Solidarisches Seufzen: Von Walen, Wehen und dem Schmerz der Welt

Es gibt wenige Texte aus der Bibel, die mir mehr bedeuten und mich öfter beschäftigen als das achte Kapitel des Römerbriefes, und immer öfter der Mittelteil vom Seufzen der Kreatur. Das ist der Predigttext übermorgen, am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, und diesmal habe ich die Evangelische Morgenfeier im BR dazu vorbereitet. In dieser Blogfassung sind ein paar Dinge etwas ausführlicher möglich als in der Sendefassung

Jetzt, im November, wenn es früh dunkel wird und das letzte bunte Laub von den Bäumen fällt, schüttele ich die Traurigkeit nicht mehr so leicht ab wie sonst. Nicht nur persönlicher Kummer meldet sich, auch all der Kummer, den ich von anderen mitbekomme. Dann tut es gut, zu spüren: Ich bin nicht der einzige, der seufzt oder sich eine Träne abwischt. Und auch wenn ich für die Traurigkeit keine Worte finde, bin ich nicht allein – sondern umgeben von einer Welt voller mitfühlender Wesen.

Talequah ist ein weiblicher Orca-Wal. Ihre Schule (so heißt ein Familienverband bei Walen und Delfinen) lebt im nördlichen Pazifik, vor den Hafenmetropolen Seattle und Vancouver. Meeresbiologen, die die Walpopulation dort beobachten, sagen: Seit Jahren hat dort kein Jungtier mehr überlebt. Das Meerwasser ist zu verschmutzt und der Fischbestand zu stark geschrumpft. 

Dann aber, am 24. Juli 2018, bringt Talequah eine Tochter zu Welt. Es gibt wieder Hoffnung für die kinderlose Schwertwal-Sippe.

Die Freude ist jedoch nur von kurzer Dauer. Das Kalb stirbt nach wenigen Stunden. In den folgenden 17 Tagen und über eine Strecke von über 1.500 Kilometern trägt die Mutter ihr totes Baby auf ihrem Körper. Wenn es abrutscht, taucht sie ihm nach und bringt es zurück an die Oberfläche. Als hofft sie immer noch, das Kalb werde irgendwann wieder anfangen zu atmen. Es dauert bis sie schließlich so weit ist, dass sie das Kleine loslassen kann. Die Forscherinnen beobachten sie mit einer Mischung aus Ergriffenheit und Erstaunen. Wir Menschen sind nicht die einzigen Wesen, die trauern – und nicht die einzigen, die lieben. Denn Trauer gibt es nur da, wo auch Liebe ist. 

Wie in der Liebe versagen auch in der Trauer manchmal die Worte, und es bleibt nur ein Seufzen. Wenn der Apostel Paulus, der ja viel auf dem Meer unterwegs war, die Geschichte von Talequah gehört hätte, hätte er sich vielleicht an seine Worte aus dem Brief an die Römer erinnert:

Wir wissen ja: Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz wie in Geburtswehen – bis heute. Und nicht nur sie: Uns geht es genauso! Wir haben zwar schon als Vorschuss den Geist Gottes empfangen. Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Innern.

Unheilbarer Weltschmerz

Es scheint, als hätte Paulus Ohren für die Klage und das Leid unserer Mitgeschöpfe gehabt. Und darin eine Verbindung zu seinem eigenen Schmerz entdeckt. Hören und Sehen ist ja immer „Hören und Sehen als“: Die einen hören den Ruf einer Möwe als störenden Lärm, für andere ist es der Klang der Sehnsucht nach dem weiten Meer und fernen Ländern. Die einen sehen eine Sternschnuppe als hellen Streifen am Himmel, für die anderen ist es ein zauberhafter Augenblick voller Verheißung.  

Es hängt alles davon ab, wie ich hinsehe und hinhöre, und was die Bilder und Töne in mir zum Klingen bringen. Die Schriftstellerin P.D. James beschreibt das, indem sie ihren Protagonisten Adam Dalgliesh an die Küste Cornwalls schickt. Wo manch anderer nur die Brandung hören würde, begegnet der feinsinnige Detektiv dem Seufzen der Kreatur:

„Er lauschte, und zwar nicht so, dass er auf das rhythmische Schlagen der Wellen gegen den unnachgiebigen Granit achtete. Er ließ den unaufhörlichen Klang in die tiefen Schichten seines Bewusstseins, wo er zu einer ewigen Klage über den unheilbaren Schmerz der Welt wurde.“

Ich lebe nicht am Meer, aber manchmal spüre ich etwas ähnliches. Ich gehe gern in den Wald, und ganz besonders, wenn ich traurig bin oder angespannt und gestresst. Umgeben vom Grün der Bäume, Gräser und Moose, geborgen unter dem schattigen Kronendach und abseits vom Lärm der Zivilisation kann ich in der frischen Waldluft unbedrängt durchatmen. Die Aufregung legt sich und der Kopf wird wieder etwas freier. Leider hat das in den letzten fünf Jahren nicht mehr gut funktioniert. Immer öfter kam ich traurig und niedergeschlagen zurück. Die meisten Bäume sind vor Hitze und Dürre krank geworden, viele sind abgestorben. Im Frankenwald waren es dieses Frühjahr ein Viertel aller Bäume. Unwetter haben andernorts fußballfeldgroße Löcher in den Wald gerissen. Die Forstwege sind zerfurcht von den Maschinen, die Berge von Totholz abtransportieren müssen.

Das ist nicht mehr der Wald, den ich kenne. Es tut mir fast körperlich weh, die tiefen Wunden in der Natur zu betrachten. Wenn ich meine Sehnsuchtsorte nicht mehr wiedererkenne, dann ist das eine Art psychischer Kahlschlag. Dafür gibt es seit einigen Jahren den Begriff „Solastalgie“. Das heißt so viel wie: Leiden an der Trostlosigkeit. Als wäre der Freund, der mir immer geduldig zugehört und mich getröstet hatte, nun selber sterbenskrank und verzweifelt.  Immer wieder einmal hat der Wald mit mir geseufzt. Jetzt seufze ich mit dem Wald, und das geht in Ordnung.

Wenn nur das Seufzen bleibt

„Uns geht es genauso!“, schreibt Paulus. Damals wie heute versuchen Menschen, ihre tiefe Erfahrung von Schmerz und Verbundenheit auszudrücken. Manchmal reicht es nur für ein tiefes Seufzen. 

Andere singen von ihrer Trauer, zum Beispiel die Musikerin LeAnn Rimes in „Throw my arms around the world“: „Ich lege meinen Bauch auf den Boden, drücke mein Ohr auf die Erde, ich kann hören, wie sie innerlich weint, dass sie einfach nie, nie gehört wird. […] Ich möchte die Welt in meine Arme schließen, vielleicht kann ich sie ins Leben zurück lieben.“

Ich denke noch einmal zurück an die Walmutter. Talequahs Schmerz ist vermutlich nicht nur die Trauer über das verlorene Kalb, sondern auch darüber, dass ihre Sippe dort, wo sie lebt, keine Zukunft mehr hat. So etwas spüren Wale tatsächlich! Anders als noch zu Paulus’ Zeiten sind wir Menschen es, die uns und anderen Lebewesen solchen Schaden zufügen, indem wir das Wasser und die Luft verschmutzen und vergiften. Im Lärm unserer Schiffe und Flugzeuge, unserer Kraftwerke und Fabriken, unserer Dauerberieselung mit Musik und Nachrichten, geht das leise Seufzen der Kreatur so leicht unter. Parallel dazu haben immer mehr Menschen Mühe, sich selbst noch zu spüren. Kein Wunder, würde Paulus sagen, es hängt ja beides zusammen. Weil wir taub geworden sind für andere Geschöpfe, nehmen wir auch die leisen Signale der eigenen Seele nicht mehr wahr. Die äußere und die innere Verwüstung gehen Hand in Hand.

Womöglich hätten wir alle etwas weniger Grund zum Seufzen und Stöhnen, wenn wir fremdem Leid gegenüber kein so dickes Fell hätten. Aber wenn unsere Gesellschaft die leisen Töne so meisterlich verdrängt, müsste die Schöpfung da nicht lauter und nachdrücklicher auftreten? Bernhard Pötter schreibt in einem Kommentar für die taz:

»Wenn sie krachen, stinken und raufen würden, wenn sie auf der Straße Autoreifen anzünden und ihre Wut rausschreien würden, wenn sich die Moore mit der Polizei prügeln würden und das Wasser im Wasserwerfer streiken würde. Wenn wir mit Wäldern, Seegraswiesen und Mittelgebirgen Tarifverhandlungen führen müssten und uns über ihre unverschämten Forderungen ärgern könnten – es wäre eine bessere Welt. Wenn die Natur endlich mal das Maul aufreißen würde – vielleicht würden wir dann endlich das Gras wachsen hören.«

Aber vielleicht geschieht das ja gerade? Seit einiger Zeit rempeln Schwertwale in der Straße von Gibraltar immer wieder Segelyachten an. Vorsätzlich, wie es scheint. Manche Boote waren danach manövrierunfähig. In den sozialen Medien wurde das als „Orca-Aufstand“ regelrecht gefeiert. Ist es nur ein ruppiges Spiel, oder haben die Tiere womöglich verstanden, wer für den Lärm und Schmutz in ihrem Zuhause verantwortlich ist, und reagieren nun entsprechend? Und selbst wenn wir Menschen nur unser eigenes schlechtes Gewissen in das Verhalten der Wale hineinlesen – steht dahinter vielleicht die Einsicht, dass wir den Anstoß und die Unterstützung unserer Mitgeschöpfe brauchen, um das Schlimmste für uns selbst und andere zu verhindern?

Mein neues Wir-Gefühl

In letzter Zeit habe ich öfter mit den Tieren im Garten gesprochen. Den Eichhörnchen, die sich bis auf zwei Meter herangewagt haben. Den Meisen, Amseln und Rotkehlchen. Den gewitzten Krähen, die Nüsse knacken, indem sie sie aus einigen Metern Höhe auf den Asphalt meiner Straße fallen lassen. Ich weiß schon, dass sie den Inhalt meiner Worte nicht verstehen. Aber vielleicht verstehen sie ja, dass ich mit ihnen rede: Dass sie für mich ein Gegenüber sind, auch wenn sie keine Haustiere sind, bei denen wir das alle tun.

Kürzlich kam ich an einem Baum vorbei, dem jemand ein Schild umgehängt hatte. Darauf steht: „Ich mach Dir Luft.“ Ich fand es schön, dass hier „Ich“ und „Dir“ stand und nicht: „Bäume produzieren Sauerstoff“ oder etwas ähnlich Objektivierend-Belehrendes. Ein Gespräch habe ich mit dem Baum zwar nicht angefangen, aber ich habe ihn als Verbündeten empfunden. Solche Begegnungen persönlich zu nehmen und mich von der fürsorglichen Nähe meiner Mitgeschöpfe berühren zu lassen, weckt in mir ein neues Wir-Gefühl. Und dann fühle ich mich schon ein bisschen weniger einsam und verloren.

Ein solch geschwisterliches Verhältnis zu den Mitgeschöpfen kennen wir auch von Franziskus von Assisi. Der hob Raupen und Würmer vom Weg auf, damit sie nicht zertreten werden. Er ließ hungrige Bienen im Winter mit Süßwein füttern und wies den Klostergärtner an, um die Beete herum genug Platz zu lassen für Wildkräuter, weil die auf ihre Art von der Schönheit des Vaters aller Dinge erzählen.

Wie verletzlich wir doch sind

Paulus musste sich vor 2.000 Jahren noch keine Gedanken machen über Umweltkatastrophen, Kipppunkte und Artensterben. Für ihn bezieht sich das Seufzen der Schöpfung auf die Vergänglichkeit. Vergänglichkeit, das heißt: Als Mensch bin ich – wie alle Geschöpfe – nicht einfach nur endlich und sterblich, sondern auch schon mitten im Leben ungeheuer verletzlich an Leib und Seele. Ich ahne, dass mich Krankheiten, Unfälle, veränderte Lebensumstände jederzeit aus der Bahn werfen können. Und so wirft es einen Schatten auf mein Leben jetzt und alle unverdient glücklichen Momente darin, wenn ich lese und höre, was anderen denkenden und fühlenden Wesen Furchtbares zustößt.  

