Ganz schön verschieden: Was christliche Identität alles aushält

(Blogfassung der Evangelischen Morgenfeier auf Bayern 1 vom 22.09.2024)

Erinnern Sie sich noch an die Eröffnung der Olympiade in Paris? Ich weiß noch genau, wie ich mittendrin die Übertragung einschalte und mir schon nach ein paar Minuten schwindlig wird von all den Szenen, die am Bildschirm vorbeiziehen. Gut erinnern kann ich mich an eine singende blaue, nicht so furchtbar appetitliche Gestalt, die auf einem Teller liegt, der sich wiederum auf einer Art Laufsteg befindet, an dem ein schrilles Publikum sitzt. Mir schießt durch den Kopf: Da hat sich die queere Community von Paris versammelt, um den sittenstrengen Despoten in Moskau oder Teheran eine lange Nase zu drehen! Aber das ist auch gleich wieder vergessen, weil es sofort weitergeht mit Akrobatik, Tanz, Kostümen und rätselhaften Symbolen.

Gott und seine streitbaren Verteidiger

Am nächsten Tag falle ich aus allen Wolken. Da schreibt ein frommer Freund auf Facebook, die Urheber des olympischen Spektakels hätten das christliche Abendmahl verspottet, sie hätten Jesus mit Dionysos, dem griechischen Gott der Fruchtbarkeit und Gelage, vertauscht, und die heiligen Apostel mit Transvestiten. Zwei Bildschnipsel dienen als Beweis. Der eine zeigt das berühmte Abendmahlsgemälde von Leonardo da Vinci – der lange Tisch, alle mit dem Gesicht zum Betrachter, und Jesus genau in der Mitte. Das andere ist einen Bildausschnitt aus der Eröffnung. Man kann, wenn man will, eine grobe Ähnlichkeit behaupten. 

Die Kulturszene zieht das, was uns heilig ist, in den Schmutz, kommentiert mein Freund sinngemäß. Und fügt ein bisschen säuerlich hinzu: Sie haben uns ja noch nie gemocht und die widerspenstige Welt hat nie aufgehört, Gott abzulehnen. 

Huiuiui – was ist denn da los?

„Hast Du das gelesen?“ sage ich und zeige den Post meiner Frau. „Wir haben das doch zusammen angeschaut. Hättest du das so aufgefasst wie unser Freund?“ „Nein, sagt sie. Komisch – ich weiß auch nicht, was er hat.“

Wenige Stunden später läuft das halbe Internet Amok wegen der vermeintlichen Gotteslästerung. Katholische Bischöfe, fromme Influencer und die Krawallpresse reden und schreiben sich in Rage. Alle trampeln auf uns Christen herum, klagen die einen. Bei den Muslimen hätten sie sich das nicht getraut, tönen andere verschnupft, aber mit uns kann man’s ja machen. Viele, denen es gerade zu bunt wird, haben die Szene aus Paris gar nicht selbst gesehen. Sie kennen nur den einen Bildschnipsel, der dem Da-Vinci-Abendmahl ähneln soll. So verbreiten sie ein bereits fertiges negatives Urteil ungeprüft weiter. 

Die angegriffenen Künstler erklären glaubhaft, dass sie keineswegs gegen die Kirchen stänkern wollten. Und selbst wenn, sagen andere – eine Anspielung auf ein religiöses Kunstwerk wäre doch noch lange keine Gotteslästerung. Da Vincis Bild kursiert längst in hunderten von Abwandlungen aller Art. Kein Grund, sich aufzuregen.

 „Wer mich beleidigt, entscheide immer noch ich.“ Das hat mein Freund Michael mal gesagt.  Das ist wunderbar selbstbewusst – und ich frage mich: Warum nur entscheiden sich einige Christen dafür, beleidigt zu sein? Warum interpretierten sie Szenen, die man auch ganz anders deuten könnte, so bereitwillig als Angriff auf Gott und ihr Christsein?

Was tun mit all den Unterschieden?

Was ist eigentlich christliche Identität? Woran macht sie sich fest und wie verhält sie sich zu all den anderen Identitäten, in die Menschen hineingeboren werden oder die sie sich aussuchen – kulturellen, geschlechtlichen und sozialen? Selten wird das so klar beschrieben wie in diesen Worten des Paulus an die Christen in Galatien:

Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 

Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. 

Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.

Galater 3,25-28

Nicht mehr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen. Wie meint Paulus das? Tun wir jetzt einfach alle so, als gäbe es keine Unterschiede zwischen Menschen mehr? Alle gleich? So einfach?

Mir fällt die Geschichte von einem Schulbusfahrer in den Südstaaten der USA ein. Als vor vielen Jahren die Rassentrennung dort endlich aufgehoben wurde und alle ihren Sitzplatz unabhängig von der Hautfarbe wählen durften, sagt sein Chef zu ihm: „Ab heute sind die Kinder für dich nicht mehr schwarz oder weiß, sondern alle sind grün.“ Am nächsten Morgen kommen die Kinder wie immer und hören an der Bushaltestelle: „Die Hellgrünen steigen vorne ein, die Dunkelgrünen hinten.“  

Es ist nicht so einfach. Rassismus sitzt eben tief und verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen. Außerdem hat die Anweisung des Chefs ein paar Denkfehler: Sie lenkt den Blick immer noch auf Farben. Das Grün ist nur eine gedachte Gemeinsamkeit, keine sichtbare, keine echte. Und so sieht der Busfahrer durch seine grüne Brille eben doch wieder die alten Gegensätze. Dabei haben die Schulkinder so viel gemeinsam: Sie sind klein und verletzlich, sie sitzen selten still, sie sind neugierig, und sie wollen alle in die Schule fahren. Die Hautfarbe ist ein ganz und gar unwesentlicher Unterschied. Es fragt ja auch niemand beim Einsteigen, welches Kind gut singen kann oder ob es Koriander im Essen mag.

Zurück zu Paulus. Der weiß das auch: Gott liebt alle Menschen – die traditionsbewussten Juden seiner Zeit und die neugierig-erfinderischen Griechen, die sozial Privilegierten und die Prekären, die mit dem X-Chromosom und die mit dem Y. Und die Reihe ließe sich jetzt noch lange fortsetzen, weil Paulus nur mal drei bekannte Unterschiede herausgreift, an denen sich Menschen immer wieder abarbeiten. Bei Mann oder Frau können wir heute mit homo oder hetero, cis oder trans weitermachen. Statt Juden und Griechen Israelis und Palästinenser sagen oder Ukrainer und Russen, ja sogar Franken und Altbayern oder Einheimische und Zugereiste.

Jeder Mensch, unabhängig von Kultur, Status und Geschlecht, ist ein lebendiges Ebenbild Gottes und repräsentiert Gott in dieser Welt. Alle, die glauben, sind Abrahams und Saras Nachkommen – biologische Kinder (also Jüdinnen und Juden) und adoptierte (wir anderen). Dieses Ziel, diese Bestimmung ist die entscheidende Gemeinsamkeit. Paulus überpinselt nicht alle Unterschiede in einheitlichem Grün. Christen sind nicht etwas Drittes, kein Grün neben Schwarz und Weiß, Blau und Gelb, keine eigene Kultur zwischen allen anderen. Es gibt sie in allen Farben und Sprachen, sehr verschieden, und doch ist da etwas, das sie fest zusammenhält und zugleich Platz schafft für diese erstaunliche Unterschiedlichkeit: 

ihr seid allesamt eins in Christus Jesus.

Der Jude Paulus folgt Jesus, dem Messias nach. Und begegnet dabei Griechen – Nichtjuden – die statt Messias „Christus“ sagen und ihm auch nachfolgen. Er erkennt in ihnen Schwestern und Brüder. Nun aber kann er auf Griechen nicht mehr pauschal herabschauen – als wäre das eine minderwertige Kultur oder eine problematische Herkunft. Wenn ich als christlicher Mann christliche Frauen als gleichwertig und gleichrangig anerkenne, dann gilt das selbstverständlich auch für alle anderen Frauen, weil Gott sie ja ebenso liebt; auch wenn sie es vielleicht noch nicht gemerkt und sich bewusst darauf eingelassen haben.

Uniformieren oder umkrempeln?

„Ihr alle habt Christus angezogen“. 

Damit meint Paulus die Taufe. Christus anziehen – ich stelle mir das bildlich vor wie das Trikot einer Fußballmannschaft oder wie die Schuluniformen, die soziale Unterschiede überdecken sollen. Überdecken, aber eben nicht überwinden: An den Schuhen, der Uhr, der Schultasche oder dem Fahrrad können doch wieder alle ablesen, welches Kind aus einer reichen Familie kommt und welches nicht. 

