Barth Missional (15): Die Vielfalt der Gemeinde

Lange vor fresh expressions und mixed economies ging Karl Barth in KD IV,3 dem Wirken des Geistes in der Gemeinde nach und erkundete die charakteristisch christliche Spannung von Einheit und Vielfalt. Auf der Seite der Gemeinde ist Letzteres für ihn der Ausgangspunkt:

Der Heilige Geist ist nun einmal kein Gleichmacher. Und so kann die christliche Gemeinde auch ganz abgesehen von der natürlichen Individualität ihrer Angehörigen und von deren Gefahren keine Kaserne, können ihre Angehörigen nicht deren uniformierte Bewohner, kann ihr Tun nicht die Ausführung eines ihnen allen gleichmäßig eingedrillten Manövers sein. (KD IV,3 S. 981)

Von daher ist es nur noch ein kurzer Schritt zum folgenden Gedanken, dass die Gemeinschaft der Kirche aus unterschiedlichen Gemeinschaften besteht, die den allgemeinen Auftrag in vielfältigen Formen und Konkretionen leben, ohne dass

die die ganze Gemeinde konstituierende «Gemeinschaft des Heiligen Geistes» ( 2. Kor. 13, 13), in der die Einzelnen sich allein ernsthaft an ihrem Dienst und Zeugnis beteiligen können, aus der sie also unter keinen Umständen heraustreten dürfen, wird sich konkret immer in Gestalt von besonderen Gemeinschaften derer darstellen, die sich im Rahmen des einen Tuns der einen Gemeinde im Besonderen zu einem gleichen oder doch ähnlichen Tun berufen und begabt finden. Sie darf, sie muß sich entfalten in besonderen Arbeitsgemeinschaften, zu denen dann nicht ohne weiteres alle Christen gehören können und werden,

Diese besonderen Gemeinschaften sind erwünscht und nötig, gerade weil es um den einen Auftrag der einen Kirche geht. Und wo es um den tatsächlich geht, ist es auch völlig in Ordnung, dass nicht alle Christen dort ihren Platz sehen und sich an dieser konkreten Form des Dienstes beteiligen. Dabei ist nun gerade nicht ein ausgedehntes Filialnetz gemeint, wo überall alles dasselbe tun und die Unterschiede nur geografischer Natur sind, sondern ganz unterschiedliche Typen von kirchlicher Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Freilich dürfen sie nie zum Selbstzweck werden, keine „auf die Befriedigung gewisser gemeinsam empfundener seelischer Bedürfnisse bedachte Zusammenrottungen von Gleichgesinnten oder Gleichgestimmten“. Wo diese Gefahr nun gesehen wird,

… da ist es nicht nur zu begrüßen, sondern zu fordern, daß es im Rahmen der allgemeinen Gemeinschaft aller Christen auch zur Entstehung und zum Bestand besonderer Gemeinschaften Einiger oder Vieler unter ihnen kommt. Gerade in der Vielzahl solcher Arbeits-, Dienst- und Zeugnisgemeinschaften wird dann die Einzahl der lebendigen Gemeinde des lebendigen Jesus Christus nur um so kräftiger wirksam und sichtbar werden.

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Barth missional (14): Ein Gleichnis zum Mitmachen

Der Auftrag der christlichen Gemeinde ist es, der Welt das „Gleichnis der suchenden Vaterliebe Gottes“ vor Augen zu stellen, schreibt Barth. Sie kann dabei nicht mehr als ein Zeichen geben, einen „innerweltlichen Anstoß“, der Menschen zum Aufbrechen und Aufmerken veranlasst, mehr nicht. Die Mneschen, an dies sie sich wendet, soll sie dabei in dieses Gleichnis einbeziehen. Sie überschreitet oder verwischt damit bestehende Grenzen. Wie diese Art der Mit-Teilung gemeint ist, beschreibt er so:

Evangelische Anrede als Zeugendienst der Gemeinde heißt: alle Menschen, jeden Menschen nah und fern zum vornherein und ohne Federlesens zu machen (als die großen Sünder, die sie, wie übrigens auch die Glieder der Gemeinde selbst, sind), im wörtlichsten Sinn «ins Bild setzen», d. h. einbeziehen in das ihnen vorzuführende Gleichnis des Reiches Gottes, in den Umkreis der Gültigkeit des Inhalts des Evangeliums – der Gnade also, des Bundes, der Versöhnung, der in Jesus Christus der Welt zugute geschehenen Erniedrigung Gottes zur Erhebung des Menschen.

In evangelischer Anrede greift die Gemeinde also im vollen Bewußtsein dessen, was sie damit wagt – sie muß es aber wagen! – über die das nicht-christliche Menschenvolk von ihr selbst als dem erwählten und berufenden Volk Gottes unterscheidende Grenze hinaus, nimmt sie diese Grenze gerade damit ernst, daß sie die da draußen – von Optimismus und Pessimismus in ihrer Beurteilung gleich weit entfernt, aber ihrer Sendung getreu – nicht als Juden oder Heiden dieser oder jener Farbe, nicht als Atheisten, Skeptiker oder Indifferente, nicht in ihrem Irrglauben, Aberglauben und Unglauben, auch nicht als die ganzen oder halben Heuchler, als die sie sich ihr darstellen mögen, sondern als das Volk der christiani designati ernst nimmt und anspricht (KD IV,3 S. 978)

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Pssst…!

