Postliberale Theologie (5): Karten und Kategorien – Wahrheitsansprüche neu denken

Beim Propositionalismus geht es um die Übereinstimmung zwischen der Struktur des Wissens und der Struktur des Gewussten. Es gibt nur wahr oder falsch (egal ob das Irrum ist oder Lüge). Ausdrucksorientiert könnte man „Wahrheit“ als symbolische Effektivität verstehen, die aber ist schwer zu bestimmen und zu vergleichen. Man könnte höchstens sagen, alles was irgendwie „wirkt“, ist auch irgendwie „richtig“, weil es einen Nerv trifft.

Sprachlich-kulturell stellt sich die Frage nach der Angemessenheit der Kategorien (analog z.B. zu mathematischen Systemen), sie machen die Formulierung von Wahrheiten erster Ordnung/Intention erst möglich. Eine kategorial „wahre“ Religion macht angemessenes Reden von Gott erst möglich – es muss aber nicht jede einzelne ihrer Aussagen deshalb (propositional/ontologisch) „richtig“ sein, also die Wirklichkeit korrekt wiedergeben

Die Kategorien verschiedener Religionen können etwa inkompatibel sein: „Größer“ bedeutet nicht „röter“. Westliche Religionen haben zum Beispiel keine Kategorien, um sich auf das buddhistische Nirwana zu beziehen, sie können daher erst einmal gar keine sinnvollen Aussagen dazu machen. Umgekehrt, sagt Lindbeck,

… viele Christen behaupten, dass die Geschichten von Abraham, Isaak, Jakob und Jesus Teil des Referenzsinnes des Wortes „Gott“, so wie dies in der biblischen Religion gebraucht wird, sind, und sie schließen daraus, dass Philosophen und andere, die keinen Bezug auf diese Erzählungen nehmen, mit „Gott“ etwas anderes meinen. (77)

Es gibt aber kulturell-sprachlich kein allgemein gültiges Grundkonzept wie bei den ersten beiden Ansätzen, keinen neutralen oder „objektiven“ Ausgangspunkt, an dem sich Wahrheitsansprüche messen lassen.

Propositional gedacht muss eine Religion fehlerfrei sein, um unüberholbar zu werden (Glaube, Schrift, Kirchenlehre) und die höchsten Offenbarungsinhalte (mit Thomas von Aquin gesprochen: revelabilia) vollständig enthalten. Andere Religionen haben dann einen geringeren Wahrheitsgehalt, sind vermischt mit Irrtümern oder sind unvollständig.

Expressiv gedacht besteht die Möglichkeit, dass Religionen sich gegenseitig ergänzen und verstärken, aber die Qualität des symbolischen Ausdrucks findet schwerlich eine Obergrenze, es wäre also immer eine Steigerung denkbar.

Kategorial ist das leichter zu denken: Möglicherweise hat eine Religion die passendsten Kategorien. Andere Religionen könnten kategorial „falsch“ sein, aber trotzdem echte Erfahrung und propositionale Wahrheit enthalten.

Denkt man über Religionen in einer kognitivistischen Weise, sind sie immer sinnvoll genug, um falsch sein zu können, und die teuflischste kann einige Schimmer von Wahrheit sogar dann enthalten, wenn es sich um nicht mehr als den Glauben an die Existenz des Teufels handeln sollte. In einer kategorialen Interpretationsweise könnten im Gegensatz dazu Satansglaube oder Satanismus weder wahr noch falsch sein, sondern wie Ansichten über einen quadratischen Kreis lediglich unsinnig sein (obgleich auf sehr abscheuliche Weise).

Eine Religion kann (auch im kategorialen Denken) in ihrer gelebten Gesamtheit von Lehre und gemeinschaftlicher Praxis als Proposition gedacht werden, als Entsprechung zu Gottes Sein und Willen. Ein Vergleich mit Landkarten hilft hier weiter. Karten, das ist dabei wichtig, müssen gebraucht werden, um zur Proposition zu werden.

  • Werden sie falsch gelesen, sind sie Teil einer falschen Proposition: man kommt nämlich nicht ans Ziel, wenn man die Himmelsrichtungen verwechselt.
  • Umgekehrt sind sie trotz Fehlern im Detail „wahr“, wenn man das Ziel tatsächlich erreicht (darum geht es ja, nicht um bloßes Wissen)
  • Eine Phantasiekarte (etwa von Mittelerde) ist dagegen kategorial falsch – und praktisch nutz- und sinnlos
  • Eine exakte Karte von einem irrelevanten Raum (Frankreich, aber ich will nach Prag) ist ebenfalls unnütz
  • Hat eine Karte korrekte Größenverhältnisse, kann sie propositional wahr oder falsch sein (die Entfernung A-B stimmt, aber B ist nicht, wie angegeben, Prag)
  • Manche Karten oder Routenpläne sind anfangs akkurat und werden dann vage oder falsch
  • Eine ungenaue Skizze genügt manchen Leuten, wenn sie einen guten Orientierungssinn haben
  • viele Details können, selbst wenn sie „stimmen“ manche zur Umständlichkeit verleiten bzw. auf „interessante“ Umwege schicken (gilt im Glauben noch mehr als bei Karten oder Reiseführern)
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5 Antworten auf „Postliberale Theologie (5): Karten und Kategorien – Wahrheitsansprüche neu denken“

  1. Ich finde dieser und die bisherigen Texte denken sehr Start in soziologische Kategorien, denn in theologischen. Auch die Sprache ist eine sehr soziologische. Was das aber nicht entwerten soll.