Das Leid da draußen, nah oder fern, erzeugt ein Echo tief in meinem Inneren. Dabei schwingt nicht nur die Erinnerung an das Schwere mit, das ich schon erlebt habe, sondern auch eine Ahnung davon, was alles noch geschehen könnte. Was noch möglich ist, weil es gerade tausendfach anderen passiert, die ja auch nichts dafür können. Und deswegen ist dieses fremde Leid gar nicht nur fremd, sondern irgendwie auch mein eigenes; selbst wenn es bisher nicht eingetreten ist und das vielleicht auch niemals wird. 

Dieses Bewusstsein meiner Verletzlichkeit, meiner Vergänglichkeit kann mich ganz schön verunsichern. Darf, ja soll ich mich dem stellen, oder macht – wie beim sprichwörtlichen Kaninchen vor der Schlange – das Hinschauen alles noch schlimmer? Was rettet mich vor der drohenden Resignation und Verzweiflung? Was hilft? Oder gibt es gar keinen Ausweg? Bleibt es beim ewigen Seufzen?

Für Paulus scheint schon in der angespannten Sehnsucht danach, dass Vergänglichkeit und Tod überwunden werden, ein Funke Hoffnung zu stecken:

Die ganze Schöpfung wartet doch sehnsüchtig darauf, dass Gott die Herrlichkeit seiner Kinder offenbart. Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen – allerdings nicht durch eigene Schuld. Vielmehr hat Gott es so bestimmt. Damit ist aber eine Hoffnung verbunden: Denn auch die Schöpfung wird befreit werden aus der Sklaverei der Vergänglichkeit. Sie wird ebenfalls zu der Freiheit kommen, die Gottes Kinder in der Herrlichkeit erwartet.

Seufzen und Hoffen, Schmerzen und neues Leben gehören offenbar eng zueinander. Das ist vielleicht der Grund, warum Paulus zu Anfang des Textes, den wir heute gehört haben, von Geburtswehen spricht: Auf den ersten Blick ein etwas gewöhnungsbedürftiger Vergleich, aber es stimmt schon:

Die Wehen sind voller Schmerz und gleichzeitig voller Hoffnung, dass der Schmerz überwunden und das neue Leben in all seiner kleinen, schrumpeligen Baby-Herrlichkeit sichtbar wird!

Diese Geburtswehen von Gottes neuer Welt betreffen Frauen und Männer. Sie aus der Perspektive der werdenden Mutter zu sehen hilft mir, unter Schmerz durchzuhalten. Das rettet mich vor Verzweiflung und hält den Fluchtreflex im Zaum. 

Der Vergleich mit der Geburt hilft zum einen, weil er den Blick über den momentanen, akuten Schmerz hinaus richtet. Aber er erinnert mich auch an das, was wir selbst erlebt haben und was mir andere Eltern oft erzählt haben: Wenn die Schmerzen irgendwann kaum noch auszuhalten sind, hilft nur noch eines: Dass der Mutter jemand die Hand hält und sie spüren lässt: Ich bin da und weiche nicht von deiner Seite, bis alles durchgestanden ist.

Gekommen, um zu bleiben

Wenn Paulus von den Geburtswehen spricht, dann ist da auch jemand, der sagt: „Ich bin da und weiche nicht vin deiner Seite“ – Gott!

Auf dieses „ich bin da“ Gottes gründet sich für Paulus die Hoffnung der Menschen. In Jesus von Nazareth ist Gott Teil seiner seufzenden Welt geworden. Er ist gekommen, um zu bleiben, bis alles gut ist. Und im Heiligen Geist bleibt er bei jeder und jedem einzelnen. So, wie Jesus bis hin zum Tod am Kreuz das Leid und die Dunkelheit der Menschen geteilt hat, so tut er es jetzt durch den Geist. Und diese bleibende Anwesenheit Gottes im Schmerz enthält das Versprechen, dass Schmerz und Leid ein Ende finden. Er schließt die Welt in seine Arme und liebt sie zurück ins Leben. Paulus sagt es fast ein bisschen trotzig:

Ich bin überzeugt: Das Leid, das wir gegenwärtig erleben, steht in keinem Verhältnis zu der Herrlichkeit, die uns erwartet. Gott wird sie an uns offenbar machen.

Und allen, die sich lieber heraushalten und nicht in Mitleidenschaft ziehen lassen wollen, die das zähe Warten und die Härten einer aus den Fugen geratenen Welt lieber auslassen oder überspringen würden, hält er entgegen:

Denn wir sind zwar gerettet, aber noch ist alles erst Hoffnung. Und eine Hoffnung, die wir schon erfüllt sehen, ist keine Hoffnung mehr. Wer hofft schließlich auf das, was er schon vor sich sieht? Wir aber hoffen auf etwas, das wir noch nicht sehen. Darum müssen wir geduldig warten.

Diesen Gedankengang des Paulus hat wohl auch P.D. James verstanden. Ihre Romanfigur Adam Dalgliesh ist nicht nur Polizist, sondern auch Poet. Er hört nicht nur das Seufzen der Kreatur im Meeresrauschen, er sieht auch den Schmerz im Licht der Liebe:

„Die Welt ist ein wunderbarer und schrecklicher Ort. Gräueltaten werden jede Minute verübt, und am Ende sterben jene, die wir lieben. Wenn die Schreie aller Lebewesen auf der Erde ein einziger Schmerzensschrei wären, würde das gewiss die Sterne erschüttern. Aber wir haben die Liebe. Sie mag nur ein zerbrechlicher Schutz gegen die Schrecken der Welt sein, aber wir müssen sie festhalten und an sie glauben, denn sie ist alles, was wir haben.“

Warten, ausharren, und ab und zu ein Seufzen: Wenn ich die Liebe nicht verlieren will, muss ich den Schmerz zulassen. Auch den Schmerz der anderen. Aber ich kann das auch, ohne daran zu zerbrechen. Denn Liebe und Schmerz verbinden mich mit all den anderen Geschöpfen – und mit dem Schöpfer selbst. Der hört nicht nur mein Seufzen, er seufzt mit mir, weil es auch ihm nahegeht. Ganz anders als manche Zeitgenossen nimmt er nämlich eigenen Schmerz nicht zum Anlass, anderen bedenkenlos Schmerz zuzufügen. Im Gegenteil: Er trägt meinen Schmerz mit, aus freien Stücken – ein solidarisches Seufzen.

Eines unserer Kinder kam, als es noch klein war, öfters nachts zu uns ins Schlafzimmer. Ein schlechter Traum, ein lautes Geräusch oder irgendwas anderes hatten es aus dem Schlaf gerissen. Ich erkannte schon am Klang der Schritte, wer da neben meinem Bett stand. Manchmal hielt ich dann still und hoffte, meine Frau würde wach. Und manchmal war es umgekehrt.

Da stand nun der Zwerg und brauchte einen von uns. Gleichzeitig wollte er uns aber nicht aufwecken und womöglich schlechte Laune riskieren. Er löste das Dilemma, indem er ganz tief schnaufte. Und wenn das Schnaufen noch nicht reichte, hängte er nach ein paar Versuchen einen kleinen Seufzer dran. Damit hatte er dann eigentlich immer Erfolg, und zugleich waren wir Eltern immer ein bisschen gerührt, wie schonend wir geweckt wurden.

So ähnlich stelle ich mir Gottes mütterlich-väterliche Liebe vor. Sie ist für den Augenblick alles, was wir haben. Und sie ist gekommen, um zu bleiben. Unter allen Umständen. Während wir schnaufen und seufzen. Bis schließlich und endlich alles gut ist in der Welt. Für alle Geschöpfe Gottes: Wale, Wald, uns Menschen – und die Amsel, die mitten in der Nacht übt, mit ihren lädierten Flügeln wieder loszufliegen. 

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Echt bayerisch…

Es war vor der Wahl, als noch an jeder Straßenecke das Konterfei des Ministerpräsidenten prangte. Ich ging kurz hinter der Grenze zu Oberbayern einen Kaffee trinken. Auf der Serviette der Bäckereifiliale las ich: „Echt bayerisch – echt gut“.

Mag sein, dass ich noch den Wahlkampf in den Ohren hatte, der von Regierungsseite praktisch ohne Sachthemen auskam und sich strikt an das Motto „Bayern ist schön und die Grünen sind böse“ hielt. Was außer den Grünen auch niemand im Freistaat störte.

Jedenfalls stieß mir diese nicht so ganz stillschweigende Gleichsetzung von Bayern und gut sauer auf. Dieses andauernde Sich-Selbst-auf-die-Schulter-Klopfen. Diese bornierte Selbstzufriedenheit und die latente Fremdenfeindlichkeit, die aus dieser Verknüpfung spricht. Nein, nicht immer und in jedem Fall, aber eben viel zu oft.

Eine Woche nach der Wahl sitze ich im Zug nach Erlangen, um einen Krankenbesuch zu machen. Ein paar Plätze weiter sitzen ein paar junge Männer um die 20, die in einer fremden Sprache Handyvideos anschauen. Weil die Lautstärke unnötig hoch ist, drehe ich mich zu ihnen um und frage vorsichtig, ob sie das auch mit Kopfhörer tun könnten. Die zwei entschuldigen sich und hören leise weiter.

Wenn das einmal geklappt hat, klappt es bestimmt nochmal, denke ich im Regionalexpress auf der Rückfahrt. Da sitzen wieder junge Männer, diesmal etwa zehn von ihnen. Ihr Dialekt weist sie unverkennbar als Bewohner eines östlich angrenzenden Regierungsbezirks aus. Sie reden, nein rufen, wild durcheinander, und weil niemand den anderen richtig ausreden lässt, steigt der Geräuschpegel ins Unerträgliche. Ich gehe hin und bitte den ersten aus der Runde, zu dem ich Blickkontakt bekomme, freundlich und behutsam darum, die Konversation etwas leiser fortzusetzen.

Das hätte ich mal lieber bleiben lassen. Ungläubiges Staunen schlägt mir entgegen. Die Gruppe verstummt kurzzeitig, um dann in um so lautstarkere Empörung auszubrechen, was mir denn einfiele, welche Unverschämtheit und so weiter. Die nächsten zehn Minuten haben sie kein anderes Gesprächsthema als diesen Affront. Ich sitze längst wieder an meinem Platz, aber natürlich höre ich (und alle anderen Mitreisenden), wie sie sich über den Idioten ereifern, der ihnen Vorschriften machen will. Sie erklären einander, dass sie ja eigentlich friedliche Menschen sind, . Und wenn sie in meine Richtung reden, tun sie es extra laut.

Die Knaben sind (wenigstens äußerlich betrachtet) längst keine Halbstarken mehr, und ganz offensichtlich der Überzeugung, dass sie die Guten sind. Sie sind halt auch Bayern. Das kann jetzt natürlich ein Zufall gewesen sein. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass dieses Geklopfe auf die eigene Schulter uns gerade gar nicht gut tut.

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Teuflische Topographie

Vor ein paar Wochen war ich mit meiner Tochter in den Bergen, am Teufelstättkopf. Es war eine wunderschöne Tagestour. Aber sie warf bei mir die Frage auf, warum Teufel & Co so oft Pate stehen, wenn markante Orte benannt werden. Die größte Tropfsteinhöhle der Frankenalb hat man „Teufelshöhle“ genannt. Da spielte offenbar der (Aber)glaube eine Rolle. Die Leute fragten sich: Könnte das große Loch der Eingang zur Unterwelt sein? So, wie man auch Geister in den Nebelschwaden vermutete, die im Novemberwind um schroffe Berggipfel tanzen.

Manchmal war es aber auch die Lust am Fabulieren. Ein Sandstein-Geotop im nahen Reichswald soll sich der Teufel gekrallt haben, um es nach einem wohltätigen und frommen Adelsfräulein zu werfen. Aber das Gebet der Angegriffenen durchkreuzte die böse Absicht. Heute erinnert ein Schild der Bayerischen Staatsforsten GmbH an die Legende. Ach, und  „Teufelstische“ sind mir im Bayerischen Wald wie auch im Pfälzer Wald begegnet, aber ganz bestimmt gibt es viele, die ich noch nicht kenne.

