Die Management-Trainerin Marion Knaths gibt auf Zeit Online Karrieretipps für Frauen. Diesmal ging es um die Wirkung der Stimme, und sie erklärte, warum frau in einer Besprechung ihre anerzogenen Hemmungen überwinden und bewusst laut und deutlich reden muss. Dabei sagt sie auch, dass nur „die Eins“, also der/die Ranghöchste, es sich erlauben kann, leise zu reden. Als Beweis imitiert sie das heisere Flüstern von Marlon Brandos Synchronstimme in Francis Ford Coppolas Film „Der Pate“.
Das war schon in der Schule so: Der Lehrer, der echte Autorität hatte, musste nicht darüber sprechen, sie weder begründen noch verteidigen. Umgekehrt wussten wir als Schüler sofort, dass der, der ständig darüber sprach, eine bestenfalls formale Autorität hatte. Die reichte, um Zensuren zu verteilen, aber nicht, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen oder um die Begeisterung für ein Fach zu wecken. Wenn ein Lehrer die Beherrschung verlor und herumbrüllte, tat er sich damit in der Regel keinen Gefallen.
Im Gegensatz zu manch christlicher Ideologie redet die Bibel auch leise und sie kehrt ihre Autorität nicht ständig heraus oder versucht gar, sie zu rechtfertigen. Sie erklärt sich nicht selbst für unfehlbar. Kaum etwas schadet der persönlichen Autorität von Führungskräften so sehr, wie einen Fehler nicht eingestehen zu können. Die Bibel jedenfalls sagt, was sie zu sagen hat. Punkt. Und das sagt sie so gut und wirkungsvoll, dass sie nach 2000 Jahren noch brandaktuell ist. Wir müssen ihr (beziehungsweise dem Heiligen Geist) dabei gar nicht helfen. Unsere Versuche, ihre Autorität von außen durch irgendwelche Theorien zu begründen, bleiben in der Regel auf der formalen Ebene stecken.
Andererseits ist es nicht so, dass wir über das Gewicht und die Bedeutung der Bibel gar nichts mehr zu sagen hätten. Michael Welker nennt in seinem Aufsatz Sola Scriptura (in: Die Reformation. Potentiale der Freiheit, S. 91-120) vier wichtige Aspekte:
- Das historische Gewicht der Schrift besteht in den vielfältigen Erfahrungen, die ganz unterschiedliche Menschen über Jahrhunderte hinweg mit Gott gemacht haben. Sie wurden erzählt, gesammelt, aufgeschrieben, mit einander verglichen und kommentiert und sprechen auch Jahrhunderte später Menschen noch ganz existenziell an.
- Das kulturelle Gewicht der Bibel hat damit zu tun, dass sie die kulturellen Verhältnisse ihrer Zeit (darunter auch für uns so fremde oder problematische Phänomene wie das Patriarchat, Sklavenhaltung oder Ethnozentrismus) nicht nur widerspiegelt, sondern sie auch in Frage stellt und sogar verändert.
- Das kanonische Gewicht hat mit der Vielstimmigkeit, dem Spannungsreichtum dieser „Landschaft von Zeugnissen“ zu tun: Welker erkennt „zahlreiche kontrastive und vernetzte Zeugnisse von Gott und Gottes Wirken, die in immer neuen Situationen auf einander verweisen, die von einander lernen, die einander sowohl kritisieren als auch verstärken.“ Ein Kanon enthält eine Mehrzahl von Stimmen und Erinnerungen, die gleichwohl nicht beliebig ist. Genau darin liegt auch der besondere Werkt für eine „multikontextuell wachsende Kirche“.
- Alles bisher Gesagte verweist schließlich auf das theologische Gewicht der Schrift, in dem sich der lebendige Gott selbst zu erkennen gibt. Am Beispiel der Emmaus-Geschichte verweist Welker auf den auferstandenen Christus als den Ausgangspunkt vielfältiger „Evidenzerfahrungen“ einer neuen Wirklichkeit, die naturalistisches und szientstisches Denken sprengt: „Die Fülle der Person und des Lebens Christi bringt sich im (…) kanonischen Gedächtnis der Gemeinschaft von Zeuginnen und Zeugen zur Geltung.“