„… sag’s bloß keinem weiter!“, hatte eine Bekannte diese Woche zu ihrer Freundin gesagt, als sie hörte, dass Richard Rohr am 7. Juni zwischen Kirchentag und einem Seminar in Müsterschwarzach in Erlangen Station macht. Sie fürchtete, wenn sich das zu weit herumspricht, könnte die Hütte überfüllt sein.

Den Mann muss man eigentlich nicht vorstellen, seine Bücher sprechen für sich. In den letzten Jahren hat er sich aus katholischer Perspektive mit dem Thema „Emerging Christianity“ befasst, und dazu haben wir Ihn auch eingeladen. Es gibt eine weltweite Konvergenzbewegung – verschiedene Flügel der Christennheit bewegen sich aufeinander zu. Was das bedeuten könnte, auch hier in Deutschland, werden wir am 7. Juni mit ihm bedenken (19.00 Uhr Markuskirche, Sieglitzhofer Str. 4 in Erlangen).

Wer Englisch versteht und sich schon mal einstimmen möchte, kann hier seinen Vortrag am Fuller Seminary ansehen:

Emerging Christianity from Fuller Seminary on Vimeo.

Und wer möchte, darf es selbstverständlich weitersagen. Die Kirche hat ein paar hundert Plätze. Nur zu spät kommen sollte man besser nicht.

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Barth Missional (13): Lust und Ernsthaftigkeit

Barth spricht vom dienenden Zeugnis der Gemeinde. Ein Aspekt des Dienstes liegt darin, das Evangelium so zu verkünden, dass es für andere Menschen nachvollziehbar ist. Zu hoch schrauben sollte man die Erwartungen an den „Erfolg“ dabei zwar nicht:

Sie [die Gemeinde] wird sich davor hüten, das, was sie in dieser Richtung tun kann, zu überschätzen, ihr bißchen Erklären für ein göttliches Offenbaren zu halten und auszugeben, um dann enttäuscht und betrübt zu werden, wenn es nicht die Wirkung eines solchen hat. Sie wird sich aber erst recht davor hüten, ihr Pfund zu vergraben, dem Evangelium und den Menschen, an die es sich richtet, den beschränkten, aber bestimmten Dienst nicht zu leisten, den sie in Gestalt der Erklärung ihrer Aussage und also des Evangeliums leisten kann.

Nur weil etwas (die „göttliche Offenbarung“ nämlich) nicht machbar ist, bedeutet nicht, dass man gar nichts dazu beizutragen hätte. Also fügt Barth umgehend hinzu, dass man sich nicht zu schnell damit abfinden darf, nicht verstanden zu werden. Ungeteilte Zustimmung zu erwarten, wäre ein Fehler. Aber wenn einem völliges Unverständnis entgegenschlägt, dann sollte man dies nicht als Zeichen interpretieren, dass man auf dem richtigen Weg ist:

Das dürfte nämlich bei allen … Menschen, ob sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können oder nicht, erreichbar sein, daß ihnen wenigstens die innere Konsistenz und insofern der Sinn der evangelischen Botschaft einleuchte. Erreichte die Gemeinde auch das nicht, dann dürfte ihr zu raten sein, sich zu fragen: ob das nicht an einem Versagen ihres eigenen Aufmerkens auf die innere Klarheit, die Rationalität, die Vernünftigkeit des Evangeliums einerseits und an einer Vernachlässigung der ihr zu Gebote stehenden menschlichen Mittel anderseits liegen möchte? Es dürfte ihr dann zu raten sein, den Fehler bei sich selbst und nicht bei der bösen Welt zu suchen, und darum mit neuer Lust und Ernsthaftigkeit zu neuen Anstrengungen und Versuchen in dieser Richtung aufzubrechen. (KD IV,3 S. 972f.)

Gefragt sind also „neue Anstrengungen und Versuche in dieser Richtung“. Sie beginnen mit dem „eigenen Aufmerken“, denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ich selbst etwas nicht richtig verstanden habe, wenn ich es anderen nicht erklären kann. Das zuzugeben, ist keine Schande, es zu verdrängen dagegen wäre kirchliche Selbstsabotage. Zweitens geht es um die “Wahl der Mittel“. Welche Formen und Räume der Kommunikation stehen uns offen? Sind die bisher genutzten noch erste Wahl? Das wäre doch etwas, wenn viele Gemeinden sich aufmachten, diese Fragen mit „neuer Lust und Ernsthaftigkeit“ anzugehen!

