Beim oberflächlichen Hinsehen kann das Missverständnis entstehen, sagt Joseph Myers, man müsse einfach ein extrovertierter Mensch sein. Stille und Schüchterne dagegen finden nur schwer Anschluss. Also müssen sie lernen, mehr aus sich heraus zu gehen.
Aber der Schein trügt. Manch ein lebhafter, kontaktfreudiger Mitmensch fühlt sich einsam und hat das Gefühl, nur oberflächlich mit anderen verbunden zu sein. Und mancher Stille hat gute, tiefe Beziehungen – und nicht einmal wenige. Sie fallen nur in größeren Gruppen nicht so auf.
Vor einer Weile bin ich schon einmal auf Richard Sennett zu sprechen gekommen. Hier nochmal ein Zitat zum Dilemma des Gefühls in zwischenmenschlichen Beziehungen. Vielleicht steckt das auch in dem, was Myers hier mit Persönlichkeit beschreibt und dem Empfinden, irgendwie nicht zu passen:
Wenn ich bloß mehr empfinden könnte, oder wenn ich bloß wirklich empfinden könnte, dann könnte ich eine Beziehung zum anderen aufnehmen oder eine »wirkliche« Beziehung zu ihm unterhalten. Aber im Augenblick der Begegnung habe ich jedesmal das Gefühl, nicht genug zu empfinden. Der manifeste Gehalt dieser Verkehrung ist eine Selbstanschuldigung, aber dahinter verbirgt sich das Gefühl, von der Welt im Stich gelassen zu sein.
Sennett kritisiert, dass das Private und Intime das Öffentliche und Gesellschaftliche verdrängt und wir Ereignisse und Beziehungen nur dann als relevant empfinden, wenn sie in uns irgendeine emotionale Resonanz hervorrufen. Wo die ausbleibt, bleiben wir desinteressiert.
Der dritte Kurzschluss, dem wir im Hinblick auf Gemeinschaft erliegen können, ist nach Zeit und Verbindlichkeit für Joseph Myers in The Search to Belong mit dem Begriff „purpose“ überschrieben. Da klingt natürlich ein ganzer frommer Industriezweig durch.
Wenn seit den Management-Büchern von Tom Peters in den 80ern statt von Komitees von Visionen, Mission Statements, Aufträgen und Teams die Rede war, brachte das an vielen Stellen deutliche Verbesserungen. Aber selbst eine lohnende gemeinsame Aufgabe garantiert noch keine tiefere Verbindung zwischen Menschen und schafft nicht unbedingt erfüllende Gemeinschaft, manchmal entstehen eben auch nur Zweckbeziehungen.
Ein zweiter Mythos besteht nach Joseph Myers darin, zu meinen, tiefere Beziehungen seien allein die Folge höherer Verbindlichkeit. Er hält das für eine romantische Idee. Man kann selbst in einer Ehe (sicher das Maximum an Verbindlichkeit) das Gefühl haben, dass der andere meilenweit weg oder auf einmal ganz fremd zu sein scheint. Ganz zu schweigen von anderen Beziehungen, die viele Pflichten, aber wenig Nähe bedeuten.
Wir verwenden Begriffe wie „authentisch“, „tief“ oder „eng“ um zu beschreiben, dass eine Beziehung für uns große Bedeutung hat. Ein enges Verhältnis lässt sich aber vielfach nicht ohne größere Schwierigkeiten und Überforderungen erreichen. Vielleicht ist das auch nicht nötig: Myers beschreibt, wie sich seine Frau jedes Jahr mit anderen trifft, um sich über ihr Hobby, das Teppichknüpfen, auszutauschen. Es gibt keine Kontakte in der Zwischenzeit, sie entscheidet sich meist erst kurzfristig, zu den Treffen zu reisen. Und doch kommt sie erfüllt zurück.
Es stand lange auf meiner Wunschliste – seit ein paar Tagen lese ich nun Joseph Myers‘ kleines, aber feines Buch The Search to Belong. Rethinking Intimacy, Community and Small Groups. Myers beginnt mit einem herzhaften Abriss seiner gesammelten Kleingruppenerfahrungen und wendet sich dann erst einmal verschiedene Mythen zu, die rund um das Thema „Gemeinschaft“ und Zugehörigkeit existieren.
Gemeinschaft ist ein Dauerthema in den meisten Gemeinden. Die Bedürfnisse und Erwartungen sind je nach Persönlichkeit und Lebensabschnitt höchst unterschiedlich – was dazu führt, dass es keine Formel gibt, die alle zufrieden stellt, sondern nur eine ständige Suchbewegung, die nie ans Ende kommt.