Früher war vielleicht auch schwarze Pädagogik im Spiel: Kinder und vorwitzige Charaktere sollen sich fernhalten von Orten, an denen beim Auf- und Abstieg Gefahr droht. Teufelsgeschichten waren besser und wirkungsvoller, als Warnschilder aufzustellen. Wenn man heute sieht, wie überlaufen bestimmte Orte sind, und wie leichtfertig sich Menschen, vor allem im Gebirge, in Gefahr begeben, dann rechtfertigt das manche abschreckende Namensgebung vielleicht auch rückwirkend. 

Und doch bin ich unglücklich darüber, dass der Teufel so viel Raum in der Naturbegegnung einnimmt. Ich befürchte nämlich, dass es ein Spiegel der mitteleuropäischen Seele und Symptom einer allgemeineren Fixierung auf das Böse sein könnte – und der Unfähigkeit, vor lauter Gegrusel noch Gott und das Gute in der Wildnis zu erkennen. Jedenfalls außerhalb von risikobefreiter Kulturlandschaft, ihrem domestizierten Tierbestand und den sakralen Räumen, die von Menschenhand errichtet wurden. Aber Gott ist auch überall da draußen. Den Teufel bringen wir selber mit – in Gestalt unserer Ängste, blinden Flecken und dem merkwürdig antagonistischen Blick auf die Schöpfung, den unsere Kultur hervorgebracht hat. 

Jetzt wäre die Zeit, ihn endgültig abzulegen.

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Explosive Gewohnheits-Rechte

Foto: Marius Matuschzik on unsplash.com

Ein Erlebnis vom vergangenen Sonntag geht mir nicht aus dem Kopf: An einer Tankstelle steht jemand draußen vor dem Kassenhäuschen und raucht eine Zigarette. Als er fertig ist, geht er hinein, und ich erkenne: Das ist einer der Angestellten. Er hat nicht etwa hinter dem Kassenhäuschen geraucht, sondern davor – auf der Seite, wo die Zapfsäulen stehen und reger Betrieb herrscht. Wohlgemerkt: an einem heißen Sommertag!

Die Person, die eigentlich darauf achten sollte, dass niemand an dieser Tankstelle raucht, steht da in aller Öffentlichkeit und tut genau das, was sie verhindern soll. Sie kann es tun, weil es eine Art Gewohnheitsrecht für Raucher gibt: Raucher „dürfen“ einfach mal so ihren Arbeitsplatz für ein paar Minuten verlassen und sie „dürfen“ ihre Kippen auch einfach so in die Gegend werfen, obwohl die Filter hochgradig umweltschädlich sind.

Und so ist die Szene eben auch ein Bild für den Zustand unserer Gesellschaft in der anbrechenden Klimakatastrophe: Ausgerechnet die Leute, die verhindern sollten, dass wir uns selbst und andere gefährden, nehmen sich demonstrativ die Freiheit, Regeln und Verpflichtungen, denen sie (wie wir alle) unterliegen, zu ignorieren. Und sie können es, weil es quasi ein Gewohnheitsrecht auf fossiles Heizen und unbeschränkte Automobilität gibt, das keine Regierung bisher ernsthaft anzutasten wagte. Für die stetig zunehmende Anzahl der Populisten in Bund und Land zählt dieses Gewohnheitsrecht mehr als jedes demokratisch beschlossene Gesetz.

Ich habe mir die Tankstelle gemerkt. Sie ist ein gefährlicher Ort, den ich künftig meiden werde. Leider lässt sich das im Blick auf das größere Problem des globalen Klimakollapses nicht machen. Das heißt: Mit den Gefährdern in der Politik müssen wir uns anlegen. Und mit denen, die gerade so wütend und beleidigt auf ihrem explosiven Gewohnheitsrecht beharren, auch.

In dieser Kombination liegt das eigentliche Problem: Menschen reagieren allergisch bis aggressiv, wenn es um Gewohnheitsrechte geht. Sie in Frage zu stellen, wird in aller Regel als persönlicher Angriff gedeutet. Und wenn diese Wut dann noch bestärkt wird durch lautstarke Kulturkämpfer aus der rechten Presse- und bürgerlichen Parteienlandschaft, dann brauchen alle, die Kritik am Verhalten dieser Gewohnheits-Rechten üben, schon ein recht dickes Fell, um das heil zu überstehen.

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Progressiv oder prophetisch?

Heute hat ELIA 30. Geburtstag gefeiert. 25 Jahre davon habe ich miterlebt und mitgewirkt. Vor 30 Jahren hat diese Gründung ordentlich Staub aufgewirbelt und es ist wohltuend zu sehen, wie viele Hoffnungen sich erfüllt haben und wie viele Befürchtungen nicht. Wir haben heute einen fröhlichen Gottesdienst mit vielen wunderbaren Menschen genossen. Ich habe einen kurzen Beitrag dazu verfasst. Ein Brief an ELIA, inspiriert von Bruno Latours Brief an sein jüngstes Enkelkind. Vielleicht interessiert er auch ein paar, die nicht dabei waren:

Liebe ELIA,

als Du auf die Welt kamst, war ich fast so alt, wie Du jetzt bist, und gerade junger Vater. Seit ein paar Wochen bin ich nun Vater eines jungen Vaters. Eine ganze Generation liegt zwischen damals und heute.

Über Generationen wird gerade fast schon inflationär geschrieben. Alle paar Jahre (nicht etwa Jahrzehnte…) erfinden Medienschaffende und Marketingabteilungen wieder eine neue. Lassen wir das also beiseite. 

Ich erspare dir auch nostalgisch-rührselige Geschichten darüber, wie süß Du warst, als Du noch klein warst. Davon kriegen meine Kinder schon genug ab.

Aber vielleicht können wir ein bisschen drüber reden, was nach dem 30. auf dich zukommt. Davon habe ich inzwischen ein bisschen Ahnung. 

Reden wir also übers Älterwerden. Am Montag war ich im Seniorenheim. Auf einer Bank saßen ein paar Bewohnerinnen, und als ich vorbeiging, fragte eine die anderen halblaut, wer „der junge Mann“ denn sei. Alter ist relativ. In den nächsten Jahren wirst Du merken, dass das mit der Selbstbeschreibung „jung“ nicht mehr so einfach ist. Ich wünsche Dir, dass es dir gelingt, nicht jugendlicher sein zu wollen, als du bist. Dann wird es auch leichter auszuhalten sein, dass andere frischer, hipper und cooler sind als du selbst. Und wenn Du Dich zwischendurch trotzdem mal richtig jung fühlen willst, mach’ einfach mal einen Besuch im Altersheim. 

Die gute Nachricht lautet: Künftig rückt sowas wie „Weisheit“ in greifbare Nähe. Die Schwaben sagen ja: „Mit 40 wird man gescheit“. Ungeduld und Übermut lassen sich besser zügeln, und Illusionen sind zwar noch möglich, aber es wird immer anstrengender, sie aufrechtzuerhalten.

Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief des Philosophen Bruno Latour an seinen jüngsten Enkel Lilo gehört. Er sagt, die nächsten 20 Jahre werden höchstwahrscheinlich sehr schwer. Die Krisen werden sich verschärfen und die Versäumnisse früherer Generationen (vor allem beim Klimaschutz) werden sich bitter rächen. Aber dann, in 20 Jahren, könnte sich die Zivilisationskrise vielleicht doch lösen lassen. In der Zwischenzeit ist es ganz wichtig, dass sie Mittel und Wege kennt, sich selbst und andere zu heilen.

Mich hat das ins Nachdenken gebracht: Früher, als viele von uns noch dachten, die Welt wird quasi automatisch immer besser, ging es mal darum, progressiv zu sein. Setz dich an die Spitze der Bewegung, sei Schrittmacher und Motor. Wo es hingeht, war klar: Fortschritt wird von Forschung und Technik angetrieben, Wissen und Innovation nehmen stetig weiter zu, das Leben wird besser und die Menschen glücklicher. Das glauben heute nur noch die paar Prozent im Lande, die FDP wählen.

Seit ein paar Jahren bröckelt dieses Bild. Technischer Fortschritt findet immer noch statt, aber plötzlich sind es Viren und Waldbrände, Fluten und Hitzewellen, die uns in Atem halten (oder ihn uns nehmen). Plötzlich nehmen sich die Autokraten der Welt wieder ein Vorbild an Stalin, Hitler, Mussolini und Mao. Die Geister einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit sind zurück. Und wir sind unvorbereitet, die Regierung arbeitet vielfach im Panikmodus – und die Opposition erst recht.

Was gestern noch „progressiv“ war, ist morgen schon obsolet. Es gibt keine klare Richtung mehr, kein Vorne und Hinten, die Schläge treffen uns aus dem toten Winkel, von rechts und links, oben und unten.

Ich glaube, Jesus war nicht progressiv, sondern prophetisch. Wie die großen Propheten vor ihm sieht er die Welt in einem Zustand der Disruption, der Erschütterung, voller Brüche und Risse. Und wie sie stellt er sich auf die Seite derer, die bereits unter diesen Erschütterungen leiden. Denen gehört das Reich Gottes. 

Er warnt die Sorglosen und Selbstzufriedenen, dass es auch sie treffen wird. Er unterbricht die Gleichgültigkeit der Mehrheit mit seiner Forderung nach einer besseren Gerechtigkeit und konfrontiert sie mit den Folgen ihrer destruktiven Lebensweise. Er klagt, er weint, er droht, er rüttelt auf. Und ja, manchmal heilt und tröstet er dann auch.

Wenn ich Gott also irgendwo „vorne“ und auf kontinuierlichen Linien suche, könnte das künftig schwer werden. Die gute Nachricht ist: In den Brüchen und bei denen, die nicht mehr sagen können, was morgen kommt und wo vorne und hinten ist, wird es reichlich Gelegenheit geben, ihm zu begegnen. 

Und wenn wir uns dann in 30 Jahren wiedersehen (und ich dann noch da bin), können wir einander davon erzählen.

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Wiedergeburt und die Krisen unserer Zeit

Das Evangelium für den Trinitatissonntag morgen ist das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus in Johannes 3, in dem Jesus von der (für sein Gegenüber befremdlichen) Notwendigkeit spricht, von neuem (genauer: „von oben“) geboren zu werden. Und dann noch den kryptischen Satz über den Geist/Wind anhängt, der Menschen treibt.

Nikodemus (…) suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.
Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden.
Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. 

Joh 3,1-8

Aus den vielen Dingen, die es dazu zu sagen gibt, greife ich hier nur ein paar Punkte heraus. Ich fange mal mit dem Begriff „Wiedergeburt“ an. Wenn zur „natürlichen“ Geburt da in irgendeiner Form eine Analogie besteht, dann am ehesten darin, dass Geburt für die, die geboren werden, weder eine Errungenschaft noch eine Erfahrung ist. Sondern ein Widerfahrnis, aufgrund dessen ich mich in einem Geflecht von Beziehungen wiederfinde. Und deren werde ich mir zunehmend bewusst.

So wie ein Neugeborenes in eine Familie – klein, groß, eher heil oder eher traumatisiert, reich oder arm – hineingeboren wird, so finden sich Menschen auch in einer Beziehung zu Gott wieder. Noch genauer (wir feiern ja die Dreieinigkeit): Sie nehmen, ohne es darauf angelegt zu haben, teil an der Beziehung, die Gott in sich schon ist. Und dem Beziehungsgeflecht, das um ihn herum entsteht (dem „Reich Gottes“). Diese Verbindung mit Gott wird für sie zur prägenden, identitätsstiftenden Beziehung.

