Weihnachtspredigten: die gefühlte Geburt?

Ein echtes Problem weihnachtlicher Verkündigung ist, wie wir in der Verkündigung mit einmaligen geschichtlichen Ereignissen umgehen, die vielen Hörern bekannt sind und leider auch schon ein paar Jahre zurückliegen. Technisch gesagt geht es um die Frage der Aktualisierung:

  • Da gibt es erstens den Versuch, das Ganze hypothetisch in die Gegenwart zu verlegen. Dass das nicht immer gelingt, bedeutet nicht, dass es nicht erlaubt ist. Nur muss man verstehen, dass wenn Hirten plötzlich wie Erkan und Stefan reden, nicht nur die alte Sprache weg ist, sondern auch der kulturelle Hintergrund der messianischen Erwartung, zu der unsere Gesellschaft kein Gegenstück anbieten kann. Die fehlt heute auch deshalb, weil Christen seit 2000 Jahren (mehr oder weniger) unermüdlich davon reden, dass er schon gekommen ist. Er muss also nicht noch einmal geboren werden, und wo immer der Anspruch erhoben würde, wären Christen die ersten, die versuchen, da wieder die Luft abzulassen. Es ist schlechterdings unwiederholbar.
  • Die andere Option ist: wir lassen die alte Geschichte so stehen und destillieren eine bestimmte Moral heraus. Die kann sozial sein: „Kümmere dich um die Armen“. Oder ein Appell an die Motivation: „Stell dich Gott so bedingungslos zur Verfügung wie Maria“. Nichts davon ist falsch. Die Frage ist nur: Was ist daran Zuspruch einer guten Nachricht? Und ist es fair, solche Ausnahmesituationen zur Norm zu erklären?
  • Dritte Möglichkeit: Wir vergeistlichen das Ganze und drängen auf das innere Nachvollziehen. Ein Predigttitel aus dem Internet dazu: „Der Stall in uns“ (den Text dazu habe ich nicht gelesen). Das bekannte Motto stammt von Angelus Silesius: Christus könnte tausendmal in Bethlehem geboren sein, er muss in Deinem Herzen geboren werden. Mit Verlaub: das ist Nonsens. Jesus muss genauso wenig in meinem Herzen geboren werden, wie er in meinem Herzen gekreuzigt werden muss. Beides ist schon geschehen – ein für allemal. Wenn jemand „wiedergeboren“ werden muss, dann sind es nach Auskunft des Neuen Testaments wir. Es geht nicht darum, eine geschichtliche (und damit äußere) Wahrheit innerlich zu emulieren oder sogar zuallererst entstehen zu lassen. Das Problematische dieses (im Ansatz narzisstischen) Denkens ist die Implikation, dass etwas nur „wirklich“, „gültig“ oder „echt“ ist, wenn es in meinem inneren Erleben und Gefühl stattfindet.

Dieses Problem haben wir viel zu oft: Wir blenden aus, was keine unmittelbare Betroffenheit und Resonanz in unserem Inneren auslöst. Wenn der Winter ein Jahr mal wieder kälter ausfällt, der Klimawandel für uns kein gefühlter mehr ist, dann werden wir träge. Ganz ähnlich verfahren wir in anderen Lebensbereichen: So lange uns bestimmte Kollateralschäden unseres Handelns nicht direkt betreffen, existieren sie auch nicht. Das gilt für das ächzende Bildungssystem (auch da dauert es Jahrzehnte, bis Versäumnisse spürbar werden) wie für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen wir den anderen Menschen nur als Verlängerung und Erweiterung des eigenen Egos betrachten.

Aus eben dieser Gefangenschaft des homo incurvatus will uns das Evangelium ja befreien: Alles hängt jedoch davon ab, dass etwas in der äußeren Welt geschehen ist, das diese Welt in ein neues Licht taucht, das sie in ihren Fundamenten erschüttert und unwiderruflich verändert hat, und zwar auch dann, wenn ich es ignorieren würde oder bei dem Gedanken daran gerade vor lauter Weihnachtsrummel gar nichts empfinde. Ich muss mich nicht einmal um mein frommes Gefühl drehen. Es versagt ohnehin ständig.

Daher gilt auch an Weihnachten: Der erwachsene Christus klopft bei uns an und möchte eintreten. Kein Christkind, sondern der Auferstandene. Wir sind bereits im nächsten Akt des Dramas: Gottes Geist ist in der menschlichen Geschichte am Handeln. Weihnachten gibt uns einen Hinweis darauf, wo wir ihn finden: Bei den Kindern, den Armen, den Heiden, den Verlierern. Aber auch bei allen, in denen die Hoffnung lebendig geblieben ist, dass Gott seine großen Verheißungen erfüllt – und die deshalb nach Gerechtigkeit hungern und dürsten.

Die Krippe ist dabei (von Paulus von Philipper 2,6ff her verstanden) auf der einen Seite der erste Schritt in Richtung Kreuz. Auf der anderen Seite ist die Menschwerdung Gottes der erste Schritt zur „Vergöttlichung“ des Menschen (so sagten es die griechischen Väter – wir sagen: ewiges Leben) und zur Neuschöpfung der Welt. Und die steht noch aus.