Der erste Fehlschluss, sagt Myers, besteht in der Gleichsetzung der Qualität von Beziehungen mit der Dauer gemeinsam verbrachter Zeit. In Wirklichkeit können wir jeden Tag Stunden mit Menschen verbringen, ohne eine tiefere Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Umgekehrt können wir jemanden treffen und nach dem ersten Gespräch schon das Gefühl haben, sie oder ihn eine Ewigkeit zu kennen. Und wenn man sich dann nach Monaten oder Jahren wieder trifft, ist es genauso.
Solche Erlebnisse tiefer Verbundenheit wecken vielleicht den Wunsch, mehr Zeit mit einander zu haben. Aber umgekehrt greift die Logik eben nicht.
Der Sommer kam spät in unseren Breiten und der Winter war kalt, da hatten manche schlichten Gemüter den Klimawandel schon als Spuk verbucht oder sich den Parolen der ewig Skeptischen zugeneigt. Und ja, Al Gore und ein paar Klimaforscher waren zwischenzeitlich leider auch in die Schlagzeilen geraten.
Die gemessenen Tatsachen sprechen jedoch die ganze Zeit schon eine ganz andere Sprache, und nun, wo auch der letzte hier ins Schwitzen gekommen ist und wir nicht mehr täglich Fußball-Winterspiele auf der Südhalbkugel anschauen, nachdem die Bahn auch uns in Deutschland eine Klimakatastrophe bis zum Kollaps einzelner Reisender beschert hat, hört auch die Öffentlichkeit wieder hin:
Denn global gesehen war das erste Halbjahr erschreckend warm. Das Eis an den Polen schmilzt rasanter denn je. Der Juni war – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, auch wenn sie dabei sehr trocken wird – der 304. Monat in Folge, der über dem langjährigen Mittel des 20. Jahrhunderts liegt. Wer noch mehr Einzelheiten aus dem Bericht des US(!)-Wetterdienstes möchte, findet sie hier.
Statt über Klimaanlagen zu reden, die innen kühlen und draußen weiter heizen und Treibhausgase produzieren, sollten wir lieber drüber nachdenken, wie wir so konsequent wie möglich Emissionen senken und alternative Energien erschließen können. Statt in einigen Jahren Hilfseinsätze zu machen, um Orkan- und Flutopfer zu retten und Lebensmittel in verdorrte Regionen zu liefern, könnten wir alles dran setzen, zu verhindern, das das Leben vieler Millionen noch mehr zur Hölle wird als jetzt schon. Das wäre – mancher mag es nicht glauben oder erkennt den Zusammenhang nicht – genauso christliche Nächstenliebe.
Vielleicht die größte Anfechtung für Christen ist meiner Beobachtung nach der „Verrat“ – jemand, auf den ich zähle, lässt mich im Stich. Meiner Beobachtung nach sind die meisten Christen in der Lage, Schickalsschläge oder Gegenwind von außen wegzustecken. Doch wenn einem die eigenen Leute in den Rücken fallen, ist das viel schlimmer. Ob aus Feigheit, Opportunismus oder Größenwahn – es trifft uns völlig unvorbereitet.
Und dann ziehen viele sich aus allem zurück, was nach Kirche oder Gemeinde riecht. Mag sein, dass die Distanz ihnen anfangs gut tut. Aber oft bleibt ein großes Loch zurück. Und viele Gemeinschaften verfolgen umgekehrt Abtrünnige und Fahnenflüchtige erbitterter und unnachsichtiger als solche, die schon immer Feinde waren.
Paulus hat mehr als einmal solche bitteren Erfahrungen gemacht, resigniert und sich zurückgezogen hat er aber nicht. Er war aber auch niemand, der anderen prinzipiell misstraute. Wie man mit Verrat umgeht, hat er von Jesus gelernt. Ein paar Gedanken dazu, die mir hilfreich erscheinen, habe ich letzten Sonntag für alle, die es interessiert, hier zusammengetragen.
Neulich habe ich gelesen, dass man seine Steuererklärung ruhig auf einem harten Stuhl verfassen dürfe, aber bei kreativen Denkprozessen sei das nicht die erste Wahl. Etwas später hörte ich dann, dass Nietzsche gesagt hatte, man müsse jedem Gedanken misstrauen, der nicht an frischer Luft geboren sei.