Hat der Glaube wie eine Schuluniform nur die Kraft, die Trennungen in Privilegierte und Benachteiligte äußerlich zu überdecken? Und ist der Preis dafür eine Uniformierung, die alles Individuelle unterdrückt? Oder geht es tatsächlich darum, diese Ungleichheit gründlich zu überwinden und aus den Köpfen und Herzen herauszubekommen? 

Unterschiede relativieren – das kann ein Schritt dahin sein, sie abzuschaffen.

„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier…“

In den ersten christlichen Gemeinden kamen tatsächlich Sklaven und Freie zusammen. Paulus bezeichnet sich selbst hin und wieder als „Sklave Christi“ und weiß, dass der Tod am Kreuz nicht nur Aufrührern (oder dem, was die Römer dafür halten) droht, sondern auch entlaufenen Sklaven. Daher fordert er einen geschwisterlichen Umgang. Klar weiß Paulus auch: Außerhalb der christlichen Bubble kauft und benutzt der wohlhabende Freie weiterhin mittellose Sklavinnen und Sklaven.

Ich möchte von einem Sklaven erzählen, bei dem sich etwas verändert. 400 Jahre nach Paulus wird er an Englands Westküste von irischen Piraten gekidnappt und mitgenommen übers Meer. Er heißt Patricius und ist noch nicht einmal richtig erwachsen. Seine Besitzer zwingen ihn, die Schafe  für sie zu hüten. Essen gibt es wenig, Kälte und Einsamkeit setzen ihm mächtig zu. Sechs Jahre lang geht das so. Er redet immer öfter mit Gott. Und irgendwann beginnt Gott, zu antworten. Eines Tages sagt er zu Padraig (so heißt er auf Irisch): Geh ans Meer, da liegt ein Schiff, das bringt dich nach Hause. 

Weglaufen ist für einen Sklaven lebensgefährlich, aber Patrick (so schreiben wir seinen Namen heute) riskiert es trotzdem. Und Gott hält Wort: Auf wundersamen Wegen gelangt er zurück nach Hause. Doch die Geschichte endet dort nicht. Im Traum erscheinen ihm immer wieder Iren und bitten ihn, zurückzukommen und ihnen von Gott zu erzählen. Patrick verabschiedet sich von seiner entsetzten Familie und wird zum Apostel Irlands. Mit seinen Begleitern zieht er durchs Land und findet Zuspruch – bei Königen und dem einfachen Volk gleichermaßen.

Der Brite Patrick wurde aus seiner Kultur einmal gewaltsam herausgerissen und dann noch einmal friedlich und freiwillig herausgerufen. Und so wie der Jude Paulus den Griechen ein Grieche sein konnte, wird Patrick den Iren ein Ire. Die Sprache kennt er ja schon. Innerhalb weniger Jahrzehnte wird die heidnische grüne Insel ein mehrheitlich christliches Land, und zwar auf friedlichem Weg. Der Kampf gegen den Sklavenhandel bleibt ein Lebensthema für Patrick. Und tatsächlich: Die Iren stellen diese Praxis kurz nach seinem Tod ein. Damit sind sie ihren europäischen Nachbarn um Jahrhunderte voraus.

Der Riss in Gott

Ich glaube, Patrick versteht sehr gut, was Paulus meint, wenn er schreibt: 

„Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen“ 

Er kann nachempfinden, wie das war, in die Fremde zu gehen: Wie Gott den Abraham aus seiner Heimat Ur im Zweistromland wegschickt, ohne das Ziel der Reise zu verraten. Wie Abraham zusammen mit Sara diesem Ruf folgt und sich löst aus seiner Kultur und von seiner Verwandtschaft. Es ist kein Bruch, aber eine spürbare Distanz zu den feststehenden Identitäten, die sein Leben bisher ausgemacht haben. Wie Abraham loszieht mit nichts als dem Wort eines Gottes, der selbst keine bekannte Adresse hat: Keinen Tempel, zu dem man pilgern könnte, keine Priester, die den Kontakt zu ihm vermitteln, kein Bild oder Symbol, das ihn versinnbildlicht. Alles ist ausgerichtet auf die versprochene Zukunft: Er wird viele Nachkommen haben und der Segen wird sich über die ganze Welt verbreiten. Aber noch ist Abraham, der Prototyp aller Pilger, nicht am Ziel.

Der Theologe Miroslav Volf stammt aus Kroatien und hat den Horror des Balkankriege und der „ethnischen Säuberungen“ miterlebt. Und wie schwer es war, sich dem Hass auf die anderen zu entziehen. Er hebt auch deshalb die Bedeutung dieser Distanz der Glaubenden zur eigenen Herkunft hervor. Menschen wie Abraham oder Patrick sind für ihn 

»… eine Persönlichkeit, die durch Andersartiges bereichert wird; eine Persönlichkeit, die nur deswegen ist, was sie ist, weil sich in ihr viele andere in einer bestimmten Weise widerspiegeln. Die Distanz zu meiner eigenen Kultur, die daraus resultiert, dass ich aus dem Geist geboren bin, schafft in mir einen Riss, durch den andere hereinkommen können. Der Geist entriegelt die Tür meines Herzens, wenn er sagt: “Du bist nicht nur du; andere gehören auch zu dir.”«

Ich bin aus dem Geist geboren, sagt Volf. Ein neuer Anfang ist gemacht, eine neue Kraft ist am Werk, und das wirkt sich auf alle meine Beziehungen aus. Da kommen der Glaube und die Taufe noch einmal in den Blick. Die Taufe, in der sich Gott mit mir identifiziert und ich mit ihm. Denn auch Gott ist so eine „Persönlichkeit“ mit einem Riss, aus dem sein Leben und seine Liebe hervorströmt. 

So richtig sichtbar wird dieser Riss in Jesus, der mit weit offenen Armen am Kreuz hängt. Der diesen irren Schmerz auf sich nimmt, um selbst den Feinden noch zu zeigen: Auch wenn ihr mich ausschließt, ich halte euch die Tür zu Gott offen. Ihr gehört zu mir und durch mich könnt auch ihr Gottes Töchter und Söhne werden.

Es bleibt eine Lebensaufgabe, in diese Identität hineinzuwachsen, die sich anderen nicht verschließt. Diese kleine Geschichte hat mich sehr berührt. Sie zeigt, wie hartnäckig und wie überflüssig Vorurteile sein können:

Parker Palmer ist über 80 und lebt in den USA. Kürzlich war er in einer fremden Stadt unterwegs und stellt sein Auto in einem Parkhaus ab. Als er bei Sturm und Wolkenbruch zurückkommt, kann er den Wagen nicht mehr finden. Ein „Engel“ (so sagt er es) in Gestalt einer schwarzen Angestellten, der er seinen Parkschein vorzeigt, stellt fest, dass er im falschen Parkhaus ist. „Ich habe gleich Feierabend und bringe Sie zu ihrem Auto – ich weiß, wo es steht“, sagt die Frau. Die beiden machen sich zu Fuß auf den Weg. Unterwegs bemerkt sie, dass ihrem betagten Gegenüber im rauen Wetter die Puste ausgeht. Sie setzt ihn in eine Kneipe und lässt sich Schlüssel und Parkschein geben. Parker Palmer wartet. Und wartet. Der Wirt fragt, ob er gerade tatsächlich seinen Schlüssel und Parkschein hergegeben hat, und geht dann kopfschüttelnd über so viel Naivität zurück hinter seinen Tresen. Eine gefühlte Ewigkeit später fährt sein Auto vor. Parker Palmer eilt hinaus in den strömenden Regen und bedankt sich überschwänglich. Die Frau sieht ihn an und sagt: „Wissen Sie, was mir am meisten bedeutet hat? Dass Sie mir vertraut haben.“ Wäre der Regen nicht gewesen, sagt er, man hätte seine Tränen sehen können.

Es muss Schluss sein

In diesem Monat wird der Bundesrat 75 Jahre alt. Beim Festakt in Berlin hat der frühere Innenminister Gerhart Baum über die Bedeutung der Menschenwürde im Grundgesetz gesprochen. 

Gegen Ende seiner Rede kommt der wichtigste Satz: „Es muss Schluss sein mit dem Wahn einer ethnisch reinen Nation“.

Es muss Schluss sein. Paulus hätte Baum zugestimmt, und Abraham und Patrick auch: Wir gehören nie ganz einer bestimmten Kultur an, Wir sind alle „Hybride“. Fremdes ist nicht einfach eine Störung oder Gefahr für die eigene Identität. Ganz ehrlich, manchmal bin ich mir selbst ja fremd. Wenn ich mich dann ängstlich oder beleidigt einigele in meinem Weißsein, meinem Deutschsein oder Mannsein, wird es ziemlich dunkel und einsam. Und egal, wie fromm ich es kaschiere – Gott selbst hätte ich dann mit ausgeschlossen. Wenn bei ihm Platz ist für jemand wie mich, dann ist auch Platz für alle möglichen anderen. Ich bin nicht nur ich.