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Postliberale Theologie: Ein Zwischenspiel

Auf Zeit Online berichtet Matthias Stolz entwaffnend ehrlich von seinen Schwierigkeiten mit dem Glauben und seiner katholischen Kirche. Die Beschreibung passt wirklich gut zu Lindbecks sprachlich-kulturellem Ansatz, finde ich. Es geht ums Glauben Lernen, Glauben verlieren und Glauben bewahren:

Ich habe in meiner Kindheit gelernt zu glauben, so wie man auch ein Instrument lernt. Als Erwachsener habe ich verlernt, dieses Instrument zu spielen. Jetzt ahne ich, dass es ein Reichtum ist, den ich nicht einfach abgeben sollte. Wenigstens nicht ganz. Früher, wenn Ostermesse war, gab es das Spiel unter uns Kindern, das Osterlicht, die brennende Kerze, aus der Kirche mit nach Hause zu tragen. Also hatten wir diese Kerze und schützten sie gegen den Wind, auf dass sie nicht erlösche. So ähnlich muss ich meinen Glauben jetzt auch schützen, denke ich.

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Postliberale Theologie (6)

(Für alle, die erst hier einsteigen: Die Begriffe sind z.T. in den vorhergehenden Posts erklärt: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5)

Bei Sprachen ist es ja nun nicht so, dass eine „wahrer“ ist als die andere. Wie also lassen sich sprachlich-kulturell die Beziehungen der Religionen untereinander beschreiben, ohne in den Propositionalismus zu verfallen, der nur Wahrheit und Irrtum (oder gar Lüge) kennt? Lindbeck sieht hier mehrere Möglichkeiten:

  1. Unvollendet/Vollendet: Christen erkennen zum Beispiel die Schriften des Judentums an, halten die Offenbarung Gottes aber für unvollständig; ähnlich würden manche Vertreter des Islam die Beziehung zum Christen- und Judentum beschreiben
  2. Unterschiedliche Religionen sind einfach die Objektivierung gleicher oder ähnlicher Erfahrungen (das war der Expressivismus), sie meinen also dasselbe.
  3. Komplementär: Sie beschreiben verschiedene Dimensionen der Existenz, diese sind aber nicht prizipiell unvereinbar. Christen könnten etwa von Buddhisten etwas lernen über Meditation, die Buddhisten sich das soziale Handeln der Christen aneignen.
  4. Direkter Gegensatz: Widersprechende Ziele innerhalb gemeinsamer/überlappender Karten
  5. Kohärent/inkohärent bzw. Authentisch/Inauthentisch (echte Gläubige vs. nur oberflächlich oder aber militant Religiöse)
  6. Mehrere dieser Bestimmungen können gleichzeitig zutreffen

Für den religiösen Dialog bedeutet das: Kulturell-sprachlich steht erstens weniger die kooperative Erforschung gemeinsamer Erfahrungen im Zentrum, weil diese nicht mehr wie beim erfahrungsorientierten Expressivismus (der eigentlich nur Modell 2 zulässt) als das Eigentliche betrachtet und im Kern mit einander identifiziert werden.

Im Blick auf Amos 9,7-8 fragt Lindbeck: Es gibt in der biblischen Offenbarung zweifellos den Zeugenauftrag des Gottesvolkes, aber vielleicht hat Gott „nicht alles, was das Kommen der Gottesherrschaft betrifft, jenem Volk expliziter Zeugen anvertraut, das weiß, was und wo Jerusalem ist, und das (wie die Gläubigen hoffen) – wenn auch nur abweichend – darauf zuwandert.“ (S. 85)

Wenn also auch die anderen im Plan Gottes für seine Welt eine Rolle spielen könnten, fragt er weiter, ob die missionarische Aufgabe von Christen auch manchmal (wichtig: nicht prinzipiell, und nicht prinzipiell nur…) sein könnte, Juden (bzw. Muslime, Marxisten, …) zu ermutigen, bessere Juden (oder …) zu werden.

Im nächsten Post geht es weiter mit der Frage des Heils und den verschiedenen Religionen.

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Postliberale Theologie (5): Karten und Kategorien – Wahrheitsansprüche neu denken

Beim Propositionalismus geht es um die Übereinstimmung zwischen der Struktur des Wissens und der Struktur des Gewussten. Es gibt nur wahr oder falsch (egal ob das Irrum ist oder Lüge). Ausdrucksorientiert könnte man „Wahrheit“ als symbolische Effektivität verstehen, die aber ist schwer zu bestimmen und zu vergleichen. Man könnte höchstens sagen, alles was irgendwie „wirkt“, ist auch irgendwie „richtig“, weil es einen Nerv trifft.

Sprachlich-kulturell stellt sich die Frage nach der Angemessenheit der Kategorien (analog z.B. zu mathematischen Systemen), sie machen die Formulierung von Wahrheiten erster Ordnung/Intention erst möglich. Eine kategorial „wahre“ Religion macht angemessenes Reden von Gott erst möglich – es muss aber nicht jede einzelne ihrer Aussagen deshalb (propositional/ontologisch) „richtig“ sein, also die Wirklichkeit korrekt wiedergeben

Die Kategorien verschiedener Religionen können etwa inkompatibel sein: „Größer“ bedeutet nicht „röter“. Westliche Religionen haben zum Beispiel keine Kategorien, um sich auf das buddhistische Nirwana zu beziehen, sie können daher erst einmal gar keine sinnvollen Aussagen dazu machen. Umgekehrt, sagt Lindbeck,

… viele Christen behaupten, dass die Geschichten von Abraham, Isaak, Jakob und Jesus Teil des Referenzsinnes des Wortes „Gott“, so wie dies in der biblischen Religion gebraucht wird, sind, und sie schließen daraus, dass Philosophen und andere, die keinen Bezug auf diese Erzählungen nehmen, mit „Gott“ etwas anderes meinen. (77)

Es gibt aber kulturell-sprachlich kein allgemein gültiges Grundkonzept wie bei den ersten beiden Ansätzen, keinen neutralen oder „objektiven“ Ausgangspunkt, an dem sich Wahrheitsansprüche messen lassen.