    Ich denk mir nur: Okay, nach 2000 Jahren christlicher Theologie stellt man fest, das kaum ein schritt weit gekommen zu sein. Also beschäftigt man sich akademisch mit dem Prozess des theologischen Scheiterns. Wenn man sich so in den anderen Fakultäten des akademischen Lehrbetrieb so umschaut, sieht man dann vielleicht neidisch auf die Soziologen, deren Disziplin fiel jünger ist und scheinbar (oder tatsächlich) schon so viel weiter ist. Bei der Anwendung der erprobten Mittel der Soziologie geht es dann auch gleich ordentlich voran. Die Ergebnisse scheinen einem nur so entgegen zu fliegen. Ein völlig neues forschungsgefühl für ein Theologen.

    Nur was was dabei – meiner Ansicht nach – übersehen wird, ist das der Thologe einfach nur zum Soziologen geworden ist. Das „verführerische“ an der Soziologie ist, das es endlich mal was „Handfestes“ zu untersuchen gibt. Man kann richtig Feldforschung betreiben u.s.w. In der Theologie hingegen wird ständig – per Definition – nur über Dinge gesprochen, die man nicht wissen kann. Selbst die s.g. „Praktische Theologie“ hält nicht das, was sie – dem Namen nach – verstricht.

  2. OK, Peter, ich hab nicht alles verstanden, was du oben geschrieben hast. Und vielleicht passt das folgende überhaupt nicht dazu. Aber dein Artikel hat mich zu den folgenden Gedanken angeregt:

    Was bedeutet es, dass im christlichen Glauben die Wahrheit eine lebendige Person ist?

    Reichen Kategorien dann eigentlich nie aus, diese Wahrheit zu beschreiben?

    In Christus ist der Offenbarungsinhalt Gottes vollständig erhalten, ohne dass eine Religion oder Denomination diese Wahrheit fehlerfrei oder vollständig begriffen hätte. Das liegt in der Lebendigkeit.

    Die christliche Landkarte – um in deinem Bild zu bleiben, Peter – bezieht sich dann auf ein Land, das nur in einem einzigen Punkt auf der Karte erscheint, dem Einstiegspunkt. Dort muss ich hin, um das Land zu entdecken und zu befahren.
    Denn der Weg (zu Gott?), für den eine Religion eine Wegbeschreibung geben würde, fällt mit der Wahrheit und dem Leben in der Person Jesus Christus zusammen.

    Wir erkennen die Wahrheit also nur stückweise, leben aber bereits vollständig mit ihr zusammen.

  3. @Olaf: In allen möglichen Wissenschaften gibt es Paradigmenwechsel, und zwar häufiger als in der Theologie. Sprachlich-kulturell ist im Übrigen nicht „soziologisch“ gedacht.

    Sprache ist und bleibt das Grundmedium des Evangeliums und der Theologie, daher ist das ein echter theologischer Ansatz, möglicherweise „theologischer“ als seine Vorgänger, die andere Kategorien in den Vordergrund rückt.

    Von „Scheitern“ kann also keine Rede sein, bestenfalls von einem sinnvollen Neuansatz. Nur weil Soziologie hier und da auch Sprache und Kultur reflektiert, ist das noch nicht dasselbe. Ebenso wenig wie Medizin und dastellende Kunst dasselbe sind, bloß weil sie sich mit dem menschlichen Körper befassen.

  4. @JtheLo: Gut weiter gedacht, würde ich sagen. Wenn die Wahrheit eine Person ist, dann ist unmittelbar einsichtig, dass es keine umfassende propositionale Beschreibung geben kann, sondern alle Satzwahrheiten immer nur Verweischarakter haben auf das Ereignis dieser Person. Und dieses Ereignis sprengt regelmäßig die Versuche, es in Sätzen einzufangen.
    Dennoch müssen wir davon reden, wenn auch immer nur in Annäherungen, und das muss uns auch bewusst sein, während wir reden.
    Zu den Karten muss ich selber noch ein bißchen nachdenken. Aber vielleicht wird es mit dem nächsten Post auch noch deutlicher.

  5. „Satzwahrheiten mit Verweischarakter…!“ Genau das wollte ich sagen.
    Sehr gur in Worte gepackt.

    Das gute ist ja gerade, dass im Reden über Jesus Christus – und die Notwendigkeit besteht absolut – er selber verspricht („in Wahrheit und im Geist“) anwesend zu sein.
    Und dass das eben nicht bedeutet, dass diese Anwesenheit zu einer umfassenden propositionalen Beschreibung seiner selbst führt, sondern… nun, zu was?

    Vielleicht dazu, dass die Wahrheit sich in jeder Situation neu aktualisiert und Gott selber dafür sorgt, dass die Paradigmenwechsel stattfinden, die zur Wahrheitsaktualisierung nötig sind.

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