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Die Noahs kommen

Noah hat sich im vergangenen Jahr wieder an die Spitze der Vornamen-Hitliste für kleine Jungs gesetzt und Matteo auf Platz 2 verwiesen. Es wird ihnen später vielleicht ähnlich gehen wie mir früher (in der fünften Klasse war ich einer von drei Peters), oder wie all den Bens, den Hannas, und was da noch im Trend lag die letzten Jahre.

Was die Eltern im einzelnen zu dieser Wahl veranlasst hat, mag unterschiedlich sein. Ich frage mich allerdings, ob im Falle der Noahs auch das kollektive Unbewusste eine Rolle spielt. Ob es also kein völliger Zufall ist, dass steigende Meeresspiegel, schmelzende Gletscher und zunehmende Extremwetterereignisse (Flut, Dürre, Sturm und Hitze) inzwischen ein stetes Hintergrundrauschen in den Nachrichtenkanälen darstellen.

Und weil wir uns an die Ursachen dafür (und unsere Verstrickung darin) so ungern erinnern lassen, weil viele sich lieber über Klimaproteste aufregen und vor den immer offensichtlicheren Folgen unserer Lebensweise die Augen verschließen – könnte es sein, dass sich das, was da schon die ganze Zeit brodelt, nun eben auf diesem Wege meldet?

Und damit nicht genug – vielleicht steckt ja auch Gott dahinter? Weil er sich freut, wenn sich jemand um den Erhalt der Artenvielfalt sorgt. Weil diese Welt Menschen braucht, die mehr auf ihn hören als auf die Stimmen der Maßlosigkeit und Dominanz. Weil wir das ohne leise und laute, vor allem aber ständig präsente Erinnerungen so schnell aus dem Blick verlieren.

(Beitragsbild von Simon Hurry auf Unsplash)

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Sorgenkinder

„Du bist immer nur so glücklich wie dein am wenigsten glückliches Kind“. Mit diesem Fazit schließt die Fernsehserie „Bad Sisters“. Die ZEile ist bei mir hängengeblieben, nicht nur wegen der verrückten Geschichte, die dort erzählt wird. Sondern weil mir mit einem Schlag Situationen vor Augen standen, wo eins meiner Kinder krank, niedergeschlagen oder verzweifelt war. Und ich ziemlich hilflos.

Wahrscheinlich würden die meisten Eltern zustimmen, dass wir unsere Stimmung vom Glück und Unglück der eigenen Kinder schlicht nicht abkoppeln können. Und das Glück der glücklichen Kinder wiegt aus irgendeinem Grund den Kummer der unglücklichen nie völlig auf.

Ich habe mich gefragt, was das für Gott bedeutet: In der Bibel erscheint er immer wieder als fürsorglicher Vater und mitfühlende Mutter. Also jemand, der sich nicht immunisiert gegen menschliches Leid. Der ohne überlegen zu müssen sofort weiß, wie schlimm sich Armut, Krankheit, Einsamkeit und Hass anfühlen. Wie hält er das geballte Unglück eigentlich aus, das ihm aus dieser Welt täglich entgegenschlägt? 

Vielleicht hat die Antwort zu tun mit dem anderen Verhältnis, das Gott zur Zeit hat. Ich sehe nur, was heute ist, und male mir die Zukunft aus in den Farben von Vergangenheit und Gegenwart. Manchmal, wenn sich alles eintrübt, ergibt das ein düsteres Bild. Gott sieht, was alles noch werden wird. Und vielleicht ist da so viel Gutes dabei, dass er mich – und nicht nur mich – schon jetzt lächelnd ansieht, wo längst noch nicht alles gut ist. 

(Foto von Simran Sood auf Unsplash)

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Das Glück und die Generationenfrage

In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur das Klimaschutzgesetz des schwarzroten Bundesregierung für unzureichend erklärt, sondern auch noch deutlich gemacht, dass die Freiheitsrechte der unterschiedlichen Generationen unmittelbar zusammenhängen. Und dass sie auch so behandelt werden müssen, damit unsere Kinder und Kindeskinder nicht die Lasten unserer Untätigkeit und Ignoranz tragen müssen. Was für ein großartiger Erfolg!

Während ich noch rätselte, ob es lustig, peinlich oder einfach nur dreist unverschämt ist, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier auf das Urteil reagierte wie ein Autofahrer, der bei Rot über die Ampel gefahren ist, und nun auf den Polizisten beschwichtigend einredet („Danke, Herr Wachtmeister, das war ein ganz wichtiger Hinweis, sie machen das großartig!“)  stieß ich auf diesen Segenswunsch aus Tobit 9,1:

„Und Gott gebe, dass ihr eure Kinder und eure Kindeskinder seht bis ins dritte und vierte Glied; und eure Nachkommen seien gesegnet vom Gott Israels, der in Ewigkeit herrscht und regiert!“

Die Bibel kennt ja auch die Klage, dass die Väter saure Trauben gegessen und die Kinder stumpfe Zähne bekommen haben. Aber Gott gibt dem Protest gegen die Fahrlässigkeit der Alten Recht: Unsere Freiheit zu konsumieren darf die Freiheit der Kinder und Kindeskinder nicht auffressen.

Photo by Rod Long on Unsplash

Der Homo Oeconomicus hat keine Kinder, nur einen Taschenrechner

Der Satz aus dem Buch Tobit zeigt: Wahres Glück und ein gutes Leben sind für die Menschen der Bibel nicht ohne das Glück der Kinder und Kindeskinder vorstellbar. Eben diese Lebensperspektive über mehrere Generationen erzieht zur Nachhaltigkeit. Der moderne Individualismus hingegen neigt zur Maßlosigkeit und Verschwendung: Der Homo Oeconomicus aus der neoliberalen Theorie hat keine Kinder, nur einen Taschenrechner. Gletscherschmelze, Meeresspiegel interessieren ihn nicht, da fallen aktuell noch keine Kosten an (oder sie lassen sich noch günstig auf die Allgemeinheit abwälzen).

Aber wir sind eben keine homines oeconomici, sondern allesamt jemandes Kinder; und viele von uns sind zugleich Geschwister, Eltern oder Onkels und Tanten. Wir sind Teil der Familie Gottes aus allen Generationen. Sie gehören zu uns und wir zu ihnen, ebenso wie die/der globale Nächste. Es ist keine Sentimentalität, so zu denken und zu reden, sondern schlichter Realismus.

Zugleich, das muss man ja heute extra betonen, sitzen wir wie in Noahs Arche in einem Boot mit allen Lebewesen. Den Bäumen, den Insekten, den Singvögeln, den Geschöpfen der Tiefsee. Es ist zutiefst beunruhigend, zu hören, nur 3% aller Ökosysteme zu Land sind noch intakt.

Sanfter und lauter zugleich

Nun ist es ja keineswegs so, dass meine Generation aus lauter Klimakillern und die meiner Kinder aus lauter Klimaschützern besteht. Das Urteil der vergangenen Woche erinnert uns alle daran, künftig noch sanfter aufzutreten bei Emissionen, und vor allem noch lauter mitreden bei der Transformation hin zu einer solidarischen, nachhaltigen Lebensweise und zur Klimaneutralität.

Denn vor dem Konsens kommt der Konflikt. Auch das hat dieser Streit gezeigt. Er entscheidet sich auf den Straßen, in den Medien, manchmal vor den Gerichten. Und für uns Ende September in den Wahlkabinen.

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Tonis Tattoo

Im Radio höre ich ein Interview mit dem Fußballer Toni Kroos. Das Gespräch kommt irgendwann auf die vielen Tätowierungen an seinem Körper. Kroos erklärt, dass er sich für jedes seiner Kinder ein Tattoo stechen ließ. Für das nächste sei auch schon ein Platz vorgesehen.

Photo by Julia Giacomini on Unsplash

Ich bin jetzt nicht so der Tattoo-Typ, aber die Geschichte geht mir aus einem anderen Grund nach: Manchmal fühlen sich Menschen von Gott vergessen, wenn sie schwere Zeiten durchmachen. In eine solche Situation hinein spricht Gott in der Bibel einmal folgenden Satz:

Kann Mutter ihr Kind vergessen? Und selbst wenn sie es vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.

Jesaja 49,15

Anders gesagt: Auch Gott trägt Tattoos mit den Namen/Gesichtern der Seinen. Er kann das nicht einfach abstreifen oder ausradieren. Wir stellen uns Gott ja eher körperlos vor, aber in der Bibel ist immer wieder von seinen Händen, seinem Arm oder seinem Gesicht die Rede. Ein Gott also, der zupackt. Der hinschaut. Und der nicht schweigt.