Propositional gedacht muss eine Religion fehlerfrei sein, um unüberholbar zu werden (Glaube, Schrift, Kirchenlehre) und die höchsten Offenbarungsinhalte (mit Thomas von Aquin gesprochen: revelabilia) vollständig enthalten. Andere Religionen haben dann einen geringeren Wahrheitsgehalt, sind vermischt mit Irrtümern oder sind unvollständig.

Expressiv gedacht besteht die Möglichkeit, dass Religionen sich gegenseitig ergänzen und verstärken, aber die Qualität des symbolischen Ausdrucks findet schwerlich eine Obergrenze, es wäre also immer eine Steigerung denkbar.

Kategorial ist das leichter zu denken: Möglicherweise hat eine Religion die passendsten Kategorien. Andere Religionen könnten kategorial „falsch“ sein, aber trotzdem echte Erfahrung und propositionale Wahrheit enthalten.

Denkt man über Religionen in einer kognitivistischen Weise, sind sie immer sinnvoll genug, um falsch sein zu können, und die teuflischste kann einige Schimmer von Wahrheit sogar dann enthalten, wenn es sich um nicht mehr als den Glauben an die Existenz des Teufels handeln sollte. In einer kategorialen Interpretationsweise könnten im Gegensatz dazu Satansglaube oder Satanismus weder wahr noch falsch sein, sondern wie Ansichten über einen quadratischen Kreis lediglich unsinnig sein (obgleich auf sehr abscheuliche Weise).

Eine Religion kann (auch im kategorialen Denken) in ihrer gelebten Gesamtheit von Lehre und gemeinschaftlicher Praxis als Proposition gedacht werden, als Entsprechung zu Gottes Sein und Willen. Ein Vergleich mit Landkarten hilft hier weiter. Karten, das ist dabei wichtig, müssen gebraucht werden, um zur Proposition zu werden.

  • Werden sie falsch gelesen, sind sie Teil einer falschen Proposition: man kommt nämlich nicht ans Ziel, wenn man die Himmelsrichtungen verwechselt.
  • Umgekehrt sind sie trotz Fehlern im Detail „wahr“, wenn man das Ziel tatsächlich erreicht (darum geht es ja, nicht um bloßes Wissen)
  • Eine Phantasiekarte (etwa von Mittelerde) ist dagegen kategorial falsch – und praktisch nutz- und sinnlos
  • Eine exakte Karte von einem irrelevanten Raum (Frankreich, aber ich will nach Prag) ist ebenfalls unnütz
  • Hat eine Karte korrekte Größenverhältnisse, kann sie propositional wahr oder falsch sein (die Entfernung A-B stimmt, aber B ist nicht, wie angegeben, Prag)
  • Manche Karten oder Routenpläne sind anfangs akkurat und werden dann vage oder falsch
  • Eine ungenaue Skizze genügt manchen Leuten, wenn sie einen guten Orientierungssinn haben
  • viele Details können, selbst wenn sie „stimmen“ manche zur Umständlichkeit verleiten bzw. auf „interessante“ Umwege schicken (gilt im Glauben noch mehr als bei Karten oder Reiseführern)
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Postliberale Theologie (4): Heilige, Reformatoren, Kopfjäger und Nazis

Hier geht es zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3 dieser Serie.

Verstehen wir Glauben sprachlich-kulturell, dann wird es auch möglich, intuitiv zwischen authentischen und nichtauthentischen Objektivierungen der Religion zu unterscheiden. In anderen Zusammenhängen wird diese Unterscheidungsfähigkeit mit dem Verweis auf den Geist Christi oder im Sinne einer Wesensverwandtschaft mit der Weisheit gedeutet.

Was ist gemeint? In Sprachen und Kulturen gibt es ungeschriebene Regeln, die man intuitiv befolgt. Und es gibt überall Menschen, die keine Regeln formulieren (sprich: keinen Grammatikunterricht geben) könnten und dennoch ihre Sprache virtuos sprechen. Anders gesagt: Es gibt Theologen, und es gibt Heilige. Und in manchen Situationen können die Theologen keine Auskünfte geben, ein „Heiliger“, jemand also, der zutiefst in der Sprache und Kultur des Evangeliums verwurzelt ist, kann intuitiv sagen, was richtig ist. Für so etwas wie Intuition, Weisheit und Kunst gibt es im kognitivistischen Propositionalismus keinen rechten Platz, ebenso wenig wie für Weiterentwicklungen.