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Unanständige Werbung

Heute flatterte mir mal wieder ein Flyer für ein christliches Trainingsprogramm ins Haus, der rhetorisch nicht gerade bescheiden daherkam. Dinge, an denen manche Leute, die ich lange kenne und deren geistliche Reife ich wirklich schätze, Jahre arbeiten (und auch dann mit recht unterschiedlichem „Erfolg“) erschienen da als Resultate eines recht überschaubaren (aber nicht ganz billigen) Prozesses.

Und ich fragte mich beim Durchlesen: Darf man so etwas eigentlich versprechen, wenn dass zum Teil doch eher Dinge sind, die nur Gott tun kann? Gibt es eine Art freiwiliige Selbstkontrolle christlicher Einrichtungen, die solche Dokumente prüft und gegebenenfalls beanstandet, oder kann jeder schreiben und versprechen (beziehungsweise mehr oder weniger unverblümt in Aussicht stellen), was er will?

Um nicht falsch verstanden zu werden: Manche Dinge können wir tatsächlich „machen“ und das darf man auch gern versprechen. Gute pädagogische Konzepte zum Beispiel oder professionelle Musik. Andere Dinge können wir nicht machen: Ob jemand die professionelle Musik schön findet oder davon emotional tief berührt wird, ob Gemeinschaft tatsächlich als authentisch empfunden wird, das liegt nicht in unserer Hand. Noch viel schwieriger ist es, wenn wir mit göttlichen Offenbarungen und Einblicken winken.

Wir dürfen uns gern vor Gottes Karren spannen lassen. Aber umgekehrt geht das eben nicht. Wie bei dem unsäglichen „die Bibel garantiert es“ zum inzwischen sang- und klanglos verstrichenen Weltuntergangstermin am letzten Wochenende. Die Leute, die darauf hereingefallen sind, haben vielleicht schon lang zu viel fromme Propaganda konsumiert, die mit nicht gerade bescheidenen sprachlichen Mitteln ihre von keinem Zweifel angenagten Gewissheiten von sich gab.

Auch deswegen wäre eine Selbstkontrolle gut. Sie hilft, unnötigen Frust zu verhindern.

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Knackiger Dreisatz

Rob Bell und Dallas Willard habe davon gesprochen, dass Gott die Christen retten muss, beziehungsweise dass sie ihm ab und zu verloren gehen, weil sie sich um sich selbst drehen und Kirche zum Selbstzweck machen. Ein paar Jahrzehnte zuvor hat Barth das schon auf diesen prägnant-provokativen – und für seine Verhältnisse unglaublich kurzen – Nenner gebracht:

(1) Die Welt wäre zwar ohne Jesus Christus, ohne sein Werk und Wort verloren.

(2) Die Welt müßte aber nicht verloren sein, wenn es keine Kirche gäbe.

(3) Wogegen die Kirche, ohne in der Welt ihr Gegenüber zu haben, verloren wäre.

KD IV,3, S. 946

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„Wie sag ich’s meinem Kinde?“

Vor kurzem hatte ich hier schon – nicht zum ersten Mal – das Problem von Form und Inhalt bedacht. Man stößt auch bei gut gemeinten, aber naiven (und in dieser Naivität auch problematischen) Versuchen von „Kontextualisierung“ auf die irrige Vorstellung, man kenne den Inhalt des Evangeliums hinreichend gut, um ihn objektivieren zu können. Aus einer Botschaft, deren primäres Subjekt Gott ist und bleibt, wird nun ein „Stoff“, den man bearbeiten kann und darf, ein Prozess, dessen Subjekt dann der jeweilige Mensch wird. Karl Barth sieht darin die Grundversuchung des theologischen Konservativismus und schreibt:

wie man die Menschen dieser Gegenwart mit der Kunde von diesem Objekt am besten erreichen, am sichersten für das gewinnen könne, was man für dessen eigene, sichere, keiner Erneuerung bedürftige Erkenntnis halten zu sollen meint, wurde und wird jetzt die Frage. Vermeintlich schon wissend um das, was in der Bibel steht und dann auch schon wissend um den Sinn der ganzen communio sanctorum, aber eben: auch dem Evangelium selbst gegenüber auf hoher Warte, meinte und meint man, nach dieser Seite mit freiem Rücken, munter verfügend zur Tagesordnung, nämlich zur zeitgemäßen Übersetzung, Interpretation und Applikation jenes bekannten Textes, zur kritischen Verarbeitung und Nutzbarmachung jenes Objektes übergehen zu können. (KD IV,3 S. 937)

Mir begegnet das gar nicht selten, dieser Drang von Menschen, sich einer Sache theologisch zu bemächtigen, um „endlich“ zur Anwendung vorzudringen. Das ungute an diesem Pragmatismus (unpraktisch und vage zu bleiben ist durchaus auch eine Versuchung der Christen) liegt darin, dass man sich dabei in eine Situation bringt, in der nur Gewissheiten zählen. Folglich werden die eigenen Ungewissheiten nicht als Chance erkannt, Gott neu zu hören und zu begegnen, sondern nur als lästige Hindernisse auf dem Weg zur Praxis, die alleine zählt.