Was für eine gewagte Vorstellung: Wie eine Mutter nicht aufhört, ihre Kinder mit sich herumzutragen, bloß weil die inzwischen selber laufen können oder ausgezogen sind, so trägt Gott uns mit sich herum – eintätowiert in seine Schöpferhände.

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Nochmal: Männer

Die Begeisterung für Männergruppen und Männerarbeit hat bei mir nie gezündet. Ich fühle mich unter Männern wohl, aber ich bin da auch nicht mehr ich selbst als sonst. Ich bin recht gut ohne Initiationsriten durchs Leben gekommen (auch wenn mir jetzt vermutlich gleich ein paar Leser beweisen wollen, dass mir Substanzielles für meine Identität entgangen ist und ich das bloß nicht erkenne oder wahrhaben will). Macho-Christen wie Mark Driscoll und klischeeverhaftete Bücher wie die von John Eldredge fand ich immer ausgesprochen peinlich.

Wil Stewart

Diese Woche habe ich zum ersten Mal begriffen, warum wir uns tatsächlich dringend um Männer kümmern müssen. Ulrich Brand und Markus Wissen beschreiben in ihrem Buch „Imperiale Lebensweise“ sehr zutreffend, dass sich unser aktuelles Krisen-Konglomerat aus Klimawandel, Ressourcenextraktion, Externaliserung der ökologischen und sozialen Kosten, und einer Tendenz zu autoritären und hierarchischen Formen der Machtausübung  tief in die Geschlechterverhältnisse eingeschrieben hat. Immer noch verrichten Frauen weit mehr unbezahlte Sorgearbeit oder schlecht bezahlte ungelernte Tätigkeiten. Und Männer haben im Schnitt nicht nur marginal größere Füße, sondern mit ihrer Liebe zu Verbrennungsmotoren oder ihrem deutlich höheren Fleischkonsum einen wesentlich höheren ökologischen Fußabdruck als Frauen: „Der andro- und eurozentrische Lebensentwurf einer hegemonialen Männlichkeit ist integraler Bestandteil der imperialen Lebensweise.“ (S. 54)

Also lasst uns all die Sachen machen, die Männer toll finden…

… Moment, stop, nein:

Lasst uns Sachen finden, die Männer gern tun, ohne dabei gleichzeitig anderen die Folgekosten für den Spaß aufzubürden. Ohne Diesel und Dry Aged Beef. Und währenddessen reden wir dann von Mann zu Mann darüber, wie wir die Verantwortung dafür übernehmen können, dass künftige Generationen auf dieser Erde in Frieden leben. Über den Mut zu anderen Lebensentwürfen als dem androzentrischen und imperialen.

So könnte ein Schuh draus werden. Und wenn Frauen gelegentlich dabei wären, wäre das kein Problem.

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Batman und der brennende Busch

Vielleicht lag es daran, dass ich letzte Woche „Black Panther“ im Kino gesehen hatte. Als ich nun darüber nachdachte, wie sich der Name Gottes – je nach Gusto „Ich bin, der ich bin“, „Ich werde sein, der ich sein werde“, „Ich bin der Ich-bin-da“ – für Grundschulkinder erschließen lässt, fiel mir jedenfalls Batman ein.

Paul Green

Wir sprachen im Unterricht über die merkwürdige Selbstbezeichnung JHWHs gegenüber Mose in der Wüste am brennenden Busch. „Ich bin, der ich bin“, das könnte jede(r) von uns auch von sich sagen, ohne dabei viel von sich preis zu geben. Dann zeigte ich das Batman-Logo und fragte, welche Gemeinsamkeit der Comic-Held mit Gott hat.

Die Antwort kam prompt: „Auch Batman verrät nicht, wie er heißt.“

Es steckt offenbar doch einiges an Theologie in den Superhelden-Stories:

  • Weil Batman keine Adresse hat, kann er überall auftauchen, aber er lässt sich auf keine fixe Position festlegen.
  • Das einzige, womit die Leute rechnen können, ist, dass er zu Hilfe kommt, wenn sie in Not sind und dass er auf der Seite der Gerechtigkeit steht.
  • Und weil niemand seinen bürgerlichen Namen kennt, wahrt er dabei stets sein Geheimnis.

Israels Gott hat im Unterschied zu Bruce Wayne keinen bürgerlichen Namen. Auch da waren die Kinder gestern großartige Theologen. Eins vermutete, Gott habe überhaupt keinen Namen, ein anderes meinte, Gott habe zu viele Namen, um nur einen nennen zu können. Beide haben Recht.

In der paradoxen Spannung, dass seine vielen Namen jeweils einzelne Facetten von Gottes Wesen erhellen (und gleichzeitig andere verhüllen), dass aber kein einzelner Name alles abbilden könnte, was Gott ist – geschweige denn den Wandlungen unseres Gottesbildes im Laufe eines Lebens gerecht zu werden – darin liegt schon viel Wahrheit und Weisheit.

Das Beste aber ist, dass es schon Kinder verstehen. Und Batman wird sie von jetzt ab immer dran erinnern.

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Mal wieder Kulturkampf

Jesus hat die Familie radikal neu definiert und Geschlechterstereotype aufgeweicht, daran erinnert unter anderem der Predigttext für den kommenden Sonntag, in dem wir lesen: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“

Mit der Christologie haben die Autoren und Unterzeichner des Nashville Statement wenig am Hut. Sie spielt keine Rolle für ihre eher am Naturrecht und am Begriff der Schöpfungsordnung, und einem fundamentalistischen Bibelverständnis orientierten Einlassungen. Die Sprache der modernen Biologie wird da aufgegriffen, wo sie genehm ist („male and female reproductive structures“), und ihre Erkenntnis abgelehnt, wo es nicht ins Weltbild passt: Adam und Eva sind buchstäblich – offenbar im Sinne von „historisch“ – die ersten Menschen.

Mit anderen Worten: Binäre Heteronormativität wird hier ausdrücklich zum Dogma erhoben. Es wird explizit bestritten, dass es im Blick auf einzelne Menschen unklare Zuordnungen geben kann. Sie liegt bestenfalls in willkürlichen und fehlerhaften Selbstbeschreibungen oder Zuschreibungen begründet.

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Michael Prewett

Dann kommt der Artikel 10, er lautet: „WE AFFIRM that it is sinful to approve of homosexual immorality or transgenderism and that such approval constitutes an essential departure from Christian faithfulness and witness.“ Sünder sind also nicht nur alle, die sich als homosexuell oder Transgender betrachten und bezeichnen, sondern auch alle, die das billigen und unterstützen.

Hier ist unter Christen keine Meinungsverschiedenheit möglich, sagt das Dokument. Und auch wenn die folgenden Artikel von Vergebung und Gnade handeln, so ist doch sonnenklar, dass diese nur den Bußfertigen zuteil wird. Wer auf seiner abweichenden Meinung und Haltung beharrt, der ist verloren.

Ich habe eben als Kontrast die Barmer Theologische Erklärung durchgelesen. Gegen die Ideologie des Dritten Reiches haben die Autoren damals strikt christologisch argumentiert. Nur so konnten die plumpen Biologismen des Rassenwahns und totalitäre Machtansprüche abgewehrt werden. Aber statt sich über die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus zu definieren, definierten sie sich über den Bezug zu Christus.

Rechtsevangelikale in den Staaten waren schon immer gern ein bisschen Anti: Gegen kritische Bibelwissenschaft, gegen Evolutionsbiologie, gegen Sozialismus und Kommunismus. Das, was man ablehnte, hatte man oft weder richtig verstanden noch fair dargestellt. Insofern ist auch dieser Schritt noch nichts Neues.

Aber das Nashville-Statement macht eine Art Anti-Genderismus zur Glaubensgrundlage mit totalitärem Geltungsanspruch. Im Gegensatz zur Barmer Erklärung wird nur noch abstrakt auf die Bibel verwiesen, aber nicht mehr ausdrücklich aus ihr zitiert. Und das Statement führt neue Glaubensgegenstände ein, die in den bisherigen Bekenntnissen nie eine Rolle gespielt hatten. Es hat diese Inhalte auch nicht aus der Schrift entwickelt, sondern sie aus der Gegenwartskultur importiert und inhaltlich ins Gegenteil gekehrt. Das wird dann zum nicht verhandelbaren Kernbestand des Glaubens erhoben, so dass der Widerspruch gegen diese dogmatische Neuschöpfung zum Bruch mit Gott selbst führt.

Also, wenn das kein Paradebeispiel für Synkretismus ist…

Die spannende Frage wird nun sein, ob und wie dieser Aufruf zum Kulturkampf in der evangelikalen Welt rezipiert wird. Ein paar progressive Stimmen haben schon Gegenerklärungen veröffentlicht. Das ist keine große Überraschung. Aber in Anbetracht dessen, wie fragwürdig hier aktiv Bekenntnisbildung betrieben wird, müsste der Widerspruch eigentlich noch viel breiter und energischer ausfallen, als es in den ersten Tagen nach dem Erscheinen der Artikel geschehen ist. Einfach nur schweigen ist eigentlich keine akzeptable Option.