Denn religiöse Innovation ist in einer sich verändernden Welt auch immer möglich und nötig. Sie ist nun nicht einfach Produkt „neuer Erfahrungen“, sondern Zusammenwirken eines kulturell-sprachlichen Systems mit neuen Situationen. Religiöse Innovation (wie etwa Luthers berühmtes Turmerlebnis) entspringt daher nicht einfach nur einer neuen Erfahrung und Gefühlslage im Hinblick auf Gott, die Welt und das Selbst,

… sondern weil ein religiöses Interpretationsschema (wie immer in der religiösen Praxis und im Glauben eingebettet) Anomalien bei der Anwendung auf neue Kontexte entwickelt. (…) Prophetische Gestalten spüren – oft unter dramatischen Umständen -, wie die überlieferten Glaubensmuster, Handlungen und Rituale einer Neuprägung bedürfen (und dass sie neu geprägt werden können). Religiöse Erfahrungen resultieren dann aus diesen neuen konzeptionellen Mustern, anstatt ihre Quelle zu sein. (S. 67)

Die religiöse Erfahrung dagegen ist logisch (und eventuell auch kausal) sekundär. Das konzeptionelle Muster in Luthers reformatorischer Entdeckung ging der individuellen Erfahrung voraus, auch bei Luther selbst. Wir hatten diese Relativierung des Individuellen ganz ähnlich schon einmal im Blick auf die Emergenz der Reformation.

Um noch einmal zurückzukommen auf die Frage nach dem gemeinsamen Kern religiöser Erfahrungen: Wenn diese so vielfältig sind wie die Interpretationsschemata, die Religionen verkörpern, dann kann es keine einheitliche Erfahrung geben. Buddhistisches Mitleid, christliche Liebe und die Fraternité der französischen Revolution sind „radikal unterschiedliche Wege der Erfahrung und Orientierung gegenüber dem Selbst, dem Nächsten und dem Kosmos.“ Ähnlichkeiten sind zweifellos vorhanden, können aber naturalistisch verstanden werden. Dazu noch einmal Lindbeck selbst:

Die ihnen gemeinsamen affektiven Merkmale sind sozusagen Teil ihres Rohmaterials, sind Funktionen jener Gefühle der Nähe zum unmittelbar Nächsten, die von allen geteilt werden, auch von Nazis und Kopfjägern. Es ist genauso ein Fehler, sie als eine Gattung zu klassifizieren, wie zu behaupten, dass alle roten Dinge, ob Äpfel, Indianer oder der rote Platz in Moskau zur gleichen Gattung gehören. (S. 69)

(…) Man kann nicht behaupten, dass zwei Sprachen einander gleichen, indem man zeigt, dass beide sich überlappende Bestände an Lauten gebrauchen oder Referenzobjekte gemeinsam haben (z.B. Mutter, Kind, Wasser, Feuer und hervorragendere Personen und Gegenstände der Welt, die sich Menschen teilen). Was bei der Bestimmung der Ähnlichkeiten unter den Sprachen zählt, sind die grammatischen Muster, die Verweisvorgänge, die semantischen und syntaktischen Strukturen. Etwas entfernt Analoges kann im Fall der Religionen gesagt werden. Die gegebene Tatsache, dass alle Religionen etwas anempfehlen, das »Liebe« zu dem, was am Wichtigsten (»Gott«) zu nehmen ist, genannt werden kann, ist genauso banal wie die uninteressante Tatsache, dass alle Sprachen gesprochen werden (oder wurden). Das Entscheidende sind die unverwechselbaren Erzähl-, Glaubens-, Ritual- und Verhaltensmuster, die »Liebe« und »Gott« ihre spezifische und manchmal sich widersprechende Bedeutung geben. (S. 71)

Zum letzten Punkt erzählt Lindbeck ein hilfreiches Beispiel: Das Bekenntnis „Jesus ist Herr“ ist nur in einem bestimmten Lebenszusammenhang wahr und sinnvoll. Denn wenn die spanischen Conquistadores oder andere Eroberer es zum Schlachtruf für ihre Feldzüge machen, wird der Satz sinnlos oder falsch. Die dazugehörige Praxis macht deutlich, dass „Herrschaft“ in diesem Fall völlig anders verstanden wurde als Jesus selbst und die Mehrheit seiner Nachfolger sie verstanden haben, nämlich nicht als imperiale Legitimation von Unterwerfung oder „getaufte“ Variante der Pax Romana. Das ist eine andere Sprache und eine andere Kultur, und selbst wenn sie dieselben Wörter oder Wendungen benutzt (wir tun das zum Beispiel mit dem Wort „handy„), dann meint sie noch lange nicht dasselbe.

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Postilberale Theologie (3): Glauben lernen

Religiöswerden bedeutet, so verstanden, sich eine bestimmte „Sprache“ anzueignen und die Welt in ihrer Begrifflichkeit und ihren Kategorien zu interpretieren. Eine Religion ist damit ein „verbum externum“ und nicht der Ausdruck eines vorgängigen „verbum internum“, das eher dem geistlichen Vermögen zum Hören entspricht, aber eben die „Grammatik“ schon als gegeben voraussetzt. Oder noch anders gesagt: Man lernt das Evangelium nicht im eigenen Seelengrund kennen, man kann es sich nicht selber sagen, es kommt immer von außen, vermittelt, durch andere, in Gemeinschaft.

Wir haben es hier mit einem hylomorphen Modell zu tun, das heißt, die Form hat Vorrang vor der Substanz, die es nicht ungeformt gibt – das ist eher aristotelisch gedacht, aber auch hebräisch-konkret. Der Gegensatz dazu ist das idealistische Modell: die Erfahrung, der immaterielle Geist ist vor aller sichtbaren Gestalt da, das Allgemeine vor dem Besonderen.

In der Betonung der externen Dimension (Code/Syntax) ist das sprachlich-kulturelle Verstehen dem Propositionalismus nahe, ohne dessen intellektualistische Tendenz (Betonung des Inhalts des Gesagten) zu übernehmen.

