Postliberale Theologie (1)

Der folgende, mehrteilige Post ist eine Zusammenfassung meines Workshops vom Emergent Forum. Hier wie dort beschränke ich mich darauf, George A. Lindbecks theologischen Ansatz darzustellen. Die Bewertung darf jeder selbst vornehmen (idealerweise erst dann, wenn man in Ruhe hingehört hat und versteht, worum es Lindbeck geht, und nicht gleich beim ersten Gedanken, der fremd anmutet). Sein Werk Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens ist auf Deutsch leider vergriffen, im Englischen aber unter den Titel The Nature of Doctrine erhältlich. Wer also mit- oder nachlesen möchte, muss in die nächste UB fahren oder – doppelt nützlich – sein Englisch aufpolieren.

Lindbeck kommt vom ökumenischen Dialog her und umreißt zunächst zwei herkömmliche Grundformen des Verstehens von Glaube und Religion:

Der Propositionalismus geht davon aus, dass Wahrheit in Lehrformeln umfassend und objektiv wiedergegeben werden kann. Doch der Propositionalismus ist in der Defensive, und zwar schon seit langer Zeit: Kant kritisiert Grundlagen propositionalen Denkens, und die historische Kritik ging weiter weiter in dem Nachweis, dass viele biblische Aussagen und kirchliche Dogmen alles andere als zeitlos waren.

Aber auch heute ist der Propositionalismus noch als kognitiv-argumentativer Ansatz präsent. Wir finden ihn bei modernen Apologeten wie G.K. Chesterton, C.S. Lewis oder Malcolm Muggeridge, und auch Barths Theologie weist eine gewisse Nähe dazu auf, Religion und Glaube primär von den aussagbaren Glaubensinhalten her zu bestimmen. Doch die Kluft zum Rest der Welt wird größer:

Gegenwärtig sind immer weniger Menschen tief in bestimmten religiösen Traditionen verwurzelt oder voll und ganz beteiligte Mitglieder bestimmter religiöser Gemeinschaften. Das macht es ihnen schwer, Religion auf kognitive Weise als die Annahme eines Bestandes an objektiven und unwandelbar wahren Aussagen zu erfassen oder zu erfahren. (S. 44)

Der andere Typus, nämlich der erfahrungsorientierte Expressivismus, hat seine Vorläufer im Pietismus und wird von Schleiermacher weiterentwickelt. Er sieht in aller Relgiosität eine vorreflektive Tiefenerfahrung („Geist“) am Wirken. Sie ist das „Eigentliche“ und wird erst im zweiten Schritt, also nachträglich, objektiviert beziehungsweise symbolisiert. Die Begriffe und Formen hält man für kulturell geprägt. Inzwischen ist die Tendenz zur „Entobjektivierung des Dogma“ weiter fortgeschritten. Es hat sich ein eklektischer Umgang mit Religionen und Symbolsystemen entwickelt – sie werden als vielfältige Lieferanten des Rohstoffs für transzendente Selbstverwirklichung benutzt.

„Die Strukturen der Moderne drängen den Einzelnen, Gott zuerst in den Tiefen seiner oder ihrer Seele zu begegnen und dann erst vielleicht, falls er oder sie dem etwas persönlich Zusagendes abgewinnen können, sich einer Tradition anzuschließen oder einer Kirche beizutreten.“ (S. 44)

Nun aber droht eine Ghettoisierung der Theologie, denn das Gros der Forscher ist längst zu anderen Modellen übergegangen: „Der erfahrungsorientierte Expressivismus hat überall an Boden verloren, mit Ausnahme der theologischen Ausbildungsstätten und religionswissenschaftlichen wie theologischen Fakultäten, wo sich, wenn überhaupt, der Trend entgegengesetzt entwickelt.“ (49)

Eine Verschränkung der beiden Ansätze hat Bernard Lonergan im Anschluss an Karl Rahner unternommen. Für ihn stellt sich das, so fasst Lindbeck knapp zusammen, ungefähr so dar:

  1. Religionen sind objektivierende Ausdrucksformen einer gemeinsamen Kernerfahrung
  2. Sie mag auf der Ebene selbstbewusster Reflexion verborgen sein
  3. Sie ist allen Menschen eigen
  4. diese Erfahrung ist Quelle und Norm der Objektivierungen
  5. die ursprünglichste Form dieser Erfahrung ist ein „dynamischer Zustand des In-Liebe-Seins ohne Einschränkungen“
  6. einige Sachverhalte der biblischen Religionen gründen nicht nur in Erfahrung, sondern in göttlichem Offenbarungswillen