Das trifft für mein Empfinden auch auf Predigten zu. Nun tausche ich nicht den harten Stuhl mit einem weichen Sessel, ich gehe bei aller Liebe zu Sofas und Cafés lieber ins Freie. In einer schönen Umgebung kommt man nicht nur auf schönere Gedanken. Vielleicht nämlich hilft etwas Bewegung auch dabei, auch bewegender zu sprechen, bringt ein Blick in die Weite noch mehr Weitblick ins Spiel.
David Fitch befasst sich respektvoll und kritisch mit Frost und Hirschs missionalem Ansatz (dass der zwischendurch auch als „emergent“ etikettiert wird, wird Alan vielleicht nicht so ganz schmecken). Bei allem Guten, das die beiden mit ihrer Kritik an institutionellen Komm-Strukturen und leidenschaftloser, subkultureller Kokon-Existenz in die Diskussion eingebracht haben, bleiben für ihn auch ein paar ernste Probleme. Sie betreffen den Kirchenbegriff.
Bei ihrer Kritik an verzerrten Jesusbildern und dem Versuch der Rückkehr zu einem (be)rein(igt)en Jesus, der nicht schon Produkt kirchlicher und kultureller Entstellungen ist, setzen sie – so Fitch – stillschweigend voraus, dass man Jesus ohne Kirche begegnen kann, die in der Regel eher als Hindernis erscheint. Problematisch ist das deshalb, weil ohne das – klar: unvollkommene – Christuszeugnis der Kirche und ihren (sicher ab und an diskussionswürdigen) Schriftgebrauch über die Jahrhunderte Jesus heute gar kein Thema mehr wäre.
Eine unmittelbare Beziehung des einzelnen Christen zu Christus, wie Frost und Hirsch das postulieren, hält Fitch zu Recht für eine Fiktion. Beim Lesen erinnerte mich das an Kant, der den Ausgang des Menschen nicht von falschen Jesusbildern, sondern aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit propagierte und – wie sein Zeitgenosse Johann Georg Hamann anmerkte – sich damit selbst zum Vormund aufschwang, der sagen konnte, was richtig ist. Derselbe Idealismus und derselbe hohe Anspruch des völligen Neubeginns spiegelt sich in der Formel wider, dass aus der Christologie die Missiologie und aus de Missiologie die Ekklesiologie hergeleitet werden müsse. Auch die geht in der Praxis nicht auf, weil die Christen, die sich wie Mike und Alan auf den missionalen Weg machen, ja keine unbeschriebenen Blätter sind, sondern alle möglichen kirchlichen Traditionen im Gepäck haben. Unbewusst, vielleicht, aber das Neue entsteht eben doch großteils in Anknüpfung an und Abgrenzung gegen das Vorhandene. Wie bei Hase und Igel: Die Kirche ist immer schon da. Oder wie Fitch sagt: Missiologie ist Ekklesiologie und umgekehrt.
Und das ist auch der zweite Kritikpunkt: Dass nämlich die Kirche als eine Größe von geschichtlicher Kontinuität in diesem Konzept verloren zu gehen droht. Bei allem Gestaltwechsel der Inkarnationen, Inkulturationen oder Kontextualisierungen ist es eben doch so, dass die ganz konkrete Praxis der Schriftauslegung, Gemeinschaft, der Taufe und Mahlfeier durch alle Zeiten erstreckt und alle Christen prägt und verbindet. Kirche entsteht nicht als creatio ex nihilo voraussetzungslos in jedem Augenblick der Geschichte neu auf der grünen Wiese, sondern sie entsteht aus dem Alten, das Gottes Geist immer wieder neu belebt wie die Totengebeine bei Ezechiel und das müde „Fleisch“ aus Joel 3. Wenn aber Kirche keine geschichtliche, konkrete Gemeinschaft von Menschen mehr ist, so Fitch, dann verblasst sie ganz schnell zum Konzept und zur Ideologie.
Fitch macht seine Kritik zwar an Frost und Hirsch fest, es gibt aber sicher noch mehr postmoderne Denker, denen sein Rat gut täte. Bei aller Bedeutung dieses Umbruchs ziehen sich eben auch viele Linien durch. Ich bin auch dafür, dass Kirche sich neu erfindet. Nur die Idee, geschichtslos auf den Nullpunkt zurückgehen zu können, ist gar nicht neu, sondern typisch modern. Und sie bringt die Beziehungen zu denen, die das „Alte“ schätzen, leider ziemlich oft auf Null.