Religion kann nicht auf kognitivistische (oder voluntaristische) Weise vorrangig als Angelegenheit der bewusst freien Wahl und Befolgung explizit gewusster Sachverhalte oder Direktiven betrachtet werden. Religiöswerden heißt vielmehr – nicht weniger als sprachlich oder kulturell kompetent zu werden – die Internalisierung eines Bestandes an Fertigkeiten durch Übung und Ausbildung. (S. 60)

Lernen ist komplexer und unaufdringlicher, als man erklären kann. Nicht das Wissen über Religion oder Kenntnis der Inhalte, sondern wie man auf eine bestimmte Art religiös ist, ist das Entscheidende. Lehraussagen und Verhaltensnormen können (!) auf diesem Weg hilfreich sein, aber Gebet, Ritus und Vorbild sind in der Regel wichtiger: es geht um das „gewusst wie“.

Zugleich bleibt Raum für die expressiven Aspekte. Symbole sind aber nicht äußerliche „Dekoration“ des harten Kerns der Glaubenssätze (das argwöhnt der propositionale Kognitivismus), sondern sie vermitteln das Grundmuster der Religion, also das Eigentliche effektiv. Die Richtung – und hier trifft sich Lindbeck mit vielen emergenten Denkern – geht von außen nach innen: Von einer neuen Praxis zu einem neuen Empfinden und Verstehen.

Etwa so: Man lernt zu beten, indem man Gebete nach- und mitspricht, und egal wie unbeholfen das geschieht und wie beschränkt man den Inhalt versteht, es ist echtes Beten von Anfang an. Von daher gewinnen aktuelle Begrifflichkeiten wie belonging before believing eine ganz neue Plausibilität.

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Postliberale Theologie (1)

Der folgende, mehrteilige Post ist eine Zusammenfassung meines Workshops vom Emergent Forum. Hier wie dort beschränke ich mich darauf, George A. Lindbecks theologischen Ansatz darzustellen. Die Bewertung darf jeder selbst vornehmen (idealerweise erst dann, wenn man in Ruhe hingehört hat und versteht, worum es Lindbeck geht, und nicht gleich beim ersten Gedanken, der fremd anmutet). Sein Werk Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens ist auf Deutsch leider vergriffen, im Englischen aber unter den Titel The Nature of Doctrine erhältlich. Wer also mit- oder nachlesen möchte, muss in die nächste UB fahren oder – doppelt nützlich – sein Englisch aufpolieren.

Lindbeck kommt vom ökumenischen Dialog her und umreißt zunächst zwei herkömmliche Grundformen des Verstehens von Glaube und Religion:

Der Propositionalismus geht davon aus, dass Wahrheit in Lehrformeln umfassend und objektiv wiedergegeben werden kann. Doch der Propositionalismus ist in der Defensive, und zwar schon seit langer Zeit: Kant kritisiert Grundlagen propositionalen Denkens, und die historische Kritik ging weiter weiter in dem Nachweis, dass viele biblische Aussagen und kirchliche Dogmen alles andere als zeitlos waren.

Aber auch heute ist der Propositionalismus noch als kognitiv-argumentativer Ansatz präsent. Wir finden ihn bei modernen Apologeten wie G.K. Chesterton, C.S. Lewis oder Malcolm Muggeridge, und auch Barths Theologie weist eine gewisse Nähe dazu auf, Religion und Glaube primär von den aussagbaren Glaubensinhalten her zu bestimmen. Doch die Kluft zum Rest der Welt wird größer:

Gegenwärtig sind immer weniger Menschen tief in bestimmten religiösen Traditionen verwurzelt oder voll und ganz beteiligte Mitglieder bestimmter religiöser Gemeinschaften. Das macht es ihnen schwer, Religion auf kognitive Weise als die Annahme eines Bestandes an objektiven und unwandelbar wahren Aussagen zu erfassen oder zu erfahren. (S. 44)

Der andere Typus, nämlich der erfahrungsorientierte Expressivismus, hat seine Vorläufer im Pietismus und wird von Schleiermacher weiterentwickelt. Er sieht in aller Relgiosität eine vorreflektive Tiefenerfahrung („Geist“) am Wirken. Sie ist das „Eigentliche“ und wird erst im zweiten Schritt, also nachträglich, objektiviert beziehungsweise symbolisiert. Die Begriffe und Formen hält man für kulturell geprägt. Inzwischen ist die Tendenz zur „Entobjektivierung des Dogma“ weiter fortgeschritten. Es hat sich ein eklektischer Umgang mit Religionen und Symbolsystemen entwickelt – sie werden als vielfältige Lieferanten des Rohstoffs für transzendente Selbstverwirklichung benutzt.

„Die Strukturen der Moderne drängen den Einzelnen, Gott zuerst in den Tiefen seiner oder ihrer Seele zu begegnen und dann erst vielleicht, falls er oder sie dem etwas persönlich Zusagendes abgewinnen können, sich einer Tradition anzuschließen oder einer Kirche beizutreten.“ (S. 44)

Nun aber droht eine Ghettoisierung der Theologie, denn das Gros der Forscher ist längst zu anderen Modellen übergegangen: „Der erfahrungsorientierte Expressivismus hat überall an Boden verloren, mit Ausnahme der theologischen Ausbildungsstätten und religionswissenschaftlichen wie theologischen Fakultäten, wo sich, wenn überhaupt, der Trend entgegengesetzt entwickelt.“ (49)

Eine Verschränkung der beiden Ansätze hat Bernard Lonergan im Anschluss an Karl Rahner unternommen. Für ihn stellt sich das, so fasst Lindbeck knapp zusammen, ungefähr so dar:

