrechtstarters.

Vielsagendes Schweigen

Über eine Sache bin ich beim Lesen der Geschichte gestolpert: Gott, der sich in der Bibel gern selbst zu Wort meldet, bleibt in der Geschichte vom Besuch der Königin eigenartig stumm. Aber warum? Verweist Gottes Schweigen auf das, was bisher nicht erzählt wurde? Auf den Preis, den Salomos Untertanen – denn das sind sie jetzt: Untertanen, keine Landsleute – für seinen Luxus bezahlen?

Auch davon berichtet die Bibel nämlich: Dass Salomo seine Leute schwer mit Frondiensten belastet. Wochenlang sind die erwachsenen Männer auf seinen Landgütern und Baustellen am Schuften und fehlen schmerzlich zuhause, wo sie eine Familie zu ernähren haben. Das Ganze fliegt erst nach Salomos Tod so richtig auf, und prompt wählen zehn von zwölf Stämmen einen neuen Anführer. Salomo ist, als er stirbt, zwar nicht bankrott wie König Ludwig, aber sein Königtum ist moralisch und politisch am Ende.

Die Königin von Saba interessiert sich für diese Schattenseiten nicht. Ihr reicht die fesche Fassade, sie ist wie der Stargast im Luxusresort, der sich nicht darum schert, ob dem Hauspersonal der Mindestlohn bezahlt wird oder welche Umweltstandards hier eingehalten werden. „Wenn die Leute kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“ – der böse Ausspruch wurde verschiedenen europäischen Prinzessinnen nachgesagt, aber die Überheblichkeit, die aus ihm spricht, könnte auch schon viel älter sein. Rückblickend wird klar: Salomos Reichtum beruht auf knallharter und gar nicht märchenhafter Ausbeutung der eigenen Leute. Und er trägt schon den Keim des Zerfalls in sich.

Panik im Palast

Und was hat das Ganze nun mit Weihnachten und dem Kommen Gottes zu tun? Nun, fast tausend Jahre nach Salomo schickt sich wieder einer an, in Salomos Fußstapfen zu treten. Er baut Gott einen neuen, noch viel prächtigeren Tempel in Jerusalem, seine Burgen und Paläste ziehen heute noch ähnlich viele Menschen an wie Bayerns Märchenschlösser. Der Kaiser in Rom schätzt ihn als treuen und spendablen Gefolgsmann. Zugleich ist der Mann, der als „Herodes der Große“ in die Geschichtsbücher eingeht, mehr als nur ein bisschen paranoid. Wer auch nur den Anschein erweckt, an seinem Stuhl zu sägen, den räumt er unbarmherzig aus dem Weg. Da das auch für enge Verwandte gilt, soll Augustus über ihn gesagt haben: „Es ist besser, das Schwein des Herodes als sein Sohn zu sein.“ Weil er seine Entmachtung so sehr fürchtet, macht Herodes zu Lebzeiten kein richtiges Testament. Er lässt alles im Unklaren, und deshalb zerfällt auch sein Reich, als er stirbt. 

Maria, die Mutter Jesu, hat all das schon vor Augen, als sie hört, dass sie ein Kind bekommen soll. „Gott stürzt die Mächtigen vom Thron“, singt sie in ihrem berühmt gewordenen Magnificat.

Noch aber lebt Herodes, und er bekommt überraschend Besuch. Kultivierte Menschen aus einem fernen Land im Orient, und wie die Königin von Saba haben sie Gold und “Spezereien“ – genauer: Weihrauch und Myrrhe – als fürstliche Geschenke im Gepäck. Sie werden bei Hofe empfangen, aber anders als sein Vorgänger Salomo kann Herodes die Frage nicht beantworten, die ihm gestellt wird. Man muss fairerweise dazu sagen, dass es keine der üblichen Rätselfragen war. Sie erwischt ihn eiskalt:

Sie fragten: »Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben seinen Stern im Osten gesehen und sind gekommen, um ihn anzubeten.« Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm alle in Jerusalem.

Panik im Palast, anders kann man es nicht sagen. Herodes setzt sein Pokerface auf und murmelt etwas wie „Ich lass das mal überprüfen und gebe Ihnen Bescheid“. Als die Sterndeuter die Audienz verlassen, holt er alle verfügbaren Berater zusammen. Die Antwort der Schriftgelehrten ist eindeutig: Jemand, der Anspruch auf den Thron Davids erheben könnte, kommt sehr wahrscheinlich aus Bethlehem. Da leben noch Nachkommen und Verwandte. So steht es geschrieben bei den Propheten.