Gestern schlich vor mir ein Opel über die Landstraße, deren Teer schon zäh an den Rändern zu kleben schien ob der Hitze. Auf dem Heck entdeckte ich einen Fisch in Schwarz-Rot-Gold – und fragte mich, welcher geschäftstüchtige Mensch sich das nun wieder ausgedacht hat.
Ich finde, diese Vermischung von nationalen und religiösen Symbolen überhaupt keine gute Idee. Früher oder später landen wir damit wieder beim Mythos der Erlösernation oder der Imperialismus des Heiligen Reiches. Also klebt meinetwegen den Fisch hinten drauf (und fahrt bitte zügig und fair!) und steckt das Fähnchen irgendwo anders hin. Bis zur nächsten EM oder zum Grand Prix gern auch in den Kofferraum.
Für Christen muss aber klar sein, dass die Loyalität gegenüber der Nation auch nicht annähernd an die Treue zu dem einen Gott heranreichen darf. Wer hier unscharf wird, spielt mit dem Feuer.
Vielleicht lag ja es daran, dass meine Frau neuerdings personalisierte Porsche-Werbung bekommt. Ich sah den schwarzen Premium-Schlitten in einer Einfahrt wenden und dachte, so ein schickes Auto, das wäre doch mal was: Ein Fünkchen Begehrlichkeit regte sich.
Auf der Fahrerseite fuhr das Fenster herunter und hinter einer Sonnenbrille erschien der kahlköpfige und übergewichtige Besitzer. Der hatte so ungefähr mein Alter. Ich beschloss trotzdem umgehend, wieder zufrieden zu sein und lieber Haare und das alte Auto zu behalten als noch eine Sekunde über einen Tausch nachzudenken.
Leonard John Matthews: The dove from Noah's ark (flick'r.com / creative commons 2.0)
Jemand fragte neulich, wie eine so schwierige Geschichte wie die Sintflut im Kindergottesdienst und Reliunterricht so eine Rolle spielen kann. Kaum ein Kindergottesdienstraum, in dem kein Regenbogen irgendwo hängt. Dabei wirft dieses Kapitel für den erwachsenen Leser ja bei Licht betrachtet schwerwiegende Fragen an Gottes Charakter und sein Handeln in der Welt auf: Waren die Menschen alle so schlecht? Gab es da keine Unterschiede? Ist gewaltsames Auslöschen eine Lösung? Wie kann es sein, dass Gott bereut, Menschen geschaffen zu haben? Ist es hinterher tatsächlich besser geworden oder war die drastische Aktion ungefähr so clever wie manche militärische Intervention der letzten Jahre, die nichts als die berüchtigten Kollateralschäden verursachte? Und mal ganz pragmatisch: Wo kam das Futter her für die monatelange Reise – und das Wasser? Wie passte das alles auf ein Schiff und wer hat die Kängurus in Australien ausgeladen?
Auf alle diese Fragen antwortet die Geschichte leider nicht. Vielleicht muss man das also genau umgekehrt sehen: Nur Kinder können die Geschichte verstehen. Sie gehen mit denselben Annahmen heran wie bei den geliebten Märchen:
Ihre Welt ist überschaubar
Ihre Moral ist schwarzweiß
Sie zweifeln nie daran, dass sie auf der richtigen Seite stehen
Ich vermute mal, dass die Leute, die diese Geschichten aufgeschrieben haben, auch nicht sehr viel anders tickten als unsere Kinder. Dass „wir“ zur Familie gehören und nichts zu befürchten haben, steht schon fest. Noah ist der Prototyp des Gerechten – vorher wenigstens. Von den anderen kennen wir keine Namen und Geschichten, sie haben keine Gesichter, sie haben so betrachtet nie richtig existiert. Wichtig ist allerdings, dass eine ganze Familie dabei ist: Eltern und Kinder. In einer Welt, wo es nur Gute und Böse gibt, zählen sich Kinder instinktiv zu den Guten. Naiv, aber in diesem Fall völlig richtig.
Dass immer nur ein Paar Tiere gerettet wird, ist kein Problem. Kinder kennen nur einen oder zwei Tiger, den aus dem Zoo in der Nähe oder aus ihrem Bilderbuch, und natürlich ist es der, der an Bord ist. Also stellt sich die Frage nach den vielen anderen Tieren gar nicht so. Kinder leben (normalerweise) in einer umsorgten Umgebung. Natürlich ist immer etwas zu Essen da – es schmeckt halt vielleicht nicht immer.