  1. Religionen sind objektivierende Ausdrucksformen einer gemeinsamen Kernerfahrung
  2. Sie mag auf der Ebene selbstbewusster Reflexion verborgen sein
  3. Sie ist allen Menschen eigen
  4. diese Erfahrung ist Quelle und Norm der Objektivierungen
  5. die ursprünglichste Form dieser Erfahrung ist ein „dynamischer Zustand des In-Liebe-Seins ohne Einschränkungen“
  6. einige Sachverhalte der biblischen Religionen gründen nicht nur in Erfahrung, sondern in göttlichem Offenbarungswillen

Das Problem dabei ist und bleibt jedoch: Es gibt kein aussagekräftiges Beweismaterial für die Einheitlichkeit der Ursprungserfahrung, und den Anhängern des erfahrungsorientierten Expressivismus gelingt es nicht, angesichts der empirischen Vielfalt religiöser Erfahrungsberichte klare Kriterien für die postulierte Gemeinsamkeit zu nennen. Lonergans „in Liebe sein“ etwa benutzt ganz offensichtlich explizit christliche Vorstellungen und Begriffe.

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Emergentes Abendmahl

DSC04859Als wir heute morgen zum Abschluss des Emergent Forum das Abendmahl feierten, hatte ich einen dieser kleinen Geistesblitze. Es wird ja immer wieder diskutiert, was das Abendmahl nun genau ausmacht, inwiefern Gott „im“ Brot und Wein Menschen begegnet, wie „realistisch“ man sich das vorstellen muss (was, wenn ein Stück Brot herunterfällt oder Wein verschüttet wird?) oder ob das alles „nur“ symbolisch aufzufassen sei, ob also die Elemente nur eine Hilfe zur Visualisierung seien, das „Eigentliche“ dagegen das Wort oder der Geist, also eine gänzlich unanschauliche, immaterielle Angelegenheit.

Um es kurz zu machen: Weder das eine – noch das andere. Das Abendmahl ist ein Beziehungsgeschehen. Es besteht exakt darin, dass eine glaubende Gemeinschaft von Jesusnachfolgern, Gottes Geist, das Wort der Verheißung und eben Brot und Wein an einem konkreten Ort zusammenkommen. Und das Zusammenkommen ist „das Eigentliche“. In dieser Beziehung aktualisiert sich ein Verhältnis, das von Jesus gestiftet und durch seinen Tod und seine Auferstehung begründet wurde. Aber eine Aktualisierung ist mehr als eine Erinnerung. Es wird eine Dynamik in Kraft gesetzt, ein Grundmuster kommt zum Vorschein, wenn wir die Worte sprechen, das Brot brechen und aus diesem Kelch trinken. Ein Muster, das verbindet: Menschen untereinander und Gott mit den Menschen. Ein Muster, das in Gott selbst schon angelegt ist, und in dem er sich uns mitteilt, und durch uns der ganzen Welt mitteilen möchte.

Wahrscheinlich bin ich der letzte, der das nun auch kapiert hat. Aber schön, dass der Groschen gefallen ist!

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Ich sehe was, was du nicht siehst… ?

Es ist wieder Zeit für eine Runde Piranha-Futter mit Onkel Lindbeck. 😉 Diesmal macht er sich Gedanken über die Versuchung zu religiöser Prahlerei und Imperialismus am Beispiel von Rahners Annahme, dass es „anonyme Christen“ gibt, und schreibt

Es liegt etwas Arrogantes in der Unterstellung, dass Christen wüssten, was Nichtglaubende in den Tiefen ihres Seins erfahren und glauben, und zwar besser, als diese selbst es wissen, und dass daher die Aufgabe von Dialog oder Evangelisation die sei, ihr Bewusstsein dafür zu schärfen. Die Mitteilung des Evangeliums ist nicht eine Form von Psychotherapie, sondern vielmehr das Angebot und der Vollzug, die eigene, geliebte Sprache – die Sprache, die von Jesus Christus spricht – mit all denen zu teilen, die daran interessiert sind (…).

Der Satz „ich weiß genau, du willst es doch auch“ hat offenbar immer etwas Übergriffiges. Klar pointiert Lindbeck hier stark und Rahner würde sich vermutlich sehr missverstanden fühlen. Nachdenkenswert ist der Einwand aber allemal, denn – Rahner hin oder her – die Versuchung zu solchem Denken besteht ja durchaus.

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Keine Verdammnis außerhalb der Kirche

Ich lese gerade George Lindbeck in Vorbereitung auf das Emergent Forum. Er beschäftigt sich mit exklusiven Tendenzen im Christentum und schreibt etwas provokativ, man könne im Blick auf manche Bibelstellen (1 Petr. 4,17 oder Mt 19,30) den Eindruck gewinnen…

… dass die Bibel Cyprians Behauptung, es gebe kein Heil außerhalb der Kirche (extra ecclesiam nulla salus) mit einem gleichermaßen emphatischen Bestehen darauf ausgleicht, dass die Verdammnis, die bewusste Opposition zu Gott nur innerhalb der Kirche, nur im Volk Gottes selbst anfangen kann: Jesus rief sein Wehe (und weinte), so wird man sich erinnern, über die Städte Israels und nicht über jene der Heiden aus. Aus dieser Sicht kann es keine Verdammnis – ebenso wie kein Heil – außerhalb der Kirche geben. Man muss, mit anderen Worten, die Sprache des Glaubens lernen, ehe man genug über seine Botschaft wissen kann, um sie wissentlich zurückzuweisen und so verlorenzugehen.