So gesehen könnte die größte Versuchung die sein, dass man auf die Frage „Was ist das Evangelium?“ wie aus der Pistole geschossen mit drei Sätzen (um mal nicht von vier Gesetzen zu reden) antworten zu können meint…

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Barth Missional (12): Ganz oder gar nicht

Zu Beginn des dritten Abschnitts von KD IV,3 kommt Barth, der ja zwischendurch gern die eine oder andere rhetorische Pirouette dreht, ganz unverblümt auf den Punkt. Man darf das in all seiner Wucht erst einmal auf sich wirken lassen. Über die Konsequenzen für das Selbstverständnis, die Gestalt und das Handeln der jeweils eigenen Gemeinde wird man von da aus lange und gründlich nachdenken müssen. Ich überlege gerade, ob ich den folgenden Abschnitt nicht hier irgendwo im Büro aufhängen sollte:

Die christliche Gemeinde ist nicht von ungefähr, nicht aufs Geratewohl, sondern mit einem ganz bestimmten Auftrag in die Welt gesendet. Sie ist nicht vor ihrem Auftrag da, um ihn dann erst zu bekommen. Und sie ist nicht ohne ihn da, so daß die Frage, ob sie ihn habe und auszuführen habe oder nicht, je offen sein könnte. Sie ist ja eben für die Welt da. Ihr Auftrag konstituiert und formiert sie zum vornherein. Er bildet die Mitte und den Horizont ihrer Existenz. Hätte sie ihn nicht bekommen, so wäre sie gar nicht entstanden. Würde sie ihn verlieren, so könnte sie nicht mehr bestehen. Er ist also nicht so etwas wie eine ihr erst verliehene Würde: sie ist überhaupt nur, indem sie ihn, vielmehr: indem er sie hat.

Und er ist nicht so etwas wie eine ihr erst auferlegte Bürde: er ist das ihr unveräußerliche, das sie tragende Fundament. An ihm ist sie in allen Stunden ihrer Geschichte gemessen. Mit ihm steht und fällt sie in allen ihren Lebensäußerungen, in ihrem ganzen Tun und Lassen. Sie versteht sich entweder von ihrem Auftrag her oder sie versteht sich gar nicht. Sie nimmt sich entweder von ihrem Auftrag her ernst, oder sie kann sich gar nicht ernst nehmen. Sie kann auch der Welt nur entweder im Blick auf ihn oder aber gar nicht respektabel werden – es wäre denn, sie imponierte ihr auf Grund von Eigenschaften und Leistungen, die sie mit anderen geschichtlichen Gebilden gemein hat, die mit ihrem besonderen, ihrem eigentümlichen und eigentlichen Sein nichts zu tun haben. Die christliche Gemeinde lebt von und mit ihrem Auftrag.

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Selbstachtung und Selbstverleugnung

Bei dem eigentlich immer lesenswerten Wolf Lotter auf Brand Eins habe ich heute zum Thema Respekt folgende sehr nachdenklich stimmende Zeilen gelesen. Er beschreibt einen gesellschaftlichen circulus vitiosus:

Die meisten Führungskräfte, Manager und Politiker strengen sich an, disziplinieren sich, vernachlässigen Familie und Beziehungen, geben alles, wie es so schön heißt. Um was genau zu kriegen? Macht ohne Bedeutung, Einfluss, aber keinen Respekt und wenig Anerkennung.

Im Gegenteil: Es gehört kulturell zum guten Ton, die „oben“ zu bashen, für alles verantwortlich zu machen, was man im eigenen Leben verbockt hat. Der Sachzwang killt den Anstand, den Respekt und die Würde. Und deshalb wimmelt es in den Chefetagen auch von Leuten, die hartnäckig verdrängen müssen, dass sie ihr eigentliches Karriereziel, ein Leben in Würde, Anerkennung und also Respekt, verfehlt haben.

Das führt zur Selbstverleugnung – und zerstört die Grundlage aller Rücksichtnahme auf andere, den Respekt zu sich selbst. Wer sich selbst nicht achtet, schafft das bei anderen erst recht nicht.

Das wirft auch im Blick auf Kirchen und Gemeinden Fragen auf:

Erstens: Schaffen wir es, eine Gegenkultur zu entwickeln? Und das, ohne dabei süßlich-nett und unkritisch zu werden, ohne in die alte Autoritätshörigkeit zurückzufallen, die die neue Respektlosigkeit ja nicht ganz zu Unrecht, aber zu einem sehr hohen Preis aufgegeben hat?

Zweitens: Wie buchstabieren wir „Selbstverleugung“, so dass man dem Begriff überhaupt noch etwas Positives abgewinnen kann? Also gerade nicht als Preisgabe der Selbstachtung, nicht als negatives Selbstbild oder gestörte Selbstwahrnehmung (bzw. Kontaktverlust zu den eigenen Gefühlen und Empfindungen)?