Ich bin also nicht mehr durch meine soziale und biologische Herkunft definiert und festgelegt, sondern dieses neue Verhältnis bestimmt, wer und wie ich bin und wohin mein Weg führt. Nicht die Vergangenheit mit ihren Altlasten und Erfolgen legt meine Zukunft fest, sondern Gottes fürsorgliche Gegenwart in meinem Leben. Nicht das „Fleisch“ in seiner Vergänglichkeit, Anfälligkeit und den nachlassenden Kräften (und der Verzweiflung, Aggression und Niedergeschlagenheit über diesen Verfall in der Welt, bei mir selbst und anderen) macht mich aus. Nicht die guten oder schlechten Gene, die meine Eltern mir mitgegeben haben. Sondern ein geheimnisvoller Antrieb, der immer wieder ganz unvermittelt gute Dinge geschehen lässt.

Diese Kraft kann ich ebensowenig dingfest machen wie den Wind oder die Wolken am Himmel. Aber wenn ich lerne, mich auf sie einzustellen, dann wird (wie beim Wind) einiges leichter.

So weit, so bekannt für viele. Aber hier kommt der neue Gedanke: Wenn Gott mich aus einer Lebensweise befreit, die von der Vergangenheit gespeist wird und in der sich die Vergangenheit reproduziert (History will teach us nothing, lautet ein Songtitel von Sting), und mir ein Leben in und aus seiner Gegenwart ermöglicht, dann hat diese Transformation eine ganz aktuelle Parallele: Die hart umkämpfte Klima- und Energiewende.

Denn auch da geht es darum sich von einer Lebensweise zu verabschieden, die Ablagerungen der Vergangenheit (fossile Brennstoffe, die in vielen Millionen Jahren entstanden, noch älteres und länger strahlendes Uran, aber auch Holz, das Jahrzehnte braucht zum Wachsen) verbrennt. Weil das die Zukunft aller Menschen verqualmt und beschädigt. Wir müssen also maßgeblich bis ausschließlich von dem leben, was uns im jeweiligen Augenblick an Energie in Wind und Sonne zur Verfügung steht. Auch hier also: Bezug zur Gegenwart vor Bezug zur Vergangenheit.

Kann die persönliche Energiewende der Wiedergeburt in Gottes verzweigte Sippe die kollektive Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise erleichtern? In den USA halten viele Christen, die sich selbst als „wiedergeboren“ bezeichnen, Ökologie und Klimaschutz für Teufelszeug. Aber ich denke, das ist eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Form des Glaubens. Eine Form von Kirche, die ebenso destruktiv ist wie die parasitäre Lebensweise, die sie mit dem Reich Gottes verwechselt. Die sich an die Vergangenheit klammert und sie festhält, statt sich dem Wind des Wandels auszusetzen.

In der kommenden Woche haben wir in Nürnberg den Kirchentag zu Gast. Mit dabei ist unter anderem auch Eckart von Hirschhausen. Der schrieb kürzlich in Chrismon davon, welche Rolle Christen in den Krisen dieser Zeit spielen könnten:

Während der Zeithorizont von Politikern oft nicht ausreicht, um auf den ersten Blick unpopuläre Entscheidungen voranzubringen, könnten es sich die Kirchen in der Gewissheit ihres Auftrags und ihrer Geschichte leisten, jetzt in Vorleistung zu gehen. Wenn sich so viele Menschen ohnmächtig fühlen, wo ist denn dann diese ominöse Macht? Was können Sie tun?

Als Wiedergeborene leben wir in den Geburtswehen der neuen Schöpfung. Auch diese noch ausstehende Geburt ist etwas, das nicht in unserer Hand liegt – zum Glück. Aber wir können jetzt schon, so gut es geht, leben, als wäre das Neue schon da.

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Die Noahs kommen

Noah hat sich im vergangenen Jahr wieder an die Spitze der Vornamen-Hitliste für kleine Jungs gesetzt und Matteo auf Platz 2 verwiesen. Es wird ihnen später vielleicht ähnlich gehen wie mir früher (in der fünften Klasse war ich einer von drei Peters), oder wie all den Bens, den Hannas, und was da noch im Trend lag die letzten Jahre.

Was die Eltern im einzelnen zu dieser Wahl veranlasst hat, mag unterschiedlich sein. Ich frage mich allerdings, ob im Falle der Noahs auch das kollektive Unbewusste eine Rolle spielt. Ob es also kein völliger Zufall ist, dass steigende Meeresspiegel, schmelzende Gletscher und zunehmende Extremwetterereignisse (Flut, Dürre, Sturm und Hitze) inzwischen ein stetes Hintergrundrauschen in den Nachrichtenkanälen darstellen.

Und weil wir uns an die Ursachen dafür (und unsere Verstrickung darin) so ungern erinnern lassen, weil viele sich lieber über Klimaproteste aufregen und vor den immer offensichtlicheren Folgen unserer Lebensweise die Augen verschließen – könnte es sein, dass sich das, was da schon die ganze Zeit brodelt, nun eben auf diesem Wege meldet?

Und damit nicht genug – vielleicht steckt ja auch Gott dahinter? Weil er sich freut, wenn sich jemand um den Erhalt der Artenvielfalt sorgt. Weil diese Welt Menschen braucht, die mehr auf ihn hören als auf die Stimmen der Maßlosigkeit und Dominanz. Weil wir das ohne leise und laute, vor allem aber ständig präsente Erinnerungen so schnell aus dem Blick verlieren.

(Beitragsbild von Simon Hurry auf Unsplash)

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Auseinanderklappen

Bäume altern unterschiedlich, wie Menschen auch. Auf den Wiesen im nahen Pegnitzgrund stehen etliche alte Weiden. Manche von ihnen sind im Lauf der Zeit innen so morsch und hohl geworden, dass sie nach allen Richtungen auseinanderklappen. Die dicken Äste liegen nun flach am Boden und bilden einen großen Kreis. Manchmal hat der einen Durchmesser von zwanzig, dreißig Metern.

Aber der Baum lebt noch. Und so treiben die alten Äste weiter junge Zweige aus. Die wachsen wieder senkrecht in die Höhe, bilden allmählich ein neues Blätterdach. In den hohlen Stämmen nisten sich Tiere ein und auf den dicken, horizontalen Ästen setzen sich Leute hin, ruhen sich aus, schaukeln ein bisschen oder machen ein Picknick.

Und ich denke mir: Was für eine schöne Art, alt zu werden! Diese Weiden bleiben nicht stehen, bis sie irgendwann tot zusammenklappen. Statt immer weiter in die Höhe zu wollen, wenn es schon nicht mehr richtig geht, klappen sie auseinander. Und werden einladend für andere. Jedesmal, wenn ich vorbeikomme, berührt es mich wieder.

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An Gottes Käfig rütteln

In wenigen Tagen, an Christi Himmelfahrt, liegt Ostern vierzig Tage zurück. Vierzig Tage, das ist ein transformativer Zeitraum: In vierzig Tagen oder mehr kann es gelingen, alte Gewohnheiten abzulegen und neue einzuüben. Während der Fastenzeit – also der vierzig Tage vor Ostern – tun das viele, indem sie etwas weglassen und auf etwas verzichten. So werden sie offen für das Neue, das mit dem Auferstandenen in die Welt gekommen ist. Es ist ein bisschen so, wie wenn ich im Garten den Boden lockere und Platz schaffe für einen jungen Baum oder eine neue Blume. Doch wenn die dann gepflanzt ist, sind neue Gewohnheiten gefragt: Ich gieße sie, gebe etwas Dünger dazu, und wenn eine kalte Nacht droht, decke ich sie vorsorglich zu. 

Neues Leben, neue Gewohnheiten

Ich denke an einen Kollegen, der gerade zum zweiten Mal Vater wurde und jetzt ein paar Monate in Elternzeit verbringt. Die ganze Familie nimmt sich Zeit, um die Ankunft des Neugeborenen bewusst zu feiern. Und um in Ruhe zu lernen, wie das Leben zu viert jetzt funktioniert. Denn das Neue verändert alles: Die Rollen in der Familie, die Rhythmen des Alltags, das Haushalten mit den inneren Ressourcen.

Was für eine schöne Möglichkeit: Zeit zu haben, in der das neue Leben sich einwurzeln und einruckeln kann. Auf das geistliche Leben umgemünzt wäre dann die Frage: Wie kann die Anwesenheit Jesu meinen Alltag prägen? Wie wirkt sie sich aus auf meine Rollen in Beruf, Familie, Gesellschaft? Wie finde ich einen neuen Rhythmus, der dazu passt, und wie kann mir der in Fleisch und Blut übergehen? 

Brauche ich solche spirituellen Flitterwochen auch – nicht nur einmal im Leben, sondern regelmäßig? Die Sonntage zwischen Ostern und Pfingsten tragen wohl auch deshalb klangvolle Namen: Sie rufen mich auf zum Jubeln, Singen, Beten, Ostern ausgiebig nachklingen lassen.  Der kommende Sonntag heißt: Rogate, Betet. 

Nach seiner Auferweckung von den Toten ist Jesus über vierzig Tage hinweg seinen Jünger:innen immer wieder erschienen. Die haben das damals richtig ausgekostet. Wir wissen nicht viel darüber, was Jesus mit seinen Leuten in dieser entscheidenden Zeit geredet hat. Wahrscheinlich musste auch erst einmal alles sacken: Der Schock über die Verhaftung und Kreuzigung Jesu; die Enttäuschung darüber, dass sie ihn im Stich gelassen hatten; die anfängliche Verwirrung über das leere Grab und dann die wundersamen Begegnungen, die bei aller Freude immer auch die Frage aufwarfen: Wie soll es jetzt weiter gehen?

Dass es weitergeht, lag auf der Hand: Die Auferweckung ist das große Ausrufezeichen hinter dem Leben und Wirken Jesu. Die Bekräftigung, dass Gott Wort hält. Dass seine Zusage gilt und er die Welt nicht den Kräften überlässt, die sie zugrunde richten. Dass Hass, Tod und Zerstörung nicht das letzte Wort haben – nicht im Leben der einzelnen Menschen, nicht in der Weltgeschichte insgesamt.

Krisen kommen ganz bestimmt

Die zurückliegenden Tage, vor allem der Karfreitag, hatten noch etwas gezeigt: Der Weg zu diesem Ziel führt durch tiefe, dunkle Täler. Ich stelle mir vor, das ist wie bei einer Bergwanderung, wo der gegenüberliegende Gipfel mich schon in strahlendem Sonnenschein anlacht. Doch um ihn zu erreichen, muss ich einen steilen, beschwerlichen Abstieg und einen weiteren kräftezehrenden Aufstieg hinlegen. Und wer weiß, ob das schöne Wetter so lange hält oder ob zwischenzeitlich ein Gewitter aufzieht? Wie bereite ich mich darauf vor, dass mein Glaube herausgefordert wird? Oder anders gefragt: Was ist nötig, damit das zarte Pflänzchen der Jesus-Bewegung nicht erfriert, wenn kurz nach Ostern die Eisheiligen kommen?

Gegen Ende der Zeit, die Jesus bei seinen Jünger:innen verbringt, erwähnt er immer wieder das Beten. Bestimmt erinnert er sie an so manches, was er früher schon einmal gesagt hatte. Darunter die folgende Geschichte (Lukas 11,5-8 / Basisbibel): 

Stellt euch vor: Einer von euch hat einen Freund. Mitten in der Nacht geht er zu ihm und sagt: ›Mein Freund, leih mir doch drei Brote! Ein Freund hat auf seiner Reise bei mir haltgemacht. Ich habe nichts im Haus, was ich ihm anbieten kann.‹
Aber von drinnen kommt die Antwort: ›Lass mich in Ruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen, und meine Kinder liegen bei mir im Bett. Ich kann jetzt nicht aufstehen und dir etwas geben.‹
Das sage ich euch: Schließlich wird er doch aufstehen und ihm geben, was er braucht – wenn schon nicht aus Freundschaft, dann doch wegen seiner Unverschämtheit.