Das Problem dabei ist und bleibt jedoch: Es gibt kein aussagekräftiges Beweismaterial für die Einheitlichkeit der Ursprungserfahrung, und den Anhängern des erfahrungsorientierten Expressivismus gelingt es nicht, angesichts der empirischen Vielfalt religiöser Erfahrungsberichte klare Kriterien für die postulierte Gemeinsamkeit zu nennen. Lonergans „in Liebe sein“ etwa benutzt ganz offensichtlich explizit christliche Vorstellungen und Begriffe.

Share

5 Antworten auf „Postliberale Theologie (1)“

  1. Danke, Peter, für die Zusammenfassung. Lindbeck wartet schon auf meiner Amazon-Wunschliste:-).

    Was die Entwicklung vom Propositionalismus zum erfahrungsbezogenen Expressivismus und darüberhinaus bzw. die Neigung zu einem von diesen Prägungen angeht, würde mich folgendes interessieren:

    Wenn ich das aktuelle Buch von Christian A. Schwarz‘ über die 9 geistlichen Stile lese, bekomme ich sehr stark den Eindruck, daß sich diesen unterschiedlichen o.g. Typen jeweils mehr oder weniger ein geistlicher Stil zuordnen läßt. Was glaubst Du, wie groß der Einfluß einer dieser Stile auf die o.g. Entwicklung ist? Eher gering, weil der Großteil z.B. durch kulturelle Prägung, sei es durch Platon und Aristoteles o.ä., beinflußt ist? Oder doch stärker, weil vielleicht mal der eine oder mal der andere Stil präsenter war? Allerdings merke ich selbst bei mir, daß ich trotz des einen primären geistlichen Stils vieles an meiner Theologie geändert habe, was vor allem an äußeren Einflüssen und neuen Denkanstößen liegt, was ja für ersteres spräche.

    Grundsätzlich scheint mir Lindbeck aber auf dem richtigen Weg zu sein. Einerseits erschließt sich Gott mir nur durch seine Offenbarung, andererseits erweckt diese Offenbarung in mir aber vielleicht ganz andere Eindrücke als z.B. bei meiner Frau oder auch Dir. Auch scheint es mir deshalb mehr als ungerechtfertigt (gegen Propositionalismus), daß es die eine Wahrheit Gottes geben soll, der ich hinterherjage. Denn für jeden könnte ja auch Wahrheit etwas unterschiedliches bedeuten (was nicht besagt, daß es nicht gewisse historische Wahrheiten wie Kreuz und Auferstehung Jesu geben könnte). Vieles scheint mir persönlich sehr wichtig, was anderen vielleicht völlig nebensächlich erscheint. Soweit meine ersten Gedanken dazu. Aber sehr interesant…

  2. @Phil: Zum Verständnis – die Darstellung von Lindbecks Ansatz kommt erst noch im nächsten Post. Die Stildiskussion finde ich sehr schwierig, weil durch diesen Begriff Dinge dem individuellem „Geschmack“ zugeordnet sind, die bis dahin geistliche Praxis und n Gemeinschaften eingebettete Traditionen waren, und nun zum Spielball einer Pick&Mix-Mentalität zu werden drohen. Rohmaterial, wie Lindbeck sagt. Am Ende läuft diese Logik auf einen Facebook-Test hinaus, der dir erklärt, welche Religion zu dir passt…
    Insofern ist die Stilfrage eher eine Spätfolge des Expressivismus, auch wenn Schwarz u.a. eigentlich Verengungen bekämpfen und die Gleichwertigkeit spiritueller Prägungen betonen soll.

  3. Dazu ein Kurzschluss:
    Der Propositionalismus muss richtig sein, denn Chesterton ist mit Abstand der witzigste Apologet, den ich kenne. Das ist an sich schon eine Qualität, die für Wahrheit spricht und in der Apologetik selten genug vorkommt.

  4. Stimmt – Chersterton ist grandios, und so eine Art Anti-Apologet in meinen Augen. Eigentlich aber kein Propositionalist im klassischen Sinn

Kommentare sind geschlossen.