Vielleicht kann man ja sagen: Man kann nur verleugnen, was man wirklich kennt. Wenn – berechtigt oder nicht – Zorn in mir hochsteigt, kann ich also sagen: Ich weiß genau, was ich jetzt fühle und was ich im Moment am liebsten tun würde. Ich weiß aber auch genau, warum ich auf Rache und gehässige Worte verzichte: Weil ich es Gott (und mir selbst) wert bin, nicht zum Spiegelbild von Gewalt oder Respektlosigkeit zu werden. Weil ich lieber Böses mit Gutem überwinde, und wenn es sein muss, dafür auch einen hohen Preis zu bezahlen. Denn die Folgeschäden und -kosten der Alternative sind enorm.

Die Frage nach der unverlierbaren Menschenwürde ist dabei kein geringes Problem. Karl Barth hat sie so beantwortet:

Der Mensch selber ist […] wertbeständig, ist und bleibt und wird immer neu interessant. Darum nämlich, weil Gott Wert auf ihn legt, weil Gott sich in aller Macht gerade für ihn interessiert. Nicht auf Grund einer ihm, seiner allgemeinen Art und seiner besonderen Existenz immanenten Würde und Wichtigkeit also – nicht auf Grund von etwas, was Gott gerade an ihm finden müsste. (KD IV,3 S. 915)

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Barth Missional (12): „Heiliger Egoismus“

Barth bescheinigt der klassisch-reformatorischen Lehre von der Kirche ein gravierendes Versäumnis. Bei allen richtigen Reflexionen über das Wesen der Kirche gerät die Frage „Wozu das alles?“ nie richtig in den Blick. Die Folgen liegen auf der Hand:

Die klassische Lehre von der Kirche leidet unter demselben «heiligen Egoismus», den wir schon in unserer Auseinandersetzung mit der klassischen Lehre von des Menschen Berufung zu beklagen fanden. Daß die Kirche nicht um ihrer selbst willen, sondern für die Welt da ist, wird in ihr überhaupt nicht sichtbar, geschweige denn, daß sie von Grund und Haus aus, wesenhaft eben für die Welt da ist. Kam es daher, daß das protestantische 16. und 17. Jahrhundert durch jene ausgesprochene Unfreudigkeit, ja Unwilligkeit zur Mission ausgezeichnet war, auf die hier am Anfang dieses dritten Teils der Versöhnungslehre hingewiesen wurde? Oder war umgekehrt diese Unfreudigkeit und Unwilligkeit der Grund des auffallenden Versagens des Selbstverständnisses der Kirche jener Zeit? (S. 878)

Auf den ersten Blick scheint es, als hätte die katholische Kirche das besser gelöst. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber eine ähniche Tendenz, nämlich der Parole „die Welt für die Kirche“ zu folgen statt umgekehrt zu sagen: „Die Kirche für die Welt“.

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Barth missional (11): Ekstatische und exzentrische Gemeinde

Barth beginnt den zweiten Teil des §72 über die Sendung der christlichen Gemeinde mit einer klaren Bestimmung dessen, was seit Bonhoeffer unter dem Stichwort „Kirche für andere“ diskutiert (und leider oft mehr diskutiert als praktiziert) wird, und antwortet damit auch auf die oft (im Sinne einer Abkehr von der Welt) erhobene Forderung, Kirche müsse sich doch primär um Gott drehen: Sie tut genau das, indem sie für die Welt da ist:

Die Gemeinde Jesu Christi ist für die Welt da, will sagen: für alle, für jeden Menschen, für den Menschen aller Zeiten und Räume, der im Ganzen der irdischen Kreatur die Stätte, den Gegenstand und das Mittel, aber auch die Grenze seines Lebens und Wirkens hat. Menschliche Kreatur und also Welt ist auch die Gemeinde Jesu Christi selbst. So ist sie, indem sie für die Menschen, die Welt da ist, gewiß auch für sich selbst da. Sie ist aber die menschliche Kreatur, die in ihrem Wesen dazu bestimmt ist, für die übrige, von ihr verschiedene menschliche Kreatur zu sein. In Erfüllung dieser ihrer Bestimmung ist sie, was sie ist, ist sie auch für sich selbst da: so und nicht anders! Sie existiert ekstatisch, ekzentrisch: auch innerhalb der Welt, zu der sie gehört, nicht auf sich selbst, sondern ganz und gar auf sie, auf ihre Umgebung bezogen. Sie errettet und erhält ihr eigenes Leben, indem sie es für die übrige menschliche Kreatur einsetzt und hingibt.

Eben damit und so ist sie für Gott da: für den Schöpfer und Herrn der Welt, für die Vollstreckung seiner Absicht und seines Willens mit und an der ganzen menschlichen Kreatur. Zuerst und vor allem ist ja Er, Gott, für die Welt da. Und indem die Gemeinde Jesu Christi zuerst und vor allem für Gott da ist, bleibt ihr gar nichts Anderes übrig, als in ihrer Weise und an ihrem Ort ihrerseits für die Welt da zu sein. Wie könnte und würde sie sonst für Gott da sein?(KD IV,3 S. 872)

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Politisches Beten: In welchem Boot sitzen wir?