Für Herodes, der zeitlebens damit zu kämpfen hatte, dass er für einen König der Juden keinen standesgemäßen Stammbaum vorweisen konnte, besteht nun Alarmstufe rot. Aber ausländische Zeugen eines politischen Attentats wären schlecht für den angekratzten Ruf. Für den Augenblick bleibt nur List und Lüge. Der Wolf frisst Kreide. Er zeigt sich betont erfreut und kooperativ:

Später rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich. Er erkundigte sich bei ihnen genau nach der Zeit, wann der Stern erschienen war. Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: »Geht und sucht überall nach dem Kind! Wenn ihr es findet, gebt mir Bescheid! Dann will auch ich kommen und es anbeten.«

Und so ziehen die Sterndeuter los. Nirgendwo steht in der Bibel übrigens, dass es drei sind. Es können zwei oder zwölf oder zwanzig gewesen sein. Unmissverständlich schreibt der Evangelist Matthäus freilich auch: Sie sind keine Könige, sondern Gelehrte. In einer Zeit, in der Politiker sich gern über Forscherinnen hinwegsetzen, wenn ihnen die Fragen und Ergebnisse nicht in den Kram passen, ist das auch eine Erwähnung wert: Manchmal schickt Gott Wissenschaftler – Leute, die genau hinschauen und sagen, was wirklich ist, und die dafür Strapazen auf sich nehmen und weite Wege zurücklegen. 

Bethlehem – wo sonst?

Bis Bethlehem sind es nur noch ein paar Kilometer. Als sie ankommen, steht der Stern schon über einem der Häuser. Ich bin gestern Abend mal rausgegangen und habe versucht zu sehen, welcher Stern über welchem Haus steht. Es wird Sie nicht überraschen, liebe Hörerinnen und Hörer, dass ich gescheitert bin. Und als ich es zwei Stunden später noch einmal versuchen wollte, standen die Sterne schon wieder wo anders. 

Aber ich bin ja auch kein Sterndeuter aus dem alten Persien. Die führt der Stern sicher ans Ziel. Gut, vielleicht hat auch der Rat der schriftkundigen Kollegen aus Jerusalem geholfen; und natürlich war es damals in Bethlehem viel leichter, jemanden zu finden, als in unseren Großstädten heute. Sie kommen an, und jetzt müssen wir schon wieder unsere folkloristisch übermalten Bilder von Weihnachten korrigieren: Es gibt hier keinen Stall, keinen Engeleinchor und keine Tiere; die Weisen stehen vor einem richtigen Haus. Das bescheidene Ambiente mag unerwartet gewesen sein, aber jetzt zögern sie keine Sekunde:

Als sie den Stern sahen, waren sie außer sich vor Freude. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter. Sie warfen sich vor ihm nieder und beteten es an. Dann holten sie ihre Schätze hervor und gaben ihm Geschenke: Gold, Weihrauch und Myrrhe.

Und dann kommt der Moment, in dem Gott spricht. Keine donnernde Stimme vom Himmel, sondern ganz leise durch einen Traum. Da sind die üblichen Filter meines Alltagsbewusstseins ausgeschaltet. Ahnungen, Wünsche und Sehnsüchte werden im Traum zum Leben erweckt. Und ich habe die Freiheit, mir am Morgen die Augen zu reiben und den Kopf zu schütteln und alles wieder zu vergessen. Aber die weisen Frauen und Männer in der Bibel haben ein Gespür dafür, wenn Gott ihnen einen Traum schickt. Wie das wohl war: Haben alle Sterndeuter dasselbe geträumt? Oder hat einer die anderen überzeugt? Jedenfalls verabschieden sie sich leise aus Bethlehem und machen auf ihrem Rückweg einen weiten Bogen um Jerusalem. Der Königsweg führt nicht wieder zu Herodes. 

Jetzt wird auch klar, warum es Bethlehem sein musste: In Jerusalem scheitert das Königtum gerade zum wiederholten Mal – an seinem Größenwahn, an seinem Hang zur Gewalt, an seiner Paranoia. In Bethlehem, so erzählt es die Bibel, hat Gott schon einmal einen Jungen, dem niemand etwas zutraute, zum Antikönig gemacht: Nämlich David, von dem  – Ironie der Geschichte! – Salomo sein großes Reich geerbt hatte Und jetzt wird hier in Bethlehem das Ende der Mörder- und Märchenkönige besiegelt. Pomp und Überheblichkeit müssen draußen bleiben. 

Er kam nicht, um uns einzuschüchtern, zu verurteilen oder von oben herab zu behandeln. Nicht um uns seine Knechte zu nennen, sondern um uns als Freunde an seiner Seite zu haben. Ein für allemal, als Gott Mensch wurde“.