Unpassende Analogien

Ein Gespräch unter Freunden. Jesus weiß, dass viel davon abhängt, in welchen Zusammenhang er das Gebet einzeichnet. Er weiß: Je nachdem, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen ich ans Beten herangehe, mache ich mir es leichter oder schwerer. Wenn ich mir Gott vorstelle wie eine gute Fee, bei der ich drei Wünsche frei habe, dann ist die Enttäuschung programmiert. So wie in den vielen Witzen über gute Feen, in der beim dritten Wunsch meistens irgendetwas Dummes passiert, das der Bittsteller nicht bedacht hatte. Beim Beten sind nicht die unüberlegten Bitten hinderlich, sondern die Vorstellung, dass Gott vor allem dazu da ist, Wünsche aller Art zu erfüllen. Gott funktioniert wie ein Automat: Ich spreche etwas aus und – schwupps – ist der Wunsch erfüllt. „Lieber Gott, ich weiß, ich müsste nicht unbedingt mit dem Auto in die Innenstadt fahren. Aber vielleicht regnet es heute ja noch. Würdest Du mir bitte einen Parkplatz direkt vor dem Laden freihalten?“

Ich kann freilich auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen: Ich stelle mir Gott als erhabenen Regenten vor, der Gesuche seiner Untertanen entgegennimmt. Die Anträge durchlaufen dann alle möglichen bürokratischen Instanzen und werden am Ende, nach langer Wartezeit, ohne Begründung gewährt oder abgelehnt. Also kommt es darauf an, dass ich meine Bitten möglichst so formuliere, dass sie bei ihm Wohlwollen hervorrufen: Garniert mit Höflichkeitsfloskeln, Komplimenten und Bekundungen meiner Ergebenheit. Gern auch mit einer langen Liste von Unterstützer:innen.

Irgendwo in der Mitte zwischen beiden liegen jene (natürlich von Erwachsenen erdachten) „Kindergebetchen“, über die  sich Joachim Ringelnatz schon vor 100 Jahren lustig gemacht hat:

Lieber Gott, recht gute Nacht,
Ich hab noch schnell Pipi gemacht,
Damit ich von dir träume.
Ich stelle mir den Himmel vor
Wie hinterm Brandenburger Tor
Die Lindenbäume.
Nimm meine Worte freundlich hin,
Weil ich schon so erwachsen bin.

Freundschaft ist voller Zumutungen

Erwachsen sind auch die zwei Freunde, von denen Jesus spricht. Die Beziehung zwischen den beiden beginnt nicht in dem Moment, als spätabends Gäste hereinplatzen. Sie kennen einander. Oft haben sie zusammen am Abend nach der Arbeit im Schatten eines Olivenbaums gesessen und einander bei einem Becher Wein von ihren Freuden und Sorgen erzählt. Sie haben einander Werkzeuge ausgeliehen und bei Reparaturen von Haus und Hof mit angepackt. Sie sehen zu, wie ihre Kinder aufwachsen, und vielleicht fragt einer den anderen sogar, ob er sich um sie kümmern würde, falls ihm ein Unglück zustoßen sollte.

Wenn es einem von beiden nicht gut geht, wäre der andere enttäuscht, nichts davon zu erfahren. Natürlich ist es anstrengend, in die Probleme anderer verwickelt zu werden. Aber das ist halt der Unterschied zwischen Freunden und Bekannten: Für einen Freund ist es schlimmer, wenn ich meine Sorgen verschweige, mich allein damit herumschlage um ihn zu schonen, als wenn ich sie ihm zumute. Selbst dann, wenn er auch keinen Rat weiß und nur schweigt oder in meine Klage einstimmt. Oft ist das schon Hilfe genug: Wenn ich jemandem mein Herz ausschütten kann, bringt mich das einer Lösung näher.

Gegen Ende ihrer Lehrzeit redet Jesus seine Jünger ganz bewusst als Freunde an – nicht mehr als Schüler und Untergebene. Das Herz ausschütten, sich mitteilen, zuhören und zusammen schweigen, all das gehört zu einer guten Freundschaft. Um Hilfe bitten natürlich auch.

Ganz so ideal ist es freilich im richtigen Leben nicht. Manchmal zerbrechen Freundschaften daran, dass einer den anderen überfordert oder ausnutzt. Manchmal lassen Freunde einander hängen. So wie der Mann, dessen Kinder neben ihm schon schlafen, als der andere klopft, weil sein Brot nicht reicht. Jesus beschreibt ganz ungeschminkt, wie genervt er zunächst auf die Störung seiner Nachtruhe reagiert. Aber spätestens als er kapiert, dass seine Kinder vom unablässigen Klopfen genauso aufwachen wie vom Aufstehen und Öffnen der Türe, wimmelt er den anderen nicht länger ab, sondern gibt ihm die Brote. Und der zieht erleichtert davon, weil er nun seinerseits nicht mehr in der Verlegenheit ist, dem Überraschungsgast – noch ein Freund! – nichts zu essen anbieten zu können. In einer Kultur, die das Gastrecht groß schreibt, wäre das ein schrecklicher Makel. Da ist es leichter zu ertragen, dass der Freund nebenan wegen der aufgewachten Kinder eine Weile schmollt.

Gott auf die Nerven gehen?

Abraham und Mose, die großen Gestalten der hebräischen Bibel, gelten als Freunde Gottes. Sie lassen sich von Gott in seine Angelegenheiten und Pläne hineinziehen. Zugleich haben sie keinerlei Hemmungen, Gott mit den Anliegen der Menschen um sie herum in den Ohren zu liegen. Mit erstaunlichem Erfolg: Gott lässt sich von ihrer Hartnäckigkeit tatsächlich beeinflussen. Freilich geht es in den Gebeten von Abraham und Mose auch nicht um Eigennutz und persönliche Vorteile, sondern um Gerechtigkeit und die Rettung von Menschen aus Not und Gefahr. Das sieht auch Walter Wink so. Der Theologe und Bürgerrechtler hat zwei historische Durchbrüche hat mit erkämpft und erlebt: Die Abschaffung der Rassentrennung in den USA und das Ende der Apartheid in Südafrika.

»Damit Fürbitte christliches Beten ist, muss es um das Kommen des Reiches Gottes auf Erden gehen. Es muss ein Gebet sein für den Sieg Gottes über Krankheit, Gier, Unterdrückung und Tod – jetzt, in den konkreten Lebensumständen von Menschen. In unserer Fürbitte richten wir unseren Willen auf die Möglichkeiten Gottes, die jetzt in diesem Augenblick latent vorhanden sind, und finden uns wieder im Wirbelwind Gottes, der darum ringt, sie zu verwirklichen.

Gott verlangt von uns, dass wir mit Gott feilschen um der Kranken willen, der Besessenen, der Schwachen – und unser Leben dann in Einklang bringen mit diesen Fürbitten. Der Gott der Bibel erfindet die Geschichte im Zusammenwirken mit jenen, die „hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“.«

(Walter Wink. Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1992, S. 303)

Ray Charles macht es uns vor: „Himmel, hilf dem Schwarzen, der sich Tag für Tag abmüht. Hilf dem Weißen, der sich von ihm abwendet. Hilf dem, der den mit Füßen tritt, der am Boden liegt. Hilf uns allen.“

Immer wieder einmal fragen mich andere und frage ich mich selbst: Warum ist es Gott so wichtig, mich in das Ringen um eine bessere Welt hineinzuziehen. Wenn Gott doch allmächtig und allwissend ist, alles kann und alles weiß, warum passiert das Gute dann nicht einfach von selbst? Warum ist es dann immer noch ein Kampf, warum gibt es immer noch Streit, und warum dauert das alles so lange? 

Seltsam unsouverän

Dieses „Gott braucht keinen Rat, er weiß es besser“ und „Gott macht eh, was er will. Was soll ich ihm reinreden?“ führt dazu, dass ich mich ins anscheinend Unvermeidbare füge. Wenn ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass Beten etwas verändert, außer vielleicht meine eigene Einstellung, wird es zur zähen Pflichtübung. Oder zur gefühlten Zeitverschwendung. Denn in der Zeit, die ich mit Beten zubringe, könnte ich auch etwas tun, das wirkt.

Der Gott, von dem Jesus spricht, ist offenbar anders als menschliche Monarchen – und garantiert anders als Autokraten und Diktatoren. Die stellen sich Souveränität in der Regel als Willkür vor – ich mache, was ich will, und lasse mir von niemand reinreden. Gott aber kommt dabei immer seine  Liebe zu den Menschen in die Quere. Walter Dietrich schrieb einmal treffend,  Israel habe mehr Macht über Gott, als es einem allmächtigen Gott lieb sein könne. 

Dieser Gott möchte nicht über unsere Köpfe hinweg seine Sachen durchziehen, sondern mit möglichst vielen seiner Freundinnen und Freunde zusammen. Ständig sucht er sich ein Gegenüber, das er an seinen Plänen beteiligt. Er haut auch nicht gleich im Affekt drauf, wenn etwas aus dem Ruder läuft, sondern er hält Rücksprache mit seinen Leuten. Er fordert sie buchstäblich ein! Wenn es darum geht, diese Partnerschaft mit einem manchmal seltsam unsouveränen Gott zu beschreiben, wird sogar ein Intellektueller wie Walter Wink zum Poeten. Hören wir ihm nochmal zu:

»Beten heißt, am Käfig Gottes zu rütteln und Gott aufzuwecken und zu befreien und diesem ausgezehrten Gott Wasser und Nahrung zu geben, die Stricke von Gottes Händen abzuschneiden und die Eisen an seinen Füßen zu lösen und den verkrusteten Schweiß von Gottes Augen zu waschen und dann zuzusehen, wie Gott an Leben und Vitalität und Energie zunimmt – und Gott dann überallhin zu folgen, wo er geht.

Beten ist keine Bitte an einen allmächtigen König, der jederzeit alles tun kann. Es ist ein Akt, der den Ursprung, das Ziel und den Prozess des Universums befreit von aller Verzerrung, Vergiftung, Verwüstung, Fehlausrichtung und blankem Hass auf das Leben, die Gottes Absichten im Wege stehen. Wenn wir beten, schicken wir keine Briefe an ein himmlisches Kanzleramt, wo sie zu den anderen sortiert werden, die sich dort stapeln. Wir beteiligen uns an einem schöpferischen Akt […]. Die Geschichte gehört den Betenden, die die Zukunft herbeiglauben. Und wenn das so ist, dann ist das Gebet nicht etwa eine Flucht vor dem Handeln, sondern ein Weg, sich auf das Handeln einzustellen und Handeln zu ermöglichen.«

(Engaging the Powers, S. 303f.)

Zwei Freunde haben eine unruhige Nacht, erzählt Jesus im Gleichnis. Diese Situation wird noch eine ganze Weile andauern. Darauf bereitet Jesus seine Jünger:innen vor. „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“ sind keine trockenen Floskeln, so lange Krieg und Gewalt an der Tagesordnung sind, so lange wir die Atmosphäre ins Unerträgliche aufheizen, das Wasser und den Boden vergiften, so lange Gerechtigkeit und Unversehrtheit für alle eher ein Ideal, eine Forderung ist – und keine selbstverständliche Praxis. So lange all das den meisten Menschen die meiste Zeit auch nicht so schrecklich wichtig ist. Wenn mir der Zustand der Welt im Großen und Kleinen nicht wenigstens ab und zu den Schlaf raubt, ist das kein gutes Zeichen. Heaven help us all!

Beten und sich einsetzen

Manchmal sagen Leute ja „jetzt hilft nur noch Beten“ und meinen: Menschlich betrachtet sind wir am … Ende unserer Möglichkeiten. Aber vielleicht gehört das auch Anbrechen des Neuen, zum Kommen Gottes in unsre Welt, dass wir ständig überfordert sind. Wenn Gott kommt, wenn wahr wird, dass Christus auferstanden ist, dann bleibt nichts mehr wie es ist. Vielleicht können und sollen wir das also gar nicht allein reißen. Vielleicht steht das Gebet nicht am Ende menschlicher Möglichkeiten, sondern am Anfang. Es hält das Osterfeuer am Brennen. Es ist der Pulsschlag des neuen Lebens. Beten hilft den Aktiven, dass sie nicht verzweifeln, wenn eine Zeit lang nichts vorwärts geht. Und den Ängstlichen oder Zögerlichen, hilft es, in Bewegung und ins Handeln zu kommen. Damit alle, die Menschen und Mitgeschöpfen mutwillig Schaden zufügen, schlaflose Nächte bekommen. 