Nach einem Gespräch über Form und Gestaltung von Fürbittegebeten im Gottesdienst bin ich heute etwas ins Nachdenken gekommen. Der „locus classicus“ dafür steht in 1. Timotheus 2:

Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen, für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können. Das ist recht und gefällt Gott, unserem Retter;

Über weite Strecken der Kirchengeschichte, zumindest seit das Christentum staatstragend wurde, ist dieser Text eher unkritisch im Blick auf die „Obrigkeit“ gelesen worden. Und man kann ihn ja tatsächlich so quietistisch deuten: Aufgabe des Staates ist es, die gesellschaftliche Ordnung zu wahren, die den Frommen möglichst ungehinderte Mission erlaubt, durch die andere dann in den Himmel kommen. Dass die Ordnung im hier und jetzt gelegentliche Härten und Kollateralschäden verursacht, spielt im Vergleich zum ewigen Gewinn keine große Rolle, daher mischen sich die Christen auch nicht allzu sehr in die Politik ein.

In einer Feudalgesellschaft mag der Spielraum für Reform (geschweige denn Mitbestimmung in größerem Stil) ja recht gering gewesen sein und das Gebet die einzige Hoffnung auf Veränderung – in dem Sinne, dass ein ungerechter Monarch durch einen „rechtschaffenen“ ersetzt wird (was meistens durch das Ableben des ersteren erfolgte). Aber passt so etwas in eine demokratische Gesellschaft?

Freilich gibt es auch das andere Extrem, wo das politische Gebet so kritisch ausfällt, dass man den jeweils Regierenden immer das Schlimmste unterstellt und sie vor Gott eher denunziert als segnet. dann ist man ebenso undifferenziert dagegen wie man vorher dafür war. Nun kann es durchaus sein, dass man in einer konkreten Situation tatsächlich so beten muss. Damit es trotzdem nicht selbstgerecht wird, müsste man sich aber wohl immer vor Augen halten

  • „die da oben“ sind genau „wie wir hier unten“ Menschen mit Schwächen und Fehlern, immer von Korruption bedroht, aber eben oft genug auch ernsthaft um das Gute bemüht, so dass mal das eine, mal das andere die Oberhand behält.
  • Sie sind ”unsere“ Regierung, auch wenn wir nicht für sie gestimmt haben, weil sich die Mehrheit für sie ausgesprochen – hat und sie die Werte und Ziele dieser Mehrheit (oft genug auch unsere eigenen) repräsentieren (oder zum Zeitpunkt der Wahl wenigstens repräsentiert haben). Anders gesagt: Sie sind auch ein Spiegel, in dem wir uns selbst betrachten sollten.
  • So wie wir sind sie nicht außer Gottes Reichweite, wir müssen also die Hoffnung auf Umkehr und Besserung wach halten.
  • Sie sind in ihrer Funktion manchmal Kräften und Konflikten ausgesetzt, die wir so nicht erleben, wird dürfen sie daher zwar durchaus kritisieren, sollten dabei aber nicht unbarmherzig oder gehässig werden.
  • Wenn wir wollen, dass tatsächlich mehr „gute Leute“ als Wichtigtuer und Machtjunkies in die Politik gehen, dürfen wir Politiker nicht pauschal schlecht machen (daher erwähnt Paulus den Dank ganz zu Recht), sondern wir sollten uns auf eine durchaus spannungsreiche Beziehung zu ihnen und ihrer Arbeit einlassen und von uns aus nach geeigneten positiven Anknüpfungspunkten suchen.

Nehmen wir mal ein aktuelles Thema: Das beschämende Flüchtlingsdrama im Mittelmeer. Dass Menschen dort auf dem Meer verdursten und wie selbst die Überlebenden behandelt werden, ist ein riesiger Skandal. Dass die Bundesregierung Italien mit dem Problem weitgehend allein lässt (im vollen Bewusstsein, was der Kurs der Berlusconi-Regierung für die Betroffenen bedeutet), ist schäbig. Dass sich die Mehrheit der Leute in Europa weit mehr für den European Song Contest interessiert hat, auch. Die Versuchung, gleichgültig wegzusehen und das schmutzige Geschäft nützlichen Bösewichtern zu überlassen, die man bei Bedarf dann eines schönen Tages noch symbolisch bestrafen kann (und sei es mit der Moralkeule), kennen wir nämlich alle. Es geht nicht um eine Haltung der „Neutralität“, sondern darum, als schon in das Problem verwickelte Menschen sich Gott zuzuwenden und von da aus nach Lösungen zu suchen.