Wichtig ist auch, dass ein gerechter Gott hier energisch Ordnung schafft, weil er uns (das ist hier sehr eng definiert) liebt, und dass er sich am Ende auf diese geduldige Liebe festlegt. Die zahlenmäßige Relation zwischen Opfern der (verdienten) Katastrophe und Geretteten wird gar nicht reflektiert. Und ich denke, sie soll auch gar nicht reflektiert werden, denn die Botschaft ist, dass wir alle Nachkommen Noahs sind und alle dazugehören und dass das die entscheidende Sache ist.
Wir können solche Texte wieder kindlich lesen lernen, auch als verantwortliche Erwachsene. Wenn wir sie nur so lesen könnten, wäre das kindisch. Aber sich von der Perspektive der Kinder anregen und helfen zu lassen, heißt, ein Stück Lebensweisheit zu gewinnen.
Der Zusammenhang liegt auf der Hand – nun sollten wir das energisch anpacken mit dem Wandel. Der neue Trend in Sachen urbaner Mobilität sind übrigens e-Roller. Letztes Jahr habe ich ein Modell von Peugeot auf der IAA gesehen. Jetzt ziehen BMW und Mercedes nach. Wer hätte das gedacht!
Durban und Madrid – wie die Dinge sich wiederholen: Da spielen sich ehemalige Duselbayern und frühere Rumpelfußballer mit jugendlicher Leichtigkeit, Eleganz und mitreißendem Offensivspiel ins Rampenlicht, um schließlich an abgezockten Milanesen unter Mourinho oder Spaniern unter del Bosque zu scheitern. Aber mit so viel Stil, dass selbst frühere Feinde Respekt und (heimlich wenigstens) Sympathie empfinden. Zum Teil waren es dieselben Spieler, in beiden Fällen hieß der Vorgänger des jetzigen Trainers Jürgen Klinsmann. Dem war zwar jeweils der Aufbau nicht so richtig gelungen, dafür aber wohl der Abbruch des Alten.
Der Fan sitzt wie die Mannschaft traurig da und muss die Hoffnung zu Grabe tragen. Das Double, das Halbfinale, beides großartige und anfangs unerwartete Erfolge, sie zählen kaum angesichts der Niederlage. Jetzt hoffen viele, dass die „anderen Bayern“ in Orange nun die schön und effizient, aber in ihrer nicht mehr so spritzigen Dominanz eher einschläfernd kickenden Spanier noch irgendwie überwinden. Wie sagte Mark van Bommel jüngst: „Wir Holländer konnten immer schön spielen und gewinnen. Aber nun haben wir gelernt, auch zu gewinnen, wenn wir mal einen schlechten Tag haben. Das haben uns die Deutschen beigebracht.“
Warum erzähle ich das Offensichtliche? Um den Kummer zu verarbeiten und weil Louis van Gaal schon alles Wichtige gesagt hat: Am Ende der Saison gab er sich überzeugt, dass seine Mannschaft noch besser wird. Weil die Spieler das entsprechende Potenzial haben und weil er weiß, wie er es weiter entfalten kann. Müller und Schweinsteiger sind der lebende Beweis, und ohne sie wären auch die glanzvollen Siege gegen England und Argentinien undenkbar gewesen. Löw hat dasselbe mit Podolski und Klose geschafft. Und nun sollte auch er wie van Gaal nach weiter anpacken und das Unvollendete der verdienten Erfüllung entgegen führen – statt den inflationären Rücktritten dieses Krisenjahres noch einen weiteren hinzuzufügen und irgendwo einen lukrativen (und gewiss auch irgendwie reizvollen) Posten anzunehmen.
Er muss dran bleiben, damit die Jungs von La Mannschaft auch dran bleiben. Dann gibt er dieser Niederlage vielleicht einen echten Sinn.
Jüngst habe ich spontan einen – wie ich fand: hilfreichen – Gedanken von Martin Seligman getwittert, dass Vergebung nicht das Auslöschen schmerzhafter Erinnerungen ist, sondern deren Umetikettierung. Ich kann nicht ändern, was geschehen ist, ich kann es auch nicht auf Kommando vergessen, aber ich kann es anders bewerten. Wie neulich ein Freund zu mir sagte: „Wer mich beleidigt, das bestimme immer noch ich.“
bild: photocase
Ich wurde jedoch umgehend von bibelfesten Facebook-Freunden aufgeklärt, dass das unzureichend sei. Schließlich sage Jesaja, Gott werfe unsere Sünden ins äußerste Meer – er vergesse sie also tatsächlich.