Es ist gut und richtig, dass Fürbitten in unseren Gottesdiensten einen festen Platz haben. Jesus hätte vermutlich nichts dagegen, wenn sie noch etwas hungriger und durstiger, aufgebrachter und eindringlicher daherkommen. Im persönlichen Gebet oder in einer kleinen Runde lässt sich das leichter lernen. Um dann hoffentlich zu entdecken: Beten ist nicht das Gegenteil von Engagement und Handeln. Es ist das Gegenteil von Fatalismus und Resignation.

So empfand es wohl auch die Mystikerin Madeleine Delbrêl, die einmal schrieb: „Gott will, dass wir ihn aufdringlich darum bitten, sein Wort zu halten. Haben wir diesen Druck auf Gott ausgeübt, haben wir ihn hinreichend ausgeübt?“ 

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Keine Pause an der Klimafront

Das relativ kalte und endlich mal wieder ausreichend feuchte Aprilwetter vor Ort täuscht vielleicht etwas darüber hinweg, dass die Nachrichten von der Klimafront alles andere als ermutigend sind. Drei Meldungen aus der laufenden Woche beschäftigen mich dazu:

Während die Ampel-Regierung bei uns im klimapolitischen Bummelstreik steckt, weil Liberale und Konservative (und immer öfter auch Sozis) überfällige Maßnahmen aus wahltaktischem Kalkül populistisch torpedieren, während hier also rhetorisch die Gemüter ebenso unnötig wie mutwillig aufgeheizt werden, heizt sich an anderer Stelle das Land und das Meer dramatisch auf, aber die mit der eigenen Gereiztheit beschäftigte Mehrheit nimmt davon keine Notiz:

In Spanien herrscht Dürre und eine Hitzwelle rollt an. Schon im April werden Fische umgesiedelt, weil die Flüsse so wenig Wasser führen. Aber auch in Bayern wachsen die Sorgen beim Blick aufs Grundwasser.

Die Weltmeere erwärmen sich in diesem Frühjahr besorgniserregender als je zuvor. Wenn wir Pech haben, erschöpft sich gerade ihre Kapazität, weiter Wärme aus der Atmosphäre aufzunehmen. Das wird auch die Gletscher in der Antarktis noch schneller ins Rutschen bringen, ein kräftiger Anstieg der Meeresspiegel innerhalb weniger Jahrzehnte wäre die Folge.

Und es wird immer deutlicher, dass Klimafolgen die Inflation dauerhaft antreiben werden. Oder anders gesagt: Dass wir im Begriff sind, den bescheidenen Wohlstand der überwiegenden Mehrheit zu opfern, um den Interessen der schwerreichen Verbrennerlobby (und ihrer politischen Handlanger im „bürgerlichen“ Lager) Vorfahrt einzuräumen.

Verlogene Solidarität

Apropos Vorfahrt: Vor kurzem war ich ein paar Tage in Frankreich. Dort wird der Durchgangsverkehr in den Städten immer wieder durch Bodenwellen und Zebrastreifen verlangsamt. Als ähnliche Maßnahmen hier vor 30 Jahren diskutiert wurden, hieß es, das könne man nicht machen, weil dann ein Rettungswagen kostbare Zeit verliere. Rettungswagen sind offenbar immer dann interessant, wenn sie als Vorwand gegen Beschränkungen des Autoverkehrs herhalten können. Ich weiß nicht, wie viele Menschenleben die Bodenwellen in Frankreich gekostet haben. Womöglich haben sie mehr gerettet, weil man nicht einfach so durch die Stadt rasen kann wie bei uns.

Arme, Alte und Kranke sind bestimmten Akteuren im politischen Spektrum keinen Cent beim Bürgergeld oder der Kindergrundsicherung wert. Aber wenn Änderungen am eigenen Lebensstil gefragt sind, entdecken eben diese Leute urplötzlich ihr Herz für die Schwachen, denen man das auf keinen Fall zumuten kann. Diese Art von Solidarität kostet nichts und bringt nur denen einen Vorteil, die dieses Schmierentheater aufführen. Irgendwann wird der Schwindel auffliegen, aber dann ist es zu spät.

Aber es sind auch die „Normalos“, die eine Mitschuld tragen. Lin Hierse hat es diese Woche sehr treffend zusammengefasst:

Wir einfachen Leute fühlen uns oft zu Unrecht bestraft. Wir können doch nichts dafür, dass sich die Bundesregierung nicht genug um das Erreichen des 1,5 Grad-Ziels bemüht. Wir wollen nur ein gutes Leben leben und das ist derzeit schwer genug zu haben. „Das trifft die Falschen“, so lautet also der Reflex, wenn Streiks oder Klimademos in den Alltag eingreifen, und die Falschen, das sind wir Normalos. Wir und dieses vermeintlich unantastbare Recht auf Ungestörtheit, auf die Verteidigung des stetig fließenden Status Quo, das deutsche Second Amendment sozusagen.

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Die Hölle auf Rädern

Diese Woche kam ich einer großen Sache auf die Spur. Alles fing an im Facebook-Feed von Pater Jörg Alt, der sich im Zuge der Klimaproteste an Straßenblockaden beteiligt. In den Kommentaren wurde dann deutlich, dass Staus niemals Gottes Wille sein können, weil dort Menschen schwerst traumatisiert werden: Nervenzusammenbrüche, Herzinfarkte, man kommt nicht ins Krankenhaus oder in Veranstaltungen von Leuten, die man gut findet. Kurz: Es gibt keine schlimmere Folter, als im Verkehr zu stecken.

Bei Lesen wurde mir klar: Im Auto zu hocken und nicht vorwärts zu kommen, ist eine Form von Tod. Lebendig begraben in der Blechlawine. Müssten also Straßenblockaden wie Totschlag geahndet werden? Viele Landsleute würden hier zweifellos zustimmen.

Mir ging aber ein anderer Aspekt nach: Wenn es stimmt, dass Staus sich so traumatisch auf die Psyche schlagen, dann sind wir Deutsche ein schwer leidendes Volk. Der durchschnittliche Münchner PKW-Pendler leidet sagenhafte 79 Stunden im Jahr Qualen, in Berlin sind es 65 und bei uns in Nürnberg noch rund 45 – und das ist nur das Leid auf dem Weg zur Arbeit! Da kommen noch viele Stunden Stau im Urlaub hinzu, das trifft dann die ganze Familie, also auch Kinder müssen die nervenzerfetzende Tortur schon durchmachen. Da bleiben schlimme Narben zurück.

Radikale Klimaschützer wie der ADAC behaupten zwar, Staus gebe es wegen der vielen, vielen Autos auf den Straßen und wegen Baustellen zu deren Bau und Erhalt. Aber das ist natürlich plumpeste Täter-Opfer-Umkehr, die uns die Freude am Fahren vermiesen will, indem sie uns die Schuld am Stau gibt.

Damit ist auch klar, dass es eine völlig unrealistische Erwartung wäre, dass wir uns hier ernsthaft mit den Folgen unserer fossilen Lebensweise befassen. Man kann einem todtraurigen Herzen nicht damit kommen, dass irgendwo anders auf der Welt jemand hustet wegen der schlechten Luft. Oder sein Haus verliert. Diese Menschen in den armen Ländern haben meist keinen Porsche oder BMW und wissen gar nicht, was wir alles Schreckliches erleben! Und was sind schon gelegentliche Dürren und Flutkatastrophen gegen das Drama, das sich täglich auf dem Asphalt um uns herum abspielt? Was sind Ernteausfälle gegen den Zeitverlust – was kümmert mich das Artensterben wenn ich ganz dringend aufs Klo muss und dafür die Rettungsgasse nicht benutzen darf?

Wenn wir den also Stillstand in Sachen Klima überwinden wollen, müssen erst einmal diese Blockaden auf den Straßen beseitigt werden. Also teeren und pflastern wir doch bitte jetzt sofort, was irgendwie geht, damit die menschengemachte Bewegungsarmut ein Ende und die Freiheit wieder eine Überholspur hat.

Von Abraham Maslow wissen wir: Leute, denen so elementare Rechte wie das Lichthupen auf der Autobahn und das Parken auf dem schmalen Bordstein vor der eigenen Haustüre vorenthalten werden, sind einfach nicht in der Lage, sich für solch abstrakte Dinge wie Demokratie, das schwer gestutzte Demonstrationsrecht oder das Recht auf saubere Luft und sauberes Wasser zu erwärmen. Das kann man von ihnen auch nicht verlangen. Ebenso wie man nicht erwarten kann, dass sie an die Zukunft ihrer Enkel (geschweige denn der Enkel anderer) denken, wenn ein Stau sie davon abhält, dem verdienten Feierabend entgegenzubrausen.

Aber zum Glück gibt es noch Männer wie Christian Lindner, Volker Wissing, Hubert Aiwanger, Andi Scheuer und all die anderen Volkshelden der ungebremsten Raserei. Die den Duft von Diesel und Freiheit noch schätzen. Irgendwann kommt der Tag, wo sie mit einem weißen Mustang in der Rettungsgasse vorfahren und uns aus dem Elend und der Hölle des ständigen Staus erlösen.

Oder wenigstens eine Rolle Klopapier verteilen.

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Arm und Reich – und ich?

Die Schönen und die Reichen… Welche Namen von reichen Leuten fallen Ihnen/Euch so ganz spontan ein? Ich könnte mir vorstellen: Bill Gates ist dabei, Elon Musk und Jeff Bezos, vielleicht Warren Buffett. Der reichste Mann der Welt – übrigens interessant, dass die ganz Reichen immer Männer sind – heißt Bernard Arnault. Er verdient sein Geld mit Luxusartikeln, die er anderen Reichen verkauft. Von dem bisschen Geld der Armen wird man nicht so schnell Milliardär. Es sei denn, man betreibt einen Lebensmittel-Discounter wie der reichste Deutsche: Dieter Schwarz, dem Lidl gehört. Arnault ist allerdings sechsmal so reich wie Schwarz oder die Aldi-Erben, Tendenz stark steigend.

Manche zeigen ihren Reichtum gern, andere verstecken ihn ein bisschen, aber die intensive Aufmerksamkeit der Medien und diskreter (manchmal auch unverhohlener) Einfluss auf die Politik sind ihnen so oder so sicher. Es werden Ranglisten geführt und ständig aktualisiert, als wäre reich Sein so etwas wie Tennis oder Golf: Eine sportliche Übung, die im fairen Wettstreit um die Anerkennung des Publikums geführt wird. Und zur eigenen Genugtuung. 

In der Bibel steht auch eine Geschichte über märchenhaften Reichtum. Jesus erzählt sie (Lukas 16,19-31). Sie beginnt so:

Einst lebte ein reicher Mann. Er trug einen Purpurmantel und Kleider aus feinstem Leinen. Tag für Tag genoss er das Leben in vollen Zügen. Aber vor dem Tor seines Hauses lag ein armer Mann, der Lazarus hieß. Sein Körper war voller Geschwüre. Er wollte seinen Hunger mit den Resten vom Tisch des Reichen stillen. Aber es kamen nur die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.

Einst, sagt Jesus: Es war einmal. Zeit und Ort tun, wie im Märchen, nichts zur Sache. Reiche damals lebten nicht wesentlich anders als Reiche heute mit ihren Privatjets, ihren Luxusyachten, den abgeriegelten Anwesen mit Kameras und Wachpersonal. Ganz unbedingt zur Sache gehört freilich dieses Detail: vor der Tür des Reichen liegt ein Armer. Der hat Hunger und ist krank und entstellt.

Der Name des Reichen interessiert Jesus nicht. Es geht nicht um das, was diesen Reichen von anderen Reichen unterscheiden würde, sondern um das, was Reiche gemeinhin so tun und denken. Natürlich gibt es sympathische Reiche und unsympathische, bescheidene und gierige, fromme und gottlose. Das weiß Jesus. Doch der Reiche erscheint in dieser Geschichte nicht als Individuum, sondern als Vertreter seiner Klasse. 