Hier könnte das Gebet also ansetzen: Dass uns allen das Flüchtlingsproblem, die Kriege und Armut Afrikas lästig sind und wir im tiefsten Herzensgrund wünschen, Gott oder wer auch immer würde das für uns in aller Stille erledigen, natürlich ohne unseren Wohlstand dabei zu schmälern. Wir könnten weiter beten für mutige Leute in der Politik, im öffentlichen Leben und bei den Grenzschützern vor Ort, dass sie nicht resignieren, sondern um der Menschlichkeit willen Vorschriften ignorieren, gegen sie mutig protestieren oder, wo immer möglich, sie ändern. Wir können für Frieden und gute Lebensbedingungen in den Heimatländern der Flüchtlinge beten und für energischere Anstrengungen europäischer Politiker, dazu beizutragen – etwa durch faire Handelsbedingungen, die uns freilich etwas kosten werden. Wir können für politische Aktivisten beten und dafür, dass sie Zulauf und Erfolg haben mit ihren Aktionen. Und am Ende könnten wir um Mut und Entschlossenheit für uns selber beten, damit wir dieses Thema nicht wieder vergessen und erst bei der nächsten Katastrophenmeldung wieder daran denken, sondern einen Beitrag dazu leisten, die öffentliche Meinung in dieser Frage nach Kräften zu beeinflussen. Deswegen nennt Paulus ja noch vor den Regierenden alle Menschen als die wichtigste Gruppe, der unser Gebet zu gelten hat.

Wir denken gern an die Geschichten von Jesus, der mit uns im Boot sitzt und den Sturm stillt, oder der uns übers Wasser entgegenkommt. Vielleicht sollten wir heute mehr über diese Frage nachdenken: Derselbe Jesus wird irgendwann vielleicht sagen: Ich saß in einem Flüchtlingsboot und war am Verdursten. Und Eure Leute haben uns in den Tod treiben lassen. Was werden wir dann – nein, nicht dann, sondern heute! – antworten? In Situationen, wo wir zwar nicht selbst auf See, aber in die Vorgänge durchaus verwickelt sind, kann das Gebet ein erster Schritt aus der Lähmung sein, die uns angesichts der komplexen Probleme unserer Welt so schnell befällt.

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Barth missional (10): Europa und das „Christentum“

Wertkonservative Politiker und der eine oder andere Kirchenvertreter weisen gern auf die Rolle des Christentums bei der Entstehung der europäischen Zivilisation hin. Karl Barth hält dagegen, weil er darin den höchst problematischen Versuch sieht, die Bedeutung von Kirche durch den Verweis auf ihren Erfolg zu begründen, und zwar in einer Zeit, wo ihre Relevanz innerhalb wie außerhalb offen in Frage gestellt wird, und schreibt (KD IV, 3 / S. 856):

Man kann weiter gewiß auch auf die Einwirkung ihres besonderen Tuns auf das, was in ihrer Umgebung sonst getan wird, hinweisen: nicht ohne Stolz etwa auf ihren oft gerühmten Einfluß auf die Entstehung und die Formung der sogenannten europäischen Zivilisation und Kultur. Aber wer hatte und hat bei deren Entstehung und Formung nun eigentlich die Führung und das entscheidende Wort: die griechisch-römische Antike?, der Geist und Ungeist des urtümlichen Europäertums?, der idealistische Realismus oder realistische Idealismus des im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert aufsteigenden sogenannten modernen Menschen? Auch das «Christentum»? Sicher hat da auch das «Christentum» ein Stück weit – kein großes Stück weit freilich! – mitgewirkt. Aber hörte es nicht in dem Maß auf, Christentum zu sein, als es sich neben und im Bunde mit jenen anderen Faktoren im Weltgeschehen «auswirkte»?

Und er schließt eine weitere Spitze gegen den Kulturprotestantismus an:

Die Sache der Gemeinde ist aber das ihr aufgetragene Zeugnis von dem in Jesus Christus nahe herbeigekommenen Reiche Gottes, und diese Sache besser zu machen, würde bedeuten: als ecclesia reformata semper reformanda dieses Zeugnis in immer treuerer Entsprechung zu seinem Ursprung, Gegenstand und Inhalt, in dessen immer tieferem und vielseitigerem Ausschöpfen und zugleich in immer klareren, schärferen und einfacheren Konturen, nicht zuletzt in Gestalt von eindeutigen und verbindlichen praktischen Entscheidungen zur Sprache zu bringen. (S. 857)

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Barth missional (9): Solidarität mit Kain & Co

Einer der für mich bisher erstaunlichsten Gedanken dieses Paragraphen findet sich auf Seite 853f. von KD IV,3. Barth geht der Randexistenz der Christenheit in der Welt nach, er spricht davon, dass sie in Zelten wohnt mitten unter den Steinhäusern der verschiedenen Völker und Kulturen, dass sie eine nomadische Existenz als Fremdlinge unter Seßhaften und Einheimischen führt und er sieht darin eine prophetische Dimension. Denn wahrhaft heimatlos sind ausgerechnet die Arrivierten und Etablierten (und man kann zu Barths Ausführungen hinzufügen: vielfach beruhen Wohlstand und Macht tatsächlich auf Brudermord):

Die in der Schwachheit, nämlich in der Fremdlingschaft der christlichen Gemeinde wirksame Kraft dürfte doch wohl zunächst auch schlicht die Kraft der Wahrheit der allgemeinen menschlichen Situation sein, die in ihr, während sie in den anderen Menschenvölkern, weil sie sie nicht sehen können oder wollen, verborgen bleibt, rücksichtslos ans Licht drängt.