Also bin ich der Frage noch etwas nachgegangen, da tut sich nämlich ein beachtliches Spannungsfeld auf. Zum einen ist die Metapher bei Jesaja auf judäische Landratten zugeschnitten. Wir wissen heute, dass „äußerstes Meer“ geographisch ein sehr relativer Begriff ist und dass zweitens tödlicher Dreck selbst aus der Tiefsee wieder zurückkommt oder langfristig sehr unerwünschte Wirkungen entfaltet. Dass Gott Sünden ins äußerste Meer wirft, bedeutet meines Erachtens erst einmal nur, dass er sie unserem Zugriff entzieht. Für ihn selbst sind sie damit nicht zwingend außer Reichweite. Freilich, ob eigene oder fremde Schuld, er erinnert uns nicht mehr ständig daran.
Paulus erinnert in einigen Passagen aber sehr wohl an seine Vergangenheit als Christenverfolger, obwohl (oder vielleicht ja auch gerade weil) er weiß, dass ihm vergeben wurde. Vergessen ist also bestenfalls eine Spätfolge von Vergebung. Wer vergibt, verzichtet darauf, das Fehlverhalten des anderen als Trennungsgrund anzusehen. Das ist – um die Metapher wieder zu wechseln – eben die Umetikettierung. In manchen Registraturen reicht es ja, etwas falsch abzulegen, und es verschwindet tatsächlich auf Nimmerwiedersehen.
Wer aber vergibt, muss wenigstens bereit sein, sagt Miroslav Volf, irgendwann auch zu vergessen. Er sagt dies im Blick auf die Opfer von Folter, Missbrauch, Krieg und Hass. Zugleich ist es nötig, lange genug an diese Gräuel zu erinnern, damit sie sich nicht wiederholen und um den Opfern gerecht zu werden, deren Qualen nur verdoppelt würden, wenn vorschnell der Mantel des Schweigens und Vergessens über die erlittenen Verbrechen gebreitet würde. Erinnerung – wer wüsste das besser als wir Deutschen? – hat auch einen notwendigen präventiven Charakter: Sie verhindert eine falsche Umetikettierung, die aus Verbrechern Helden machen will, ob die nun Hitler, Mugabe oder Karadzic heißen. Die aber haben ihre brutalen Maßnahmen mit der Erinnerung an Untaten ihrer Gegner und dem Herumstochern in alten Wunden gerechtfertigt und damit immer neuen Hass geschürt.
So lange ein Rückfall droht und so lange die Wunden der Opfer noch nicht geheilt sind, vergisst Gott auch nicht. Selbst da, wo er vergeben hat. Das vollkommene Vergessen kommt erst ganz am Ende der Geschichte. Dann aber muss es kommen. Volf schreibt:
Wo es keine Schwerter mehr gibt, wird auch kein Schild mehr nötig sein … (aber) so lange der Messias noch nicht in Herrlichkeit gekommen ist, müssen wir um der Opfer willen das Gedenken an ihr Leiden am Leben halten.
Gelungene Versöhnung beginnt mit Vergebung. Und sie führt dazu, dass die traumatische Vergangenheit irgendwann, hoffentlich bald einmal kein Thema mehr ist. Die Erwartung, dass etwas nicht mehr weh tun dürfe oder die Erinnerung verklärt oder getilgt sein müsse, wenn ich dem anderen vergebe, ist jedoch problematisch und stürzt viele in unnötige Grübeleien. Vergebung bedeutet erst einmal nur, dass trotz allem darauf verzichte, dem anderen Schmerz zuzufügen oder ihn zu verurteilen.
Der Gewinner bin ich selbst: Rachegefühle und Lebenszufriedenheit, schreibt Seligman, verhalten sich umgekehrt proportional. Eine praktische Hilfe ist dabei das REACH Modell von Everett Worthington. Oder, um es theologisch zu beschließen, noch einmal Miroslav Volf, der redet von Sphären statt Etiketten:
Vergebung kommt ins Straucheln, weil ich den Feind aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließe, während ich mich aus der Gemeinschaft der Sünder herausnehme. Aber niemand kann lange in der Gegenwart des Gottes des gekreuzigten Messias sein, ohne diese doppelten Ausschluss zu überwinden – ohne den Feind von der Sphäre monströser Unmenschlichkeit in die Sphäre gemeinsame Menschseins und sich selbst von der Sphäre stolzer Unschuld in die Sphäre gemeinsamer Sündhaftigkeit zu versetzen.
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