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Mein Problem mit dem Problem

Heute las ich in der Vorbereitung auf die Konfigruppe einen Vorschlag für einen Einstieg ins Gespräch, der ungefähr so aussah:

  • Wir malen einen großen Kreis in die Mitte und schreiben dort hinein, was in unserer Welt alles schief läuft bzw. nicht in Ordnung ist.
  • Dann überlegen wir, was man dagegen tun kann und schreiben das auf, außen herum.
  • Schließlich fragen wir, ob diese Maßnahmen denn wohl ausreichen würden, um die Probleme zu beheben

Die Antwort lautet selbstverständlich „nein“, und daher müssen wir dann auf das Thema Sünde und Erlösung zu sprechen kommen. Doch das Problem ist für mein Empfinden auf eine fatale Weise falsch gestellt. So, wie es hier aufgezogen wird, werden fast zwangsläufig „geistliche“ Lösungen gegen praktische und politische ausgespielt. Als ob es wichtiger wäre, dafür zu sorgen, dass Menschen Christen werden, statt den Armen zu helfen. Die alten Scheinalternativen lassen grüßen: Die einen beten, die anderen protestieren und reformieren…

Nicht unbedingt glaubwürdiger wird die „geistliche“ Lösung, wenn man sich eingesteht, dass sich viele reiche Christen um die Armen nicht allzu sehr sorgen und sich als Friedensstifter auch nicht gerade sehr profilieren. Rechtgläubigkeit per se führt leider keineswegs immer zu einem spürbar verbesserten Sozialverhalten. Manche sitzen im Kokon ihrer Subkultur, klagen über die böse Welt und warten auf die Entrückung – oder was auch immer.

Wenn schon, dann müsste die Frage doch lauten: Wenn wir wissen (und das tun wir ja, wenn auch nicht lückenlos und natürlich nicht über Nacht), wie wir die Erderwärmung begrenzen, Frieden fördern, Korruption eindämmen und den Hunger beenden könnten, warum tun wir es nicht einfach? Dann würde deutlich werden, dass eine Revolution der Herzen ebenso wichtig ist wie eine Revolution der Strukturen und Verhältnisse, aber keines von beiden ohne das andere bleiben darf. So wird ein Schuh draus.

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Zeitlos schön

Alan Hirsch hat heute auf Facebook dieses Glaubensbekenntnis der Massai gepostet. Es stammt aus dem genialen Buch Christianity Rediscovered von Vincent Donovan:

We believe in the one High God, who out of love created the beautiful world and everything good in it. He created Man and wanted Man to be happy in the world. God loves the world and every nation and tribe on the Earth. We have known this High God in darkness, and now we know Him in the light. God promised in the book of His word, the Bible, that He would save the world and all the nations and tribes.

We believe that God made good His promise by sending His Son, Jesus Christ, a man in the flesh, a Jew by tribe, born poor in a little village, who left His home and was always on safari doing good, curing people by the power of God, teaching about God and man, showing the meaning of religion is love. He was rejected by his people, tortured and nailed hands and feet to a cross, and died. He lay buried in the grave, but the hyenas did not touch him, and on the third day, He rose from the grave. He ascended to the skies. He is the Lord.

We believe that all our sins are forgiven through Him. All who have faith in Him must be sorry for their sins, be baptised in the Holy Spirit of God, live the rules of love and share the bread together in love, to announce the Good News to others until Jesus comes again. We are waiting for Him. He is alive. He lives. This we believe. Amen.

Die deutsche Übersetzung gibt es hier.

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Komisches Kapital

Vor einer Weile habe ich mich hier mit der Frage der Sichtbarkeit des „Reiches Gottes“ beschäftigt. Jesus sagt in Lukas 17,20f dass es nicht so kommt, dass man darauf zeigen könnte und sagen: Da ist es. Es ist nicht eindeutig identifizerbar oder klar abzugrenzen gegen den Rest der Welt. Dazu kommt, wie das Gleichnis vom Senfkorn zeigt, dass es immer winzig klein anfängt, selbst wenn ihm eine große Zukunft verheißen ist. Die jedoch ist auch 2000 Jahre später noch Zukunft und nicht schon greifbare Gegenwart.

Zwei Impulse aus Bernhard vom Mutius‘ Sammelband Die andere Intelligenz haben mich nun daran erinnert. Das eine war, dass Mutius dort sagt, komplexe Systeme funktionieren nichtlinear. Von einer großen Wirkung kann man nicht zwingend auf große Ursachen zurückschließen, sondern kleine Ursachen können durchaus große Wirkung haben. Ich glaube, das hat Jesus mit dem Senfkorn und dem Sauerteig gemeint – und mit der maßlosen (u.a. auf Ezechiel 17 anspielenden) Übertreibung, dass aus dem winzigen Senfkorn der größte Baum wachsen werde. Da schlummert im übrigen auch das Konzept der Emergenz.