Zwischen dem Reichen und dem Armen existiert eine Kluft. Nicht räumlich, da ist die Entfernung gering, aber sozial. Der eine lebt in Saus und Braus, und beim Gedanken an den anderen, dem die Straßenköter seine offenen Beine abschlecken, wird mir nach drei Sekunden schon ganz flau im Magen. Ekel rührt sich. Lässt sich Armut nicht etwas dezenter schildern? Das tut ja schon beim Zuhören weh. Ich mag mir das gar nicht weiter ausmalen. Und über den Gestank, der zu dieser Szene gehört, haben wir noch gar nicht gesprochen. 

Ach, Jesus, jetzt hast Du mir den Appetit verdorben!

Ein Blick in den Abgrund

Jesus ist schmerzfrei, wenn er von dem Armen erzählt. Und er kennt seinen Namen: Lazarus. Und ich frage mich: Wie viele Arme kenne ich mit Namen? In den Medien erscheint ein Armer ja höchstens, wenn mal wieder ein Aufreger über Betrug bei Sozialleistungen gebraucht wird. Dabei ist das nicht (wie gern unterstellt wird) die Regel, sondern die Ausnahme. Viele Arme nehmen Geld, das ihnen von Rechts wegen zusteht, gar nicht in Anspruch: Weil sie sich schämen, weil sie mit dem Papierkram nicht klarkommen oder weil sie resigniert haben und nichts mehr erwarten vom Rest der Gesellschaft.

Reiche hingegen haben sich in ganz anderem Umfang aus den öffentlichen Kassen bedient. Der Volkszorn darüber hält sich freilich in engen Grenzen. Wenn ein Kavalier – erkennbar an der gepflegten Erscheinung – ein Delikt begeht, kann es ja nur ein Kavaliersdelikt sein. Er macht sich dabei selten die Hände schmutzig, denn seine Lobbyisten haben die Gesetze zu seinen Gunsten umschreiben lassen. Er hat Zeitungen und Fernsehsender gekauft, die für seine Interessen Stimmung machen. Und falls es doch mal brennt, handeln seine Anwälte einen vorteilhaften Deal mit der Staatsanwaltschaft aus. 

Jesus fühlt sich unter den Armen weder fremd noch unwohl. So wie Pater Benigno Beltran, der 30 Jahre auf „Smokey Mountain“, dem Müllberg von Manila lebte. Bei Menschen, die in dem stinkenden, qualmenden Wust nach Metall und Plastik suchten, das sie verkaufen konnten; und dem, was noch essbar erschien. Wenn Beltran mit dem Bus in die Stadt fuhr, blieb der Platz neben ihm oft leer: Der strenge Geruch haftete seinem Ordensgewand an. 

Der schwelende Müllkippe mit ihren giftigen Dämpfen erinnerte ihn an das Feuer und den Schwefeldampf der biblischen Apokalypse. Auf dem Müllberg zeigt sich die Kluft zwischen arm und reich in aller Deutlichkeit: Die Reichen produzieren den meisten Abfall und die Armen bekommen die Folgen zu spüren. Beltran schreibt:

„Hinter jedem Stück Plastik auf der Müllkippe liegt das ganze Universum. In der stickigen Hitze des knisternden Infernos, dem tödlichen Geruch, dem ständigen Dröhnen der Müllautos, die ihre Ladung erbrachen, wurde ich daran erinnert, dass Smokey Mountain eine Metapher ist für eine Welt, die völlig aus den Fugen ist.“ (Faith and Struggle on Smokey Mountain, S. 10)

Ein Inferno. Auch Jesus scheint in diese Richtung zu denken. So geht seine Geschichte weiter:

Dann starb der arme Mann, und die Engel trugen ihn in Abrahams Schoß. Auch der Reiche starb und wurde begraben. Im Totenreich litt er große Qualen. Als er aufblickte, sah er in weiter Ferne Abraham und Lazarus an seiner Seite. Da schrie er: ›Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir! Bitte schick Lazarus, damit er seine Fingerspitze ins Wasser taucht und meine Zunge kühlt. Ich leide schrecklich in diesem Feuer!‹ 

Der Tod setzt für beide, für den Reichen wie für Lazarus, alles auf Null. Was bisher war, ist aus und vorbei. Jesus bedient sich hier großzügig bei Vorstellungen der Volksfrömmigkeit. Ein bisschen so wie die Witze, in denen jemand an die Himmelstür klopft und von Petrus hereingelassen wird – oder nicht. Der „arme Mann“ wird von Gottes Engeln dahin eskortiert, wo alle Israeliten herkommen: in „Abrahams Schoß“. Da findet er Ruhe und Geborgenheit. Da lebt er auf. 

Der Reiche erhält noch ein standesgemäßes Begräbnis und wandert ins Totenreich – die Unterwelt, das Inferno, die Müllkippe der Geschichte. So weit keine große Überraschung für alle, die Jesus zuhören. Reichtum, Geiz und Egoismus, das haben schon seit Jahrhunderten die jüdischen Propheten angeprangert. Amos etwa beschimpft die High Society Israels als gefräßige fette Kühe. Ein Ausgleich ist überfällig.

Wasserträger und Extrawürste

Aber nun fängt der Reiche an zu verhandeln. Er bittet den guten alten Abraham darum, seine Qualen zu lindern. Auf einmal kennt auch er den Namen des Armen, für den er zu Lebzeiten keinen Finger krumm gemacht hatte. Schick’ doch den Lazarus, damit er mir ein bisschen Abkühlung verschafft. 

Wasser herbeibringen, das können die Armen gut. Auf Smokey Mountain, erzählt Beltran, mussten die Frauen zu Fuß weite Wege zurücklegen, um Trinkwasser für ihre Familien zu kaufen und mühsam heimzuschleppen. Und teuer war es auch noch: Sie zahlten zehnmal so viel wie die Reichen in ihren Villenvierteln. 

Mir scheint, der Reiche aus Jesu Geschichte/der Geschichte von Jesus lebt immer noch ein bisschen in jener Welt, in der Arme die Wasserträger sind. Wo ihm seine Dienstboten die Wünsche von den Augen ablesen. Oder wenigstens seinen Anweisungen folgen. Im Grunde ist es ja auch ein Sonderwunsch, der sich an Gott richtet.

Doch Abraham antwortete: ›Kind, erinnere dich: Du hast deinen Anteil an Gutem schon im Leben bekommen – genauso wie Lazarus seinen Anteil an Schlimmem. Dafür findet er jetzt hier Trost, du aber leidest. Außerdem liegt zwischen uns und euch ein tiefer Abgrund. Selbst wenn jemand wollte, könnte er von hier nicht zu euch hinübergehen. Genauso kann keiner von dort zu uns herüberkommen.‹ 

Mit spürbarem Bedauern erklärt Abraham dem Reichen, warum sein Wunsch nicht erfüllt werden kann. Als wäre der ein Kind, das alle seine Süßigkeiten schon gegessen hat und nun ein Auge auf die Schokolade wirft, die sich sein sparsamer Bruder aufgehoben hat: Du hattest Deinen Anteil, jetzt ist Lazarus auch mal dran.

Und dann verweist Abraham auf den Abgrund zwischen beiden: Da gab es die Kluft im Herzen, als der Reiche zu Lebzeiten dachte: Was geht mich der Arme an? Dann die Kluft im Kopf, als der Reiche den Armen selbst im Jenseits noch für seine Zwecke einspannen will. Und nun erweist sich der Abgrund zwischen denen, die Leid erfahren, und denen, die es verursachen oder ungerührt geschehen lassen, als unüberwindbar. 

Aber der Reiche lässt seinen Anspruch auf bevorzugte Behandlung nicht einfach fallen. Es geht ja nichts über einen guten Draht nach ganz oben. Diesmal nicht für ihn persönlich, aber für seine Angehörigen. Einen derart selbstlosen Wunsch wird ihm der gute Abraham doch bestimmt nicht abschlagen?

Da sagte der Reiche: ›So bitte ich dich, Vater: Schick Lazarus doch wenigstens zu meiner Familie. Ich habe fünf Brüder. Lazarus soll sie warnen, damit sie nicht auch an diesen Ort der Qual kommen!‹ Aber Abraham antwortete: ›Sie haben doch Mose und die Propheten: Auf die sollen sie hören!‹ Der Reiche erwiderte: ›Nein, Vater Abraham! Nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie ihr Leben ändern.‹  Doch Abraham antwortete: ›Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören – dann wird es sie auch nicht überzeugen, wenn jemand von den Toten aufersteht.‹

Reiche bekommen keine Extra-Einladung in den Himmel. Abraham bleibt dabei. Alles, was es zu sagen gibt, ist gesagt. Die Reichen kennen die Gebote Gottes und die Mahnungen und Warnungen der Propheten. Und so wiederholt auch Jesus nur das, was andere vor ihm gesagt haben. Freilich in einer neuen Dringlichkeit: »Glückselig seid ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.« Und umgekehrt: »Wehe euch Reichen! ihr habt euren Trost schon erhalten.«

Harsche Worte – harte Realität

Warum ist Jesus, der mit allen möglichen Leuten so barmherzig umgeht, bei den Reichen so kompromisslos? Und warum hält er, der Freund der Armen, sich in dieser Geschichte so lange mit dem Reichen auf?

Die Antwort auf diese Frage hilft uns ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, wir seien eine Firma mit 100 Leuten, die gerade 100.000 Euro Gewinn gemacht hätte. Und dann bekommt aus irgendeinem Grund der Mitarbeiter, der jetzt schon am meisten verdient, 81.000 von den 100.000 Euro als Bonus. Die restlichen 19.000 Euro würden unter die anderen 99 verteilt, die genauso hart gearbeitet haben wie er. Aber deren Leistung spielt kaum eine Rolle. Wer würde da noch lange und gern arbeiten?

Die Wahrheit ist: Wir alle arbeiten da, denn das ist Deutschland. Das sagt eine Studie von Oxfam, die im Januar veröffentlicht wurde: Vom Vermögenszuwachs, der 2020 und 2021 bei uns in Deutschland erwirtschaftet wurde, entfielen satte 81 Prozent auf das reichste eine Prozent der Bevölkerung. Der überschaubare Rest wird – ungleich natürlich – unter allen anderen verteilt.

Hinzu kommt, dass Reiche auf ihre riesigen Kapitalgewinne meist deutlich weniger Steuern zahlen als Normalverdiener auf ihren Lohn. Die Bundesregierung sagt zwar, sie möchte den Armen helfen. Aber sie will den Reichen auf keinen Fall etwas wegnehmen – etwa durch angemessene Steuersätze auf deren stattliches Vermögen. Die Spielräume im Staatshaushalt reichen längst nicht mehr aus, um die Armut im In- und Ausland wirksam zu bekämpfen. Und freiwillige Spenden sind sicher ein Segen, aber auch da können immer weniger von uns aus dem Vollen schöpfen.

Kein Wunder, dass sich die Armut ständig weiter verschärft. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist mittlerweile arm. Jedes fünfte hat beispielsweise kein eigenes Zimmer, keinen Rückzugsort für Schularbeiten oder bekommt seltener ausgewogenes Essen. Und wenn andere Kinder in der Klasse vom exotischen Urlaub oder ihrem Pferd erzählen, steht es beschämt daneben. 

Das stinkt doch zum Himmel!

Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte

Wahrscheinlich war die Mehrzahl der Zuhörer Jesu weder reich im Sinne des einen Prozent noch völlig mittellos wie Lazarus. Vermutlich sind auch die meisten von uns irgendwo zwischen diesen Extremen. Was hat die Geschichte uns Durchschnittsverdienern zu sagen? 

„Die Wahrheit liegt in der Mitte“ ist eine Redensart, die häufig strapaziert wird. Jesus erinnert uns daran, dass die ganze Wahrheit über die Welt damals und heute nicht zu erfassen ist ohne den Blick auf die Extreme, die er hier schildert.

Den Armen gegenüber spüre ich ein schlechtes Gewissen, weil es mir besser geht, und weil das reine Glückssache ist. Wäre ich an einem anderen Ort in eine andere Familie hineingeboren worden, sähe es womöglich ganz anders aus. Manchmal beruhige ich mein Gewissen, indem ich etwas spende. Aber ich weiß, dass das allein die Not der vielen nicht wesentlich lindern wird. 