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Familie, wie sie immer war

In der Diskussion um die vielfältigen Formen von Familie geschieht es immer wieder, dass jemand unter Verweis auf Natur und Biologie versucht, eine normative Aussage zu machen – also zu bestimmen, was eine „richtige“ oder „normale“ Familie ist und was nicht.

Dabei ist Familie – verlässliche Fürsorge verschiedener Generationen – von Anfang an ein soziales Phänomen, das über Blutsverwandtschaft (und damit die reine Biologie) weit hinausgeht. Selbst Verfechter eines konservativen Familienbildes versuchen ja lobenswerterweise, einem Adoptivkind zu vermitteln, dass es genauso zur Familie gehört und genauso geliebt wird. In früheren Zeiten (die unter Konservativen gern romantisiert und idealisiert werden) mit hoher Sterblichkeit und niedriger Lebenserwartung mussten Verwitwete sich schon aus wirtschaftlichen Gründen möglichst schnell einen neuen Partner suchen. Auch das waren „Patchworkfamilien“.

Tief in die Theologie hinein reicht das Thema der Adoption. Für Paulus sind die Christen Gotteskinder, deren Status nicht auf Abstammung beruht (und selbst das wäre noch mehr als nur „Biologie“…), sondern auf der Annahme durch Gott, der Erwählung und dem damit verbundenen Versprechen. Auch hier ist Familie ein primär soziales Gebilde. Da, wo im Neuen Testament im Blick auf Familie normativ geredet wird, geht es um Haltungen und den Umgang innerhalb der Familie: Um Fürsorge, Achtung, Liebe und Geduld.

Wenn ich mit einer Schulklasse über das Thema Familie rede, dann finde ich dort praktisch alle Formen versammelt: Großfamilien (ein Schüler erzählte, sein Vater habe 21 Geschwister), Teilfamilien, bürgerliche Kleinfamilien, Patchwork- und vielleicht auch Regenbogenfamilien. Hier eine Rangordnung der Normalität und Würdigung aufzumachen, hieße vor allem, ausgerechnet das abzuwerten, was vielen Schülern (wenn nicht den meisten) Halt und Heimat gibt.

Solche Spaltungen und Demütigungen sollten wir uns ersparen. Sie sind tatsächlich unbiblisch.

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Das Ende der Ungleichmacherei

Beim Thema Schöpfungsspiritualität bin ich (nicht zum ersten Mal) auf einen Zusammenhang gestoßen, der mich noch weiter beschäftigt hat. Ob bei den keltischen Christen oder in der mittelalterlichen Tradition des Franziskus oder der Hildegard von Bingen, überall da, wo ein positives Verhältnis zu Natur und Schöpfung vorherrschte (so häufig war das in der westlichen Christenheit nicht), hatten Frauen einen besseren Stand in der Kirche.

Und dort wo Frauen unterdrückt wurden, stellte sich oft auch kein ungetrübtes Verhältnis zur Natur ein. Heute wieder wunderbar zu besichtigen im neoreformierten Christentum, während der „grüne“ Papst Franziskus bei seinen Kritikern, die das Feindbild des Ökofeminismus pflegen, auch schon im Verdacht steht, Frauen zu viele Zugeständnisse zu machen.

Sind das lediglich Koinzidenzen oder besteht ein innerer, theologischer und spiritueller Zusammenhang? Wächst beides aus einer gemeinsamen Grundhaltung? Ich habe bei Ina Praetorius, die sich in Wirtschaft ist Care unter anderem mit der „Dichotomisierung der Menschheit“ befasst, Auszüge aus dem dritten Buch von Aristoteles’ Politik gefunden, die offenbar eine lange Wirkungsgeschichte hatten.

That Way by Wil C. Fry, on Flickr
Creative Commons Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 2.0 Generic License   by  Wil C. Fry 

Bisher hätte ich ja eher auf manichäische Tendenzen aus der augustinischen Theologie getippt. Aber aus den folgenden Zeilen lässt sich unschwer erkennen, wie soziale, geschlechtliche und geistig/materielle Dualismen schon seit der hellenistischen Zeit eng verknüpft sind und wie tief die Polemik gegen eine angebliche „Gleichmacherei“ in einer symbolischen Ordnung wurzelt, die zum Glück längst tiefe Risse bekommen hat, dafür aber um so verbissener verteidigt wird:

Das Lebewesen besteht primär aus Seele und Leib, wovon das eine seiner Natur nach ein Herrschendes, das andere ein Beherrschtes ist. […] Denn die Seele regiert über den Körper in der Weise eines Staatsmannes oder Fürsten. Daraus wird klar, dass es für den Körper naturgemäß und zuträglich ist, von der Seele beherrscht zu werden. […]

Gleichheit oder ein umgekehrtes Verhältnis wäre für alle Teile schädlich. […] Desgleichen ist das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen von Natur so, dass das eine besser, das andere geringer ist, und das eine regiert und das andere regiert wird. […] Auf dieselbe Weise muss es sich nun auch bei den Menschen im Allgemeinen verhalten.

Diejenigen, die so weit voneinander verschieden sind wie die Seele vom Körper und der Mensch vom Tier […] , diese sind Sklaven von Natur, und für sie ist es, wie bei den vorhin genannten Beispielen, besser, auf die entsprechende Art regiert zu werden. […] Es ist also klar, dass es von Natur Freie und Sklaven gibt und dass das Dienen für diese zuträglich und gerecht ist.

So gesehen könnte man sagen, dass sich von der Abschaffung der Sklaverei und autoritärer Staatsformen über die Gleichstellung der Geschlechter und die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt bis hin zum Ringen um ein gewaltfreies Verhältnis zur Natur ein einziger langer Kampf darum abspielt, diese fatalen Machtverhältnisse aufzulösen, die Aristoteles mit all seinen Zeitgenossen und Nachfolgern für die Grundordnung der Welt hielt. Die Spur der Dichotomisierung lässt sich über Bacon und Kant bis zu Hegel und Marx verfolgen, wie Praetorius zeigt. „Männliche“ Naturaneignung (der Eroberer, der Wissenschaftler, der Technokrat) und passive „Weiblichkeit“ stehen einander gegenüber.

Männer, die sich selbst gern als intellektuelle und spirituelle Wesen betrachten, die ihre Körperlichkeit verachten und, so gut es geht, verdrängen, projizieren diesen Aspekt des Menschseins auf Frauen und sehen in diesen vor allem das körperliche Wesen, das sie nicht sein wollen. Jede Form von Gleichheit zwischen Männern und Frauen erschüttert dieses illusionäre Selbstbild – und den damit verbundenen hierarchischen Machtanspruch.

Luther hielt ja bekanntlich gar nichts von Aristoteles. Er hatte wohl andere Gründe dafür als wir, aber vielleicht war seine Intuition ja trotzdem gar nicht so falsch. Bringen wir also zu Ende, was er begonnen hat, indem wir eine postdualistische Sicht auf die Welt entwickeln, die mit Unterschieden anders umzugehen lernt. Zum Beispiel auch dem zwischen Autochthonen und Zuwanderern.

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Ehe für alle?

Den folgenden Text habe ich für den Lorenzer Kommentargottesdienst gestern geschrieben. Das Thema hat mich ja verschiedentlich hier schon beschäftigt, dies ist die momentane Quintessenz meiner Überlegungen. Die Diskussion verlief erwartungsgemäß kontrovers. 

„Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Dieser Satz könnte sich in diesen Tagen wieder einmal bewahrheiten – nicht überall auf der Welt, aber in den meisten westlichen Ländern. Familie, das wissen wir alle schon länger (auch wenn die Bewertungen dieses Sachverhalts unterschiedlich ausfallen), ist im 21. Jahrhundert nicht mehr nur das klassische Vater-Mutter-1,2 Kinder-Arrangement. Ein ähnlicher Wandel bahnt sich nun im Verständnis der Ehe an:

Am 22. Mai dieses Jahres sprachen sich fast zwei Drittel der überwiegend katholischen Iren per Volksentscheid für die Einführung der „Ehe für Alle“ aus. Am 26. Juni entschied der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, dass gleichgeschlechtlichen Paaren nirgendwo im Land die Eheschließung verwehrt werden darf. Richter Anthony Kennedy – ein Konservativer aus einer irisch-katholischen Familie – begründete das Urteil so:

Kein Bund ist tiefgründiger als die Ehe. Er vereint in sich die höchsten Ideale der Liebe, Treue, Hingabe, Aufopferung und Familie. Indem sie die Ehe eingehen, werden zwei Menschen zu etwas Größerem als zuvor. Wie manche Kläger uns zeigen, verkörpert die Ehe eine Liebe, die so groß ist, dass sie sogar den Tod überdauert. Anzunehmen, dass diese Männer und Frauen die Idee der Ehe nicht respektieren, würde ihnen nicht gerecht. Sie respektieren sie, sie respektieren sie so sehr, dass sie diese Erfüllung für sich selbst wünschen. Ihre Hoffnung ist, dass sie nicht dazu verdammt sind, in Einsamkeit zu leben, ausgeschlossen von einer der ältesten Institutionen der Zivilisation. Sie erbitten sich die gleiche Würde vor dem Gesetz. Die Verfassung garantiert ihnen dieses Recht.