So heißt es im Christmas Song von Don Francisco…

Diese, die ursprüngliche Weihnachtsgeschichte schärft meinen Blick für das, was Märchenköniginnen und -könige gern ausblenden und verschleiern: Ungleiche und ungerechte Machtverhältnisse, von denen die Welt erlöst werden muss, wenn sie nicht mit ihren Despoten untergehen soll. Der neugeborene Messias wird später alle Hoheitstitel zurückweisen, außer dem einen, der ihn mit uns allen verbindet: „Menschensohn“.

Ich staune zugleich, wie stark die Königssehnsucht trotzdem noch ist. Schon nach wenigen Jahrhunderten wurden aus den biblischen Weisen die „Heiligen Drei Könige“. Als nächstes nahm man dem Heiligen Nikolaus den Sack mit Süßigkeiten und Spielsachen für die Kinder weg und drückte ihn dem Christkind in die Hand. Und noch etwas später kamen immer mehr dekorative Elemente dazu wie Schnee, Rentiere mit roten Nasen, Tannenbäume und goldene Lichtlein.

Bei Kindern ist das ja sehr charmant und liebenswert, wenn sie sämtliche Lieblingsfiguren um die Krippe herum aufstellen, bis man Mutter und Kind kaum noch sieht im Gedränge. Wären da halt nicht jene verbissenen Erwachsenen, die jedem, der etwas von dem üppigen Beiwerk weglässt, einen „Krieg gegen Weihnachten“ andichten. Dieses Jahr traf es eine Kita in Hamburg – die nicht etwa Weihnachten abschaffte, sondern lediglich auf den Baum verzichtete. Ohne Skrupel treten diese Platzhirsche in Medien und Politik eine Lawine von Hassbotschaften und Drohungen über die arglosen Eltern und Erzieher:innen los – alles im Namen der Märchenweihnacht. Was würden die Weisen, was würde Maria dazu sagen, dass unser „Weihnachten“ Kulturgrenzen nicht mehr durchlässig macht, sondern oft noch vermint?

Im Evangelium von den Weisen blitzt nämlich eine andere Welt auf. Eine Welt, die wir mehr denn je brauchen: In der junge Mütter voller Hoffnung in die Zukunft ihrer Kinder schauen, in der Soldaten ins Leere laufen, in der die Rechte der Wehrlosen gewahrt und in der die Fragen von Fremden und die kritischen Stimmen ein offenes Ohr finden.

Und in der Gott zu seinen Leuten redet und sie auf überraschende Wege schickt. Königswege. Ohne allen Pomp, auf den ersten Blick gänzlich unscheinbar, aber voll großer Freude mitten in der herben Wirklichkeit. Auch heute noch zum Niederknien schön.

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Ist Freundschaft uns Wurst?

„Gemüse vom Grill? Und ich dachte, wir sind Freunde!“ So steht es auf einem Plakat, das nicht etwa für eine Metzgerei, sondern für Zigaretten wirbt. Und ich wundere mich: Liebe Raucher, wo ist denn Eure Lässigkeit geblieben? Früher wart Ihr mal entspannt (oder habt so getan); und jetzt geht’s anscheinend immer und überall gleich um die Wurst?

Was ist bloß mit uns passiert, wenn Freundschaften nur noch fleischbasiert funktionieren oder – das wäre der Umkehrschluss, den mir das Plakat unterjubeln möchte – auf der Grundlage gemeinsam genossenen Gemüses? Das antiquierte „Bratkartoffelverhältnis“ wäre auf dem Weg zu ganz neuer Relevanz!

Photo by Bruno Kelzer on Unsplash

Wie viele Gemeinsamkeiten braucht eine Freundschaft? Wie viele Unterschiede halte ich selber aus, bis ich jemanden „entfreunde“, ihr oder ihm aus dem Weg gehe, mich nicht mehr melde? Können wir Differenzen nicht mehr so gut aushalten wie früher oder wollen wir uns die Mühe einfach nicht mehr machen? Freundschaft unter Vorbehalt braucht kein Mensch.

„Liebe Deinen Nächsten“, so lautet die Zumutung Gottes an mich. Nächste, nicht Gleichgesinnte: Diese eine Person, mit der ich es hier und jetzt zu tun habe. Auch wenn uns kulturelle und kulinarische Welten trennen. Dabei auf die Liebe zu setzen – freundlich, zuvorkommend, großzügig und verletzlich zu bleiben – birgt eine Gewinnchance: Sie könnte erwidert werden. 

Und dann wäre es ganz egal, dass heute Gemüse auf den Tisch kommt, an dem ich geliebter Gast bin.

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Tonis Tattoo

Im Radio höre ich ein Interview mit dem Fußballer Toni Kroos. Das Gespräch kommt irgendwann auf die vielen Tätowierungen an seinem Körper. Kroos erklärt, dass er sich für jedes seiner Kinder ein Tattoo stechen ließ. Für das nächste sei auch schon ein Platz vorgesehen.