Und diese Hilflosigkeit ist das andere Problem: Wenn ich es mit Armen zu tun bekomme, wäre ich gern tatkräftig und kompetent. Ich würde ihre Probleme gern lösen, damit es ihnen endlich  besser geht. Naja, wenn ich ganz ehrlich bin, möchte ich in diesem Momenten auch, dass es mir selbst besser geht. Wäre ihr Leid ein bisschen erträglicher, würde ich es in ihrer Nähe bestimmt besser aushalten. Doch so lange ich die Not nicht ändern kann – wenigstens nicht von heute auf morgen –, will ich nicht ständig mit meiner Ohnmacht und meinen Grenzen konfrontiert werden.

„Ich scheiss dich sowas von zu mit meinem Geld…“   Wie sicher kann ich sein, dass dieser legendäre Satz von Mario Adorf aus „Kir Royal“ nicht auch auf mich zutrifft? Als Normalo gerate ich nicht nur Armen, sondern auch Reichen gegenüber in Verlegenheit. Die Bilder und Videos von ihrem Hochglanz-Lebensstil zeigen irgendwann Wirkung. Als einer, dem es deutlich besser geht als vielen Armen, möchte ich mir ja nicht nachsagen lassen, ich würde eine kleinliche „Neiddebatte“ – so das beliebte „Argument“ bestimmter Politiker – vom Zaun brechen: Die Armen nur deshalb vorschieben, um selber mehr vom Kuchen zu kriegen.

Während ich meinen inneren Aufruhr betrachte, denke ich noch einmal an Pater Benigno Beltran. Er schreibt von der ständigen Versuchung, sich von Smokey Mountain zurückzuziehen. Und erklärt, warum er ihr nicht nachgab:

„Viele Leute haben mich gefragt, warum ich mich entschieden habe, auf Smokey Mountain zu bleiben. Sie unterstellen dabei, dass ich eine Wahl hatte. Ich erzähle ihnen dann immer: […] Ich bin nicht auf den Smokey Mountain gezogen, um die Müllsammler zu retten. Ich ging da hin, damit die Müllsammler mich retten.“ (Faith and Struggle on Smokey Mountain, S. 4)

Er hat entdeckt: Den Bezug zu den Armen zu verlieren heißt, den Bezug zu Gott zu verlieren. Und damit einer Hölle näher zu kommen, die nicht aus Pech und Schwefel besteht. Sondern aus nicht enden wollendem Kreisen um sich selbst, unstillbarer Angst und der Unfähigkeit, sich noch über irgendetwas richtig zu freuen. 

Mut zum Aufmachen

Aber nun steht Jesus da und sagt ganz unverblümt: Reich Sein ist leider kein harmloser Sport, sondern ein gravierendes Problem. Es ist auch für die Reichen schlecht. Und für die Armen, für das Gemeinwesen, die Demokratie – für das Klima und die Natur sowieso. Hat Gott dem Reichen Lazarus vor die Tür gelegt, um ihn zu retten?

Denn arm sein ist kein Makel. Arme wünschen sich in der Regel auch kein Mitleid, sondern Respekt. Sie möchten nicht Objekt gut gemeinter Hilfsaktionen sein. Echte Begegnung auf Augenhöhe, aber dazu muss ich mich aufmachen, raus aus der schrumpfenden Wohlstandsblase. Und dann können wir gemeinsam überlegen, was wirklich hilft. Jetzt, hier, in diesem Leben.

Aufmachen muss ich, wenn ich Jesus ernst nehme, auch meinen Mund. Zum krassen Missverhältnis von Reichtum und Armut hier und weltweit kann ich nicht schweigen. Gewiss, Reden allein ändert noch nichts. Aber es wird sich erst recht nichts ändern, wenn wir verlegen und verschämt still halten.

Vielleicht beginnt dieser Mut zum Aufmachen im Gebet. Wenn ich Gott als den Gott der Armen anspreche, so wie Graham Kendrick in „God of the Poor“: Gott der Armen, Freund der Schwachen, lass Tränen wie Regen fallen und mache aus dem Funken unserer Liebe ein Feuer. Hier ist der Song mit einer Einleitung vom Meister persönlich…

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Opa ist kein Engel

Ob die Verstorbenen wohl sehen können, was wir Lebenden so anstellen? Freuen sie sich mit, sind sie traurig oder ärgern sie sich vielleicht über uns? Für Menschen, die nicht der Meinung sind, dass mit dem Tod alles aus ist, ist das ja eine spannende Frage.

Wenn ein Angehöriger stirbt, erzählen Eltern ihren Kindern manchmal, der Opa sei jetzt so eine Art Engel, der auf sie acht gibt und sie beschützt. Ich kann den Wunsch und das Tröstliche hinter dieser Vorstellung gut verstehen. Vor ein paar Wochen ist mein eigener Vater gestorben. Auch er hat sich immer sehr dafür interessiert, wie es uns Kindern und Enkeln denn geht. Sitzt er jetzt gerade vor seiner himmlischen Webcam und schaut mir zu?

Aber vielleicht sind wir Lebenden ja gar nicht so interessant, wie wir meinen. Vielleicht trifft mein Vater da, wo er jetzt ist, alle möglichen Leute, die er schon immer mal kennenlernen wollte. Vielleicht unternehmen sie gemeinsam spannende Sachen und die Zeit vergeht wie im Flug. Und abends vor dem Schlafengehen schaut er nochmal in den himmlischen Nachrichtenticker, ob es heute etwas Wichtiges von uns zu berichten gab. 

Eigentlich wünsche ich ihm, dass es so ist. Und uns allen auch.

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Der Schmerz der anderen

Seit einer Weile lese ich „Den Schmerz der anderen begreifen“ von Charlotte Wiedemann. Ich bin Anfang Dezember über einen Artikel in der taz auf sie aufmerksam geworden. Einiges, womit ich mich im vergangenen Jahr befasst habe, passt dazu.

Zum einen waren das Judith Butlers Gedanken über Gewaltlosigkeit, in denen sie das Kriterium der „Betrauerbarkeit“ eingeführt hat. Manche Opfer von Gewalt und Zerstörung werden betrauert, andere sind anscheinend unsichtbar oder bedeutungslos. Ihnen kann folglich Gewalt angetan werden, ohne dass man dafür zur Rechenschaft gezogen wird.

Die andere große Lernerfahrung war die Vorlesungsreihe von Timothy Snyder über die Geschichte der Ukraine. Sie ist in 23 Teilen auf Youtube zu sehen, und er nimmt darin ständig Bezug auf den Krieg, der dort gerade tobt, und dessen ideologische Rechtfertigung durch die russische Seite: Die Ukraine sei kein richtiges Land und sei es nie gewesen, sie habe nur unter russischer Führung eine Daseinsberechtigung, sie sei korrupt und/oder faschistisch, Teil einer jüdischen/liberalen/westlichen Weltverschwörung gegen das heilige Russland, das seinerseits Erbin des Byzantinischen Weltreichs und Bewahrerin des wahren Christentums sei.

Deutschland, sagt Snyder, hat zwar bei der Aufarbeitung der Shoah viel geleistet, aber die imperialen und kolonialen Aspekte beider Weltkriege im Blick auf Osteuropa und ganz besonders die Ukraine blieben unterbelichtet. Ebenso wie die Tatsache, dass sehr viel mehr osteuropäische als deutsche Juden ermordet wurden. Und die Aussöhnung mit der UdSSR ließ das Unrecht, das Deutsche und Russen den anderen Osteuropäern (Polen, Ukrainer, Balten…) gemeinsam oder je für sich zugefügt haben, weitgehend unerwähnt. In dem Video unten fasst Snyder das alles griffig und nachvollziehbar zusammen.

Diese Woche ist Holocaustgedenktag, da kommt dieser Schmerz (und seine jahrzehntelange Verdrängung) wieder in den Blick. Nicht betrauertes, verschwiegenes und vertuschtes Leid begünstigt offenbar neue Katastrophen. Wiedemann skizziert zu Beginn des Buches die Verwicklungen und Verbindungen für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Den hatten die Siegermächte England und Frankreich auch deshalb gewonnen, weil sie Truppen aus ihren Kolonien in Afrika und Asien einsetzten.

Omar Sy, den meisten von uns eher durch Action und Komödien bekannt, hat sich des Themas in seinem aktuellen Film Tirailleurs angenommen:

Als diese Kämpfer in ihre Heimat zurückkehrten, hofften sie mit Recht, dass das erstrittene Selbstbestimmungsrecht der Völker demnächst auch für sie gelten würde. Aber ihre Unabhängigkeitsbestrebungen wurden brutal unterdrückt. Frankreich etwa setzte dafür die Fremdenlegion ein. Einen Großteil der Legionäre hatte man nach Kriegsende aus deutschen Kriegsgefangenen rekrutiert. So kam es dazu, dass viele Menschen aus den Kolonien, die Frankreich von Hitlers Truppen befreit hatten, von deutschen Söldnern im Auftrag ihrer Kolonialherren mit Kriegsverbrechen überzogen wurden. Sie erlebten genau das, was sie in Europa bekämpft hatten. Kein Wunder also, dass damals immer wieder Parallelen zwischen dem Algerienkrieg und dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurden.

Um solche Verkettungen bewusst zu machen und hoffentlich auch zu unterbrechen, ist es wichtig, sich Rechenschaft zu geben über die „Ökonomie der Empathie“, wie Wiedemann es nennt. Da existieren vielfach blinde Flecken. Im Nachkriegsdeutschland haben wir so lange das eigene Leid in den Vordergund gerückt, dass die Aufarbeitung des Holocausts und deutscher Kriegsverbrechen erst nach Jahrzehnten in Gang kam. Nicht eingeschlossen waren lange Zeit russische Kriegsgefangene, noch etwas länger Sinti und Roma. Und mit den Verbrechen der Kolonialzeit haben wir Deutsche uns sehr viel mehr Zeit gelassen.

Das Gemeinsame all dieser Taten liegt für Wiedemann darin, „den Anderen … aus dem gemeinsamen Menschsein auszuschließen“. Wiedemann erinnert daran, dass es im Blick auf die Shoah eine innerjüdische Debatte zwischen Simon Wiesenthal und Elie Wiesel gab. Wiesenthal wollte die Erinnerung an das eigene Leid in dem Zusammenhang des Leidens anderer Gruppen und Ethnien stellen, Wiesel lehnte das ab und setzte seine Position durch, dass jeder Vergleich eine inakzeptable Relativierung dieses singulären Verbrechens darstellt. Aber Vergleiche werden ständig angestellt und nicht alle sind so empörend und unangemessen wie die Judensterne auf Querdenker-Demos.

Zur Mitte des Buches zieht Wiedemann eine Art Zwischenfazit mit einem Zitat von Fabian Wolff:

Nur wenn die Shoah nicht als hermetisch versiegelter Fakt außerhalb jeder Geschichte verstanden wird, sondern als radikalste Konsequenz einer gewalttätigen Aussonderung und Unterwerfung, als Teil von historischen Prozessen, die nicht 1933 begonnen und nicht 1945 aufgehört haben und in denen es nicht nur um Jüdinnen/Juden und Deutsche geht, kann die Erinnerung an sie die Grundlage dafür sein, dass Auschwitz nie wieder sein wird, egal für wen."

Der Bundestag erinnert diese Woche, 27 Jahre nach Einführung des Holocaust-Gedenktages, in seiner Feierstunde erstmals an die Gräueltaten gegenüber queeren Menschen. In der Aufarbeitung von Völkermord, Staatsterror und Totalitarismus muss die Anerkennung des Leids der unterschiedlichen Gruppen Betroffener jedes einzelne Mal mühsam erkämpft werden, schreibt Wiedemann. Sie erzählt dazu reichlich Beispiele. Wenn es aber einmal geschafft ist, wenn das Gedenken einen Ort und eine Gestalt bekommen hat, dann wundern sich alle, warum es so lange gedauert hat.

Ich bin gespannt, was die zweite Hälfte des Buches noch an Einsichten bringt.

(Foto von Louis Galvez auf Unsplash)

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