In Deutschland scheitert eine vergleichbare Regelung bekanntlich noch am Bauchgefühl von Kanzlerin Angela Merkel. Aber die große Resonanz auf die Entscheidungen in Irland und den USA lässt ahnen, dass sich die „Ehe für alle“ auch bei uns bald durchsetzt. Hier wie dort gibt es freilich beachtliche Minderheiten, bei denen diese Neudefinition schwere Bauchschmerzen verursacht. Unter ihnen sind auch viele sehr religiöse Menschen. Zugleich fällt auf, dass die Differenzen nicht nur durch unterschiedliche soziale Milieus bedingt sind, sondern auch mit dem Alter zu tun haben. Viele meiner konservativen Bekannten räumen im persönlichen Gespräch ein, dass ihre Kinder völlig anders denken als sie selbst.

Aber es wäre zu einfach, diese Diskussion auf simple Gegensätze wir konservativ und progressiv, evangelikal und liberal, bibeltreu und zeitgeistaffin oder jung und alt zu reduzieren. Viele von uns sind groß geworden mit einem mal mehr, mal weniger modernisierten Bild der christlichen Familie, in der die „Ehe von Mann und Frau als gute Gabe Gottes“ gilt (so sagt es die lutherische Trauagende) und Kinder als der sichtbare Segen des Ehestandes (so haben wir es gesungen). Solche Texte sind die kulturelle Brille, durch die wir die Schrift lesen und auslegen.

Seit die Aufklärung den – wie sie fand: potenziell intoleranten – Glauben sanft in die Privatsphäre abgedrängt hatte, seit jeder preußische Untertan nach seiner Façon selig zu werden hatte (aber bitte ohne sich in die Politik einzumischen), entdeckte die Kirche die Förderung und Besserung der Familie als Aufgabenfeld. Gefallene Mädchen, unverheiratete Töchter, Witwen und Waisen sowieso, trinkende Väter oder Mütter, deren Genesung Not tut. In Ermangelung anderer Gottesbeweise füllte die glückliche – oder zumindest anständige und um Besserung bemühte – Familie diese Lücke. Die Kirchen waren bei Trauung, Geburt und Taufe präsent und betrachteten diese Art der Familienpflege als Kernkompetenz. Singles und Geschiedene hielt die kerngemeindliche Familienseligkeit mancherorts auf Distanz. Und im evangelischen Pfarrhaus als Mittelpunkt der Gemeinde wurde das christlich-bürgerliche Familienideal modellhaft vorgelebt.

Eher vereinzelt und leise erinnerten evangelische Theologen daran, dass Jesus und Paulus unverheiratet waren und die höchste Bestimmung des Menschen nicht in der Rolle als Eltern und Ehepartner sahen, sondern im Trachten nach dem Reich Gottes. Immer wieder wurde hingegen das Gegenüber von Mann und Frau aus der Schöpfungsgeschichte auf Gott projiziert. Das eigentliche Ebenbild Gottes ist aus dieser Perspektive nicht der einzelne Mensch oder die Menschheit insgesamt, sondern Mann und Frau, das heterosexuelle Ehepaar, die einander in ihrer Unterschiedlichkeit annehmen, lieben und ergänzen. Diese Konstruktion des Geschlechterverhältnisses war insofern sympathisch, als sie die traditionelle Unterordnung der Frau unter den Mann aufweichte. Der Preis war eine theologische Überhöhung dieser geschlechtlichen Polarität zu einer absoluten, Gott- und naturgegebenen „Schöpfungsordnung“, die als das Fundament von Kirche und Gesellschaft unbedingt zu verteidigen ist.

In fast jedem öffentlichen Gebäude erinnern uns die Toiletten daran, dass Menschen – zumindest für Architekten und Bürokraten – entweder als Frauen oder als Männer existieren. Was – und vor allem wer – sich nicht in dieses binäre Entweder/Oder fügt, gilt unwillkürlich als schräg, stur oder neurotisch. Legt man aber diese kulturbedingte „heteronormative“ Brille ab, ergibt sich ein komplexeres Bild: „Männlich“ und „weiblich“ sind keine transzendentalen Kategorien und keineswegs immer exklusiv auf einander bezogen: Ein „Mann“ ist nicht dadurch definiert, dass ihm alles vermeintlich Weibliche fehlt (und umgekehrt), und das Begehren richtet sich ebenfalls nicht ausschließlich auf das „ganz andere“. Versuche, geschlechtliche Uneindeutigkeiten zu ignorieren oder sie durch medizinische Eingriffe verschwinden zu lassen, haben immenses Leid verursacht. Wenn also „normal“ nicht nur einen statistischen Durchschnitt, sondern einen anzustrebenden Zustand bezeichnet, dann muss die Norm hier neu definiert werden. Das ist anstrengend und schmerzhaft.

Normen und Bauchgefühle – der gesellschaftliche Kontext dieser Diskussion ist der Bedeutungsverlust der oft sehr kirchlich gesinnten „bürgerlichen Mitte“ in Deutschland. Der Jesuit Eckhart Bieger schreibt dazu treffend:

„Die Bürgerliche Mitte entwickelt eine eigene Mentalität, einfach deshalb, weil alle anderen Lebenswelten in einem Abstand zur Mitte leben. Deshalb fühlen sich die Bewohner der Mitte als die Normalbürger. Sie müssen nicht darüber nachdenken, sondern sie erleben alle an anderen Milieus als abweichend von der Mitte […] Sie erwarten, dass andere sich ihnen anpassen.“

Nun könnte man die Bemühungen um die Ehe für alle ja durchaus so verstehen, dass hier Ideale der bürgerlichen Mitte in andere Milieus ausstrahlen. Aber diesem droht der Verlust eines identitätsstiftenden Alleinstellungsmerkmals, wenn das Andere „normal“ sein darf. Dieser „Werteverfall“ wird als Kränkung und Herabsetzung erlebt: Die „Ehe für alle“ relativiert das bisherige Eheideal, und diese Relativierung ist eine gefühlte Beschädigung – auch der eigenen Person und Lebensgeschichte.

Im Gegensatz zum bürgerlich-neuzeitlichen Eheideal sind die biblischen Aussagen zur Ehe erstaunlich vielschichtig und unsystematisch. Die Vielehe etwa tritt stillschweigend zurück, wird aber nirgends ausdrücklich für abgeschafft erklärt. Eine Definition im engeren Sinn fehlt.

Dass der Versuch, die unterschiedlichen Positionen zur Ehe für alle auf den Konflikt zwischen Bibeltreuen und Bibelverächtern zu reduzieren, nicht aufgeht, lässt sich an eben jenen Texten aus der biblischen Urgeschichte zeigen, die immer wieder zur Begründung einer nicht verhandelbaren „Schöpfungsordnung“ herangezogen wurden.

Wir haben in Genesis 1 und 2 zwei unterschiedliche Erzählungen. Dass sie hintereinander stehen, hat zu dem Fehlschluss Anlass gegeben, die zweite Geschichte baue auf die erste auf und erzähle sie weiter, und in Folge dessen hat man (ähnlich wie das klassische Krippenspiel es mit den Geburtsgeschichten von Matthäus und Lukas macht) die einzelnen Aussagen munter vermischt.

In Genesis 1 lesen wir von der Gattung Mensch und nicht von einzelnen Exemplaren:

Gott sprach: Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis! Sie sollen schalten über das Fischvolk des Meeres, den Vogel des Himmels, das Getier, die Erde all, und alles Gerege, das auf Erden sich regt.
Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie.
Gott segnete sie, Gott sprach zu ihnen: Fruchtet und mehrt euch und füllet die Erde und bemächtigt euch ihrer! Schaltet über das Fischvolk des Meers, den Vogel des Himmels und alles Lebendige, das auf Erden sich regt!

Es ist hier mit keinem Wort gesagt, dass es im Anfang nur zwei Menschen gab, so wie es auch von den Tieren nicht vorausgesetzt ist, dass im Urzustand (ähnlich wie auf der Arche Noah) nur je ein Paar vorhanden war. Hätten wir die zweite Geschichte nicht immer schon im Ohr und im Hinterkopf, wären wir aufgrund dieses Textes vermutlich nie auf eine solche Idee gekommen. Die Menschen sollen sich vermehren, ebenso wie die Erde ihrerseits Tiere und Pflanzen hervorbringt. Über das, was wir unter Ehe verstehen, ist damit noch gar nichts ausgesagt, sogar die Substantive „Mann“ und „Frau“ fehlen.