Dann zitiert Mutius Hannah Arendt, dass Politik im Zwischen-den-Menschen entsteht und sich als Bezug etabliert (dasselbe ließe sich vom Reich Gottes auch sagen, und damit ist es eben immer auch ein politischer Faktor), um kurz darauf im Blick auf Wirtschaft und Kapital zu folgender Aussage zu kommen, die auch vielerlei Reflexe auf das Reich Gottes ermöglicht:

Dies ist ein sonderbares, schwereloses Kapital, das man nicht anfassen kann, das in den Köpfen der Mitarbeiter, Partner, Zulieferer und Kunden steckt, in ihren Teamstrukturen und Netzwerken kaum sichtbar verborgen ist. Und dieses Wissenskapital vermehrt sich auf eigenartige Weise: Man muss es weggeben, verausgaben, gemeinsam mit anderen teilen. Wer es hortet oder wer nur abgeschottet von anderen mit ihm arbeitet, wird es verlieren.

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„Die Eins redet leise“

Die Management-Trainerin Marion Knaths gibt auf Zeit Online Karrieretipps für Frauen. Diesmal ging es um die Wirkung der Stimme, und sie erklärte, warum frau in einer Besprechung ihre anerzogenen Hemmungen überwinden und bewusst laut und deutlich reden muss. Dabei sagt sie auch, dass nur „die Eins“, also der/die Ranghöchste, es sich erlauben kann, leise zu reden. Als Beweis imitiert sie das heisere Flüstern von Marlon Brandos Synchronstimme in Francis Ford Coppolas Film „Der Pate“.

Das war schon in der Schule so: Der Lehrer, der echte Autorität hatte, musste nicht darüber sprechen, sie weder begründen noch verteidigen. Umgekehrt wussten wir als Schüler sofort, dass der, der ständig darüber sprach, eine bestenfalls formale Autorität hatte. Die reichte, um Zensuren zu verteilen, aber nicht, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen oder um die Begeisterung für ein Fach zu wecken. Wenn ein Lehrer die Beherrschung verlor und herumbrüllte, tat er sich damit in der Regel keinen Gefallen.

DSCF1066Im Gegensatz zu manch christlicher Ideologie redet die Bibel auch leise und sie kehrt ihre Autorität nicht ständig heraus oder versucht gar, sie zu rechtfertigen. Sie erklärt sich nicht selbst für unfehlbar. Kaum etwas schadet der persönlichen Autorität von Führungskräften so sehr, wie einen Fehler nicht eingestehen zu können. Die Bibel jedenfalls sagt, was sie zu sagen hat. Punkt. Und das sagt sie so gut und wirkungsvoll, dass sie nach 2000 Jahren noch brandaktuell ist. Wir müssen ihr (beziehungsweise dem Heiligen Geist) dabei gar nicht helfen. Unsere Versuche, ihre Autorität von außen durch irgendwelche Theorien zu begründen, bleiben in der Regel auf der formalen Ebene stecken.

Andererseits ist es nicht so, dass wir über das Gewicht und die Bedeutung der Bibel gar nichts mehr zu sagen hätten. Michael Welker nennt in seinem Aufsatz Sola Scriptura (in: Die Reformation. Potentiale der Freiheit, S. 91-120) vier wichtige Aspekte:

  1. Das historische Gewicht der Schrift besteht in den vielfältigen Erfahrungen, die ganz unterschiedliche Menschen über Jahrhunderte hinweg mit Gott gemacht haben. Sie wurden erzählt, gesammelt, aufgeschrieben, mit einander verglichen und kommentiert und sprechen auch Jahrhunderte später Menschen noch ganz existenziell an.
  2. Das kulturelle Gewicht der Bibel hat damit zu tun, dass sie die kulturellen Verhältnisse ihrer Zeit (darunter auch für uns so fremde oder problematische Phänomene wie das Patriarchat, Sklavenhaltung oder Ethnozentrismus) nicht nur widerspiegelt, sondern sie auch in Frage stellt und sogar verändert.
  3. Das kanonische Gewicht hat mit der Vielstimmigkeit, dem Spannungsreichtum dieser „Landschaft von Zeugnissen“ zu tun: Welker erkennt „zahlreiche kontrastive und vernetzte Zeugnisse von Gott und Gottes Wirken, die in immer neuen Situationen auf einander verweisen, die von einander lernen, die einander sowohl kritisieren als auch verstärken.“ Ein Kanon enthält eine Mehrzahl von Stimmen und Erinnerungen, die gleichwohl nicht beliebig ist. Genau darin liegt auch der besondere Werkt für eine „multikontextuell wachsende Kirche“.
  4. Alles bisher Gesagte verweist schließlich auf das theologische Gewicht der Schrift, in dem sich der lebendige Gott selbst zu erkennen gibt. Am Beispiel der Emmaus-Geschichte verweist Welker auf den auferstandenen Christus als den Ausgangspunkt vielfältiger „Evidenzerfahrungen“ einer neuen Wirklichkeit, die naturalistisches und szientstisches Denken sprengt: „Die Fülle der Person und des Lebens Christi bringt sich im (…) kanonischen Gedächtnis der Gemeinschaft von Zeuginnen und Zeugen zur Geltung.“
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Das große Gähnen

Fulbert Steffensky schreibt über Heilige Welten, und würdigt den Segen der Reformation, die die alten Ordnungen von Heilig und Profan sprengte – fragt aber im Blick auf ihre unbeabsichtigten Nebenwirkungen im Gefolge der Aufklärung:

Könnte es sein, dass mit dieser Art Entzauberung des Lebens ein großes Gähnen in die Welt gekommen ist? Könnte es sein, dass wir vor lauter Erlösung Schöpfung nicht mehr denken können? Dass wir in den Dingen die Spuren und die Kraft Gottes nicht mehr lesen und aus ihnen sein Lob nicht mehr hören können?

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