An dem ist es ja nicht, daß die die Gemeinde umgebenden anderen Menschenvölker in ihren Steinhäusern, gestützt durch jene Konstanten des Weltgeschehens, im Unterschied zum Volke Gottes wirklich zuhause, gesichert, geborgen wären. Der mit Gott, seinem Nächsten und sich selbst nicht mehr im Frieden lebende, weil den auch ihm geschenkten Frieden noch nicht erkennende und ergreifende Mensch, lebt doch, fern von wirklicher Geborgenheit, fern davon eine bleibende Stätte zu haben, eine solche wohl suchend, aber durchaus nicht findend, seit den Tagen Kains (Gen 4,12) «unstet und flüchtig auf Erden».

Und nun ist es doch wohl so, daß in jener Randexistenz der christlichen Gemeinde auch das an den Tag kommt, in ihr gewissermaßen stellvertretend sichtbar gemacht wird: Heimatlosigkeit als wirkliche Situation der kainitischen Menschheit. In der Nachfolge Jesu Christi hat sich die Gemeinde in Solidarität eben zu dieser kainitischen, aber wie ihr Stammvater von Gott festgehaltenen, weil geliebten Menschheit zu bekennen.

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Barth missional (8): Die „richtige“ Gemeindeform

Über die ideale, richtige Form von Gemeinde wird ja immer wieder mal gestritten. Gegen jeglichen Strukturfundamentalismus („heilige Soziologie“) gibt Barth zu Bedenken, dass die Gemeinde frei ist, sich aus den denkbaren, sämtlich zeitgebundenen Formen eine konkrete auszuwählen, ohne diese damit gleich absolut zu setzen. Das einzige Kriterium für angemessene Formen und Strukturen ist der Auftrag der Kirche, wie der letzte Absatz zeigt:

Ihre Verfassung und Ordnung war und ist vielmehr bei allen Besonderheiten im Einzelnen in ihren großen Linien zu allen Zeiten und an allen Orten bestimmt und bedingt durch gewisse aus ihrerweltgeschichtlichen Situation mehr oder weniger imperativisch sich aufdrängende Vorbilder politischer, wirtschaftlicher, kultureller Natur. Sie hatte und hat sich ihnen, um sich zu behaupten, entweder (fast ganz oder doch teilweise) anzupassen, anzugleichen, oder sie hatte und hat sich ihnen – auch darin dem Gesetz ihrer Umgebung unterworfen – wieder um sich selbst zu behaupten, hinsichtlich der Form ihrer Existenz (wieder teilweise oder fast ganz) zu entziehen oder entgegenzusetzen.

Sie hat sich so oder so nie und nirgends schlechthin spontan und originell gerade so oder so gestaltet, vielmehr immer und überall in offener oder heimlicher, bewußter oder unbewußter, positiver, kritischer oder negativer Beziehung zu den Ereignissen, Veränderungen und Zuständen in ihrer jeweiligen Umwelt, zu deren besonderen Tendenzen und Verhältnissen. […]

Und daß sie auch nur ein Menschenvolk unter anderen war und ist, zeigte sich […] darin, daß die Möglichkeiten, für die sie sich jeweils entschied, durchgehend Entsprechungen derjenigen waren, die sich auch der übrigen Menschheit, wenn es um die gesellschaftliche Gestaltung ihres Lebens und ihrer Verhältnisse ging, unverkennbar ähnlich, ja gleich angeboten haben.

[…] Denn wo schimmert der unauslöschlich profane ursprüngliche Charakter aller soziologischen Gestalt – in jenen Fällen das römische Imperium und der byzantinische Hofstaat mit seinem Zeremoniell – deutlicher durch als gerade da, wo man eine solche Gestalt allen anderen schlechthin und konsequent meinte vorziehen zu sollen und als die heilige, die christliche kirchliche Gestalt par excellence meinte ausgeben zu können?

[…] Ihr Gottesdienst und in dessen Rahmen ihr Gebet und ihre Predigt, die Lebensgemeinschaft ihrer Glieder und ihr Wirken nach außen wird auf alle Fälle Ausführung ihres Auftrags und also Zeugnis der sie umgebenden Welt gegenüber sein müssen. Und so wird das Recht oder Unrecht ihrer so oder so gewählten Verfassungs- und Ordnungsform schlechterdings davon abhängen, ob das ihr anvertraute und sie regierende Wort Gottes in gegebener Zeit und Situation in der einen oder anderen zu Ehren oder nicht zu Ehren kommt. So wird sie, sei es als Volkskirche und vielleicht Staatskirche, sei es als Freikirche, ihr unsichtbares Wesen unter allen Umständen darin sichtbar machen müssen, daß sie bekennende, daß sie Missionskirche ist, ihrer Umgebung keinen Zweifel darüber läßt, für wen und für was sie in ihrer Mitte einzustehen hat. (KD IV,3, 846ff)

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