Umgekehrt fehlt der Gedanke der Fortpflanzung nun in der zweiten Schöpfungserzählung. Hier deuten sich leise Elemente eines biblischen Eheverständnisses an, wenn am Ende einer langen Reihe inkompatibler Lebewesen die „Männin“ – so übersetzte Martin Luther – erscheint. Zunächst aber ist der Mann ganz allein im Garten:

ER, Gott, sprach: Nicht gut ist, dass der Mensch allein sei, ich will ihm eine Hilfe machen, ihm Gegenpart.
ER, Gott, bildete aus dem Acker alles Lebendige des Feldes und allen Vogel des Himmels und brachte sie zum Menschen […] Aber für einen Menschen erfand sich keine Hilfe, ihm Gegenpart.
ER senkte auf den Menschen Betäubung, dass er entschlief, und nahm von seinen Rippen eine und schloss Fleisch an ihre Stelle. ER, Gott, baute die Rippe, die er vom Menschen nahm, zu einem Weibe und brachte es zum Menschen.
Der Mensch sprach: Diesmal ist sie’s! Bein von meinem Gebein, Fleisch von meinem Fleisch! Die sei gerufen Ischa, Weib, denn von Isch, vom Mann, ist die genommen. Darum lässt ein Mann seinen Vater und seine Mutter und haftet seinem Weibe an, und sie werden zu Einem Fleisch. (2,18-24)

Nun kann man den Hinweis auf die Intimität zwischen Mann und Frau zwar so lesen, dass Kinder die natürliche Folge davon sind. Dennoch zeigt sich deutlich, dass die Fortpflanzung nicht der Stiftungsgrund für das Verhältnis von Mann und Frau ist, sondern das beherrschende Thema dieser Zeilen ist die Partnerschaft und das Gegenüber beider, den Kontrast bildet die Einsamkeit. Der Geschlechterunterschied tritt hier auffällig zurück hinter die Betonung der Ebenbürtigkeit und Ähnlichkeit von Mann und Frau. Kinder können dazugehören, müssen aber nicht.

Ehe lässt sich also ohne Bruch mit der biblischen Überlieferung, wenn auch nicht ohne die Brillen manch kirchlicher Tradition abzusetzen, inklusiv verstehen. Nicht die korrekte Geschlechterverteilung macht sie aus, sondern Ebenbürtigkeit, Zuneigung, Treue und Fürsorge. Wer sich danach sehnt und darauf einlässt, sollte auch in den Kirchen nicht am zeremoniellen Katzentisch abgespeist werden.

Dann können wir auch in Ruhe die politischen Entscheidungen abwarten. Letzte Woche schrieb die 13-jährige Lily an die Kanzlerin, sie solle der „Ehe für alle“ zustimmen. Heiraten zu dürfen gehöre zu den Grundbedürfnissen wie Nahrung und Wasser. „Jeder“, so schreibt sie, „verdient eine Chance auf ein gleichermaßen glückliches Leben. Finden Sie nicht auch?“

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Schöpfung, Ehe und Fortpflanzung

Eigentlich hatte ich nicht vor, zu meinem Post von letzter Woche noch eine Fortsetzung zu schreiben, aber nachdem die Diskussion unerwartet lebhaft ausfiel, möchte ich noch einen Gedanken nachlegen. Und zwar dazu, wie wir mit den biblischen Schöpfungserzählungen sachgemäß umgehen können. Nennen wir es doch ein Experiment zur inklusiven Bibelauslegung.

Wir haben in Genesis 1 und 2 zwei sehr unterschiedliche Texte, die von derselben Sache handeln. Dass sie hintereinander stehen, hat zu dem Fehlschluss Anlass gegeben, die zweite Geschichte baue auf die erste auf und erzähle sie weiter, und in Folge dessen hat man (ähnlich wie das klassische Krippenspiel es mit den Geburtsgeschichten von Matthäus und Lukas macht) die einzelnen Aussagen wild vermischt. Zur Klarheit hat das nicht immer beigetragen.

Also, der Reihe nach: In Genesis 1 lesen wir (ich habe die Übersetzung von Martin Buber gewählt) von der Gattung Mensch und nicht von einzelnen Exemplaren:

Gott sprach: Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis! Sie sollen schalten über das Fischvolk des Meeres, den Vogel des Himmels, das Getier, die Erde all, und alles Gerege, das auf Erden sich regt.

Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie.

Gott segnete sie, Gott sprach zu ihnen: Fruchtet und mehrt euch und füllet die Erde und bemächtigt euch ihrer! schaltet über das Fischvolk des Meers, den Vogel des Himmels und alles Lebendige, das auf Erden sich regt!

Es ist mit keinem Wort gesagt, dass es im Anfang nur zwei Menschen gab, so wie es auch von den Tieren nicht vorausgesetzt ist, dass im Urzustand (ähnlich wie auf der Arche Noah) nur ein Männchen und ein Weibchen vorhanden war. Hätten wir die zweite Geschichte nicht immer schon im Ohr und im Hinterkopf, wären wir aufgrund dieses Textes vermutlich nie auf eine solche Idee gekommen. Die Menschen sollen sich vermehren, ebenso wie die Erde (die Begriffe sind fast identisch!) ihrerseits Tiere und Pflanzen hervorbringt. Über das, was wir unter Ehe verstehen, ist damit noch gar nichts ausgesagt, sogar die Begriffe „Mann“ und „Frau“ fehlen noch.

Interessanterweise fehlt der Gedanke der Fortpflanzung nun in der zweiten Schöpfungserzählung. Da ist dann von Mann und Frau die Rede: Hier ist (anders als in Kapitel 1) der Mann zunächst ganz allein (!) unter den Bäumen, dann erst schafft Gott die Tiere. Und hier deuten sich leise Elemente eines biblischen Eheverständnisses an, wenn am Ende einer langen Reihe inkompatibler Lebewesen die „Männin“ erscheint:

ER, Gott, sprach: Nicht gut ist, daß der Mensch allein sei, ich will ihm eine Hilfe machen, ihm Gegenpart.

ER, Gott, bildete aus dem Acker alles Lebendige des Feldes und allen Vogel des Himmels und brachte sie zum Menschen, zu sehn wie er ihnen rufe, und wie alles der Mensch einem rufe, als einem lebenden Wesen, das sei sein Name. Der Mensch rief mit Namen allem Herdentier und dem Vogel des Himmels und allem Wildlebenden des Feldes. Aber für einen Menschen erfand sich keine Hilfe, ihm Gegenpart.

ER senkte auf den Menschen Betäubung, daß er entschlief, und nahm von seinen Rippen eine und schloß Fleisch an ihre Stelle. ER, Gott, baute die Rippe, die er vom Menschen nahm, zu einem Weibe und brachte es zum Menschen.

Der Mensch sprach: Diesmal ist sies! Bein von meinem Gebein, Fleisch von meinem Fleisch! Die sei gerufen Ischa, Weib, denn von Isch, vom Mann, ist die genommen. Darum lässt ein Mann seinen Vater und seine Mutter und haftet seinem Weibe an, und sie werden zu Einem Fleisch. (2,18-24)

Nun kann man den Hinweis auf die Intimität („ein Fleisch“) zwischen Mann und Frau zwar so lesen, dass Kinder die natürliche Folge davon sind. Dennoch zeigt sich deutlich, dass die Fortpflanzung nicht der Stiftungsgrund für das Verhältnis von Mann und Frau ist, sondern die Partnerschaft und das Gegenüber im Kontrast zur Einsamkeit sind das beherrschende Thema dieser Zeilen. Der Geschlechterunterschied tritt hier außerdem auffällig zurück hinter die Betonung der Ebenbürtigkeit und Ähnlichkeit von Mann und Frau.

Die Folgen für Themen wie Empfängnisverhütung, ungewollte Kinderlosigkeit, Rollenbilder oder eben auch „Ehe für alle“ liegen auf der Hand. Mir ist bewusst, dass nicht alle dieser Auslegung gleich freudig zustimmen werden. Aber ich denke, es lässt sich zeigen: Gerade wenn wir die Bibel sorgfältig lesen und interpretieren, müssen wir nicht zwangsläufig nur bei traditionellen Mustern landen.