Photo by Julia Giacomini on Unsplash

Ich bin jetzt nicht so der Tattoo-Typ, aber die Geschichte geht mir aus einem anderen Grund nach: Manchmal fühlen sich Menschen von Gott vergessen, wenn sie schwere Zeiten durchmachen. In eine solche Situation hinein spricht Gott in der Bibel einmal folgenden Satz:

Kann Mutter ihr Kind vergessen? Und selbst wenn sie es vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.

Jesaja 49,15

Anders gesagt: Auch Gott trägt Tattoos mit den Namen/Gesichtern der Seinen. Er kann das nicht einfach abstreifen oder ausradieren. Wir stellen uns Gott ja eher körperlos vor, aber in der Bibel ist immer wieder von seinen Händen, seinem Arm oder seinem Gesicht die Rede. Ein Gott also, der zupackt. Der hinschaut. Und der nicht schweigt.

Was für eine gewagte Vorstellung: Wie eine Mutter nicht aufhört, ihre Kinder mit sich herumzutragen, bloß weil die inzwischen selber laufen können oder ausgezogen sind, so trägt Gott uns mit sich herum – eintätowiert in seine Schöpferhände.

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Das ist doch nicht normal!

Feierabend. Ich radle flott durch die Innenstadt nach Hause. Ein weißer BMW parkt mitten auf dem Radweg und zwingt mich zu einer Vollbremsung. Ich weiche lieber nicht auf die Fahrbahn aus, sondern zwänge mich vorsichtig auf dem Fußweg vorbei. Der Fahrer sitzt im Wagen, das Fenster ist offen. Ich spreche ihn an und bitte ihn freundlich, sich einen anderen Parkplatz zu suchen.

Photo by AbsolutVision on Unsplash

Statt sich zu entschuldigen, wird der Mann am Steuer wütend. „Das ist doch nicht normal!“ schreit er mir von seinem Sportsitz entgegen, und dass er ja sowieso nur kurz… Ich habe keine Lust, mit ihm zu streiten. Offenbar ist es für ihn normal, Radwege als Parkstreifen zu nutzen. Für andere ist es normal, den Hund sein Häufchen in den Park setzen zu lassen, Zigarettenkippen am Bahnhof ins Gleisbett zu schnippen oder sexistische Sprüche zu klopfen.

Unsere Normalität kann ziemlich problematisch sein. Deshalb ändern sich manchmal die Regeln. Privilegien fallen weg. „Normal“ ist plötzlich nicht mehr normal. 

Was gilt noch, wenn sich alles ändert? Die „goldene Regel“ aus der Bibel hilft mir: Gehe mit anderen so um, wie du es dir selber auch wünschst. Wenn ich mich in andere, vor allem Schwächere, hineinversetze – Fußgänger, Kinder, Fremde, alte Menschen – dann werde ich Rücksichtslosigkeit auch da nicht „normal“ finden, wo die Gesellschaft noch ein Auge zudrückt.

Wer’s lieber hört, kommt hier auf seine Kosten

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Die Gewitterbrille

Meine Frau ist mit dem Fahrrad unterwegs zu einer Freundin. Auf halber Strecke sieht sie, dass sich am Himmel rabenschwarze Wolken auftürmen. „Oh, da braut sich ein Unwetter zusammen, und ich fahre genau darauf zu“, denkt sie. Weil sie keine Regensachen dabei hat, dreht sie vorsichtshalber um und sagt der Freundin für heute ab. 

Zuhause angekommen stellt sie fest, dass sie die ganze Zeit ihre Sonnenbrille auf hatte, und nimmt sie ab. Ohne dunkle Gläser sehen die finsteren Wolken plötzlich ganz harmlos aus. Aber es ist inzwischen zu spät, um noch einmal loszuziehen. Wir lachen gemeinsam über ihren gescheiterten Ausflug.

Photo by Katarzyna Kos on Unsplash

Manchmal begegnen mir Menschen, die in harmlosen Situationen schon schwarz sehen. Ich frage mich dann, was es wohl braucht, damit sie ihre mentale Gewitterbrille abnehmen. Sie müssen sie ja nicht gleich gegen eine rosafarbene eintauschen. Den größten Gewinn hätten sie dabei selber: Weniger Sorgen, keine unnötigen Rückzieher. Mehr Zeit mit Freunden, mehr gute Momente auf Gottes Erde.

Ein Weg dahin, die getrübte innere Optik zu korrigieren, ist die Dankbarkeit. Sonntags lasse ich die Lichtblicke der letzten Woche Revue passieren: War war gut? Was ist mir (oder uns!) gelungen? Was habe ich neu gelernt? Worüber habe ich mich gefreut? 

So eine Dankbarkeitsbrille ist übrigens völlig ungefährlich, sagt meine Frau…

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