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Ehe ist nie „natürlich“

in diesen Tagen ist mir der Begriff der „natürlichen Ehe“ ein paar Mal begegnet. Offenbar wird er gerade als Kampfbegriff gegen die „Ehe für alle“ in Stellung gebracht. Einmal abgesehen davon, dass man mit dieser Klassifikation natürlich den Versuch einer Exklusion aller „widernatürlichen“ Lebensformen bestenfalls notdürftig bemäntelt, hat der Sprachgebrauch noch einen anderen Pferdefuß:

Ehe (als „Bund“ – also ein Rechtsinstitut, ein Versprechen, ein Ethos der Treue und Fürsorge) ist kein natürliches Arrangement. Weder lässt sie sich durch positive Vergleiche mit „monogamem“ Verhalten anderer Lebewesen begründen noch lässt sie sich durch vulgärdarwinistische Vorstellungen vom instinktgesteuerten Streben nach maximaler (und relativ wahlloser) Verbreitung des eigenen Erbguts diskreditieren. Aus natürlichen Phänomenen (oder dem, was man dafür hält) Normen abzuleiten, ist ein notorisch heikles Unterfangen.

Ehe ist ein Kulturphänomen. Sie ist es schon immer gewesen, sie wird es immer bleiben. Daher wandelt sich unsere Vorstellung von Liebe und Ehe auch ständig. Daher müssen wir für eine gute Ehe sogar manchmal gegen unsere – höchst natürlichen – Kampf- und Fluchtinstinkte oder gegen unsere ebenso natürliche Trägheit handeln.

Mit scheint, die Ehe ist ebenso „natürlich“ wie nackt durch die Gegend zu laufen.

Das spricht keinesfalls gegen die Ehe, wohl aber gegen die Verabsolutierung bestimmter historisch gewachsener und bedingter Auffassungen mit solch zweifelhaften Argumenten.

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Für einen Perspektivwechsel ist man nie zu alt

Diese Woche hat Tony Campolo, der große alte Vorkämpfer der Linksevangelikalen, eine kurze Erklärung veröffentlicht, in der es um die Akzeptanz Homosexueller in den christlichen Gemeinden geht. Nun war Tony schon immer jemand, der den traditionell konservativen Standpunkt (wenn du dich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlst, bleib enthaltsam) mit maximaler Fairness gegenüber der inklusiven Gegenposition vertrat, was nicht zuletzt daran lag, dass er mit der wunderbaren Peggy verheiratet ist, die das schon immer anders sah. Tony seinerseits war eine Art Brückenbauer, der einen völligen Bruch zwischen den verschiedenen Lagern zu verhindern suchte.

Er war aber wohl auch sehr unsicher im Blick auf seine Position. Nun hat er sie, nach langem und intensivem Ringen, revidiert. Tony gibt keine Gründe an, die in der Diskussion nicht schon vorgekommen wären. Er ist sich auch der Möglichkeit bewusst, dass er sich irren könnte. Den Ausschlag gaben schließlich die Beziehungen zu ganz konkreten Menschen:

I have come to know so many gay Christian couples whose relationships work in much the same way as our own. Our friendships with these couples have helped me understand how important it is for the exclusion and disapproval of their unions by the Christian community to end. We in the Church should actively support such families. Furthermore, we should be doing all we can to reach, comfort and include all those precious children of God who have been wrongly led to believe that they are mistakes or just not good enough for God, simply because they are not straight.

Nach Steve Chalke im vorletzten und Vicky Beeching wie auch dem Ethik-Professor David Gushee im letzten Jahr ist mit Tony Campolo ein weiterer profilierter Evangelikaler zu einer Neubewertung seine Position gekommen. In Deutschland hat dieser Worthaus-Vortrag von Siegfried Zimmer für Diskussionen gesorgt. Für die EKD hat sich der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm deutlich zu einer inklusiven Auffassung von Ehe bekannt.

Christian Piatt hat den entscheidenden Impuls für diesen Wandel der Auffassungen gestern treffsicher beschrieben:

Ultimately, marriage equality and being both open and affirming of people of all sexual/gender identities and orientations in our larger Christian community are not issues: they are people. They’re human beings, stories, families, relationships, children, struggles and joyful discoveries. They are school lunches, utility bills, career moves, birthdays weddings and funerals. They’re self doubt, a search for meaning, belonging and, often times, a desire to be connected with something bigger and more enduring than ourselves.

They’re like anyone else in these ways, and many more. They are us. All it usually takes is a willingness to sit down, listen, share and change in whatever ways love and compassion may work within us. It worked for Jesus. It worked for Tony. It’s good enough for me. What about you?

Annahme ist dann möglich, wenn ich sehe, wie viel größer die Gemeinsamkeiten sind als die Unterschiede. Doch das funktioniert nur, wenn ich keine Kardinaldifferenz zwischen Homo- und Heterosexuellen behaupte, sondern diesen Unterschied als nur einen von vielen möglichen sehe. Aber denken wir noch ein bisschen weiter:

Mich persönlich hat gestern eine Meldung aus Gambia beschäftigt. Der diktatorisch regierende Präsident Yahya Jamme hat die französische EU-Vertreterin aus Gambia ausgewiesen, weil sie den Umgang mit Homosexuellen kritisierte. Frage: Ist es denn wirklich nur ein dummer Zufall, dass so viele Diktatoren den Hass auf Schwule (es geht ja meistens um Männer…) schüren? Wenn nicht, wo genau liegt die innere Verbindung, der gemeinsame Nenner, der rücksichtslose Macht und rigide Ordnungsideologien bzw. die Ausgrenzung abweichender Orientierungen und Lebenskonzepte verbindet?

Ich unterstelle damit nicht, dass alle Konservativen verkappte Gewaltherrscher sind. Ich frage mich nur, ob da Denkstrukturen vorhanden sind, die auch dazu taugen, derartige Repression zu legitimieren oder die zumindest dafür sorgten, dass sie nicht schon längst entschlossen genug verurteilt und bekämpft wurde. Meine Vermutung: Die Wurzel liegt im Weltbild des Patriarchats (und damit verbunden der Heteronormativität). Ein strikt binäres und komplementäres Geschlechterverhältnis mit dem Mann als „Haupt“, das für Christen mit wenigen Ausnahmen seit der Römerzeit „normal“ war und das noch bei Max Weber als „naturgewachsen“ galt – das entspricht der Rede von der Schöpfungsordnung in manchen Theologien. Ein homosexuelles Paar bedroht nicht nur die traditionelle Vorstellung von Männlichkeit und damit die symbolische Ordnung, sondern auch die von Macht, weil in dieser Welt beides untrennbar zusammengehört.

Hier geht es um Privilegien, die für die Menschen unsichtbar sind, die sie genießen. Wunderbar dargestellt hat dies Susan Cotrell in diesem Blogpost zu einem Statement von Franklin Graham, der ebenso naiv wie zynisch behauptet hatte, Schwarze könnten es doch ganz einfach vermeiden von weißen Polizisten erschossen zu werden, sie müssten einfach immer nur uneingeschränkt allen Befehlen Folge leisten und Respekt vor der Autorität des Beamten zeigen. Graham gelingt es, zumindest vor sich selbst, den offensichtlichen Rassismus der Cops in ein Autoritätsproblem der schwarzen Minderheit umzudefinieren. Erst wenn man sich mit den Unterlegenen identifiziert (indem man sie, wie Cotrell, kennt, achtet und ihnen zuhört), wird die allgegenwärtige Unterdrückung sichtbar.

Tony Campolo hat diesen Schritt getan. Er hat dafür Jahre gebraucht, andere haben ihn noch vor sich. Hoffen wir, dass sein Beispiel Schule macht.

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Frau am Steuer

Der Stern berichtete kürzlich, dass Frauen in Saudi-Arabien nun Auto fahren dürfen. Freilich unter bestimmten Auflagen und nur mit Zustimmung des Ehemannes. Der Artikel spricht von einer „verqueren Logik“ in dem Zusammenhang.

Erinnert hat mich das an den engagierten Vortrag eines Theologen zu Epheser 5, in der er die Forderung nach der Unterordnung der Frau unter den Mann mit dem (schon ziemlich abgewetzten) Hinweis retten wollte, wenn nur die Männer ihre Frauen so liebten wie Christus seine Gemeinde, dann sei Unterordnung und „Haupt Sein“ doch kein Problem mehr.

Würden nun die Saudis zu uns sagen, es sei doch alles eine Frage der Liebe – eine Frau, die ihren Mann wirklich liebt, wird ihn natürlich ganz freiwillig um Erlaubnis bitten und der Mann, der seine Frau liebt, wird ihr die Autofahrt gestatten, sofern das gut ist für sie, natürlich (und wer wüsste das besser als der liebende Ehemann?) – dann würde vielleicht auch jenem Kirchenmann klar, dass der Verweis auf die Liebe missbräuchlich ist, wenn man ihn faktisch zur Legitimierung von Herrschaft und Patriarchat verwendet.

Diese Logik ist wirklich verquer – auch in ihren christlichen Spielarten. Schon der große Columbanus wusste: Amor non tenet ordinem – die Liebe hält keine Ordnung.

 

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