Vergeben und vergessen – oder doch nicht?

Jüngst habe ich spontan einen – wie ich fand: hilfreichen – Gedanken von Martin Seligman getwittert, dass Vergebung nicht das Auslöschen schmerzhafter Erinnerungen ist, sondern deren Umetikettierung. Ich kann nicht ändern, was geschehen ist, ich kann es auch nicht auf Kommando vergessen, aber ich kann es anders bewerten. Wie neulich ein Freund zu mir sagte: „Wer mich beleidigt, das bestimme immer noch ich.“

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bild: photocase

Ich wurde jedoch umgehend von bibelfesten Facebook-Freunden aufgeklärt, dass das unzureichend sei. Schließlich sage Jesaja, Gott werfe unsere Sünden ins äußerste Meer – er vergesse sie also tatsächlich.

Also bin ich der Frage noch etwas nachgegangen, da tut sich nämlich ein beachtliches Spannungsfeld auf. Zum einen ist die Metapher bei Jesaja auf judäische Landratten zugeschnitten. Wir wissen heute, dass „äußerstes Meer“ geographisch ein sehr relativer Begriff ist und dass zweitens tödlicher Dreck selbst aus der Tiefsee wieder zurückkommt oder langfristig sehr unerwünschte Wirkungen entfaltet. Dass Gott Sünden ins äußerste Meer wirft, bedeutet meines Erachtens erst einmal nur, dass er sie unserem Zugriff entzieht. Für ihn selbst sind sie damit nicht zwingend außer Reichweite. Freilich, ob eigene oder fremde Schuld, er erinnert uns nicht mehr ständig daran.

Paulus erinnert in einigen Passagen aber sehr wohl an seine Vergangenheit als Christenverfolger, obwohl (oder vielleicht ja auch gerade weil) er weiß, dass ihm vergeben wurde. Vergessen ist also bestenfalls eine Spätfolge von Vergebung. Wer vergibt, verzichtet darauf, das Fehlverhalten des anderen als Trennungsgrund anzusehen. Das ist – um die Metapher wieder zu wechseln – eben die Umetikettierung. In manchen Registraturen reicht es ja, etwas falsch abzulegen, und es verschwindet tatsächlich auf Nimmerwiedersehen.

Wer aber vergibt, muss wenigstens bereit sein, sagt Miroslav Volf, irgendwann auch zu vergessen. Er sagt dies im Blick auf die Opfer von Folter, Missbrauch, Krieg und Hass. Zugleich ist es nötig, lange genug an diese Gräuel zu erinnern, damit sie sich nicht wiederholen und um den Opfern gerecht zu werden, deren Qualen nur verdoppelt würden, wenn vorschnell der Mantel des Schweigens und Vergessens über die erlittenen Verbrechen gebreitet würde. Erinnerung – wer wüsste das besser als wir Deutschen? – hat auch einen notwendigen präventiven Charakter: Sie verhindert eine falsche Umetikettierung, die aus Verbrechern Helden machen will, ob die nun Hitler, Mugabe oder Karadzic heißen. Die aber haben ihre brutalen Maßnahmen mit der Erinnerung an Untaten ihrer Gegner und dem Herumstochern in alten Wunden gerechtfertigt und damit immer neuen Hass geschürt.

So lange ein Rückfall droht und so lange die Wunden der Opfer noch nicht geheilt sind, vergisst Gott auch nicht. Selbst da, wo er vergeben hat. Das vollkommene Vergessen kommt erst ganz am Ende der Geschichte. Dann aber muss es kommen. Volf schreibt:

Wo es keine Schwerter mehr gibt, wird auch kein Schild mehr nötig sein … (aber) so lange der Messias noch nicht in Herrlichkeit gekommen ist, müssen wir um der Opfer willen das Gedenken an ihr Leiden am Leben halten.

Gelungene Versöhnung beginnt mit Vergebung. Und sie führt dazu, dass die traumatische Vergangenheit irgendwann, hoffentlich bald einmal kein Thema mehr ist. Die Erwartung, dass etwas nicht mehr weh tun dürfe oder die Erinnerung verklärt oder getilgt sein müsse, wenn ich dem anderen vergebe, ist jedoch problematisch und stürzt viele in unnötige Grübeleien. Vergebung bedeutet erst einmal nur, dass trotz allem darauf verzichte, dem anderen Schmerz zuzufügen oder ihn zu verurteilen.

Der Gewinner bin ich selbst: Rachegefühle und Lebenszufriedenheit, schreibt Seligman, verhalten sich umgekehrt proportional. Eine praktische Hilfe ist dabei das REACH Modell von Everett Worthington. Oder, um es theologisch zu beschließen, noch einmal Miroslav Volf, der redet von Sphären statt Etiketten:

Vergebung kommt ins Straucheln, weil ich den Feind aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließe, während ich mich aus der Gemeinschaft der Sünder herausnehme. Aber niemand kann lange in der Gegenwart des Gottes des gekreuzigten Messias sein, ohne diese doppelten Ausschluss zu überwinden – ohne den Feind von der Sphäre monströser Unmenschlichkeit in die Sphäre gemeinsame Menschseins und sich selbst von der Sphäre stolzer Unschuld in die Sphäre gemeinsamer Sündhaftigkeit zu versetzen.

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4 Antworten auf „Vergeben und vergessen – oder doch nicht?“

  1. Bitte mehr davon! Eine gute Ergänzung Deiner Predigt über die Feindesliebe, die Du vor einiger Zeit gehalten hast. Viele Gegenstände theologischen Nachdenkens scheinen mir manchmal doch recht weit weg vom Alltag zu sein.
    Aber diese Themen: Vergebung, Liebe zu dem, der mir offenbar nicht gut gesonnen ist, Überwindung von Feindbildern – all das hat eine hohe Relevanz im kleinen privaten Maßstab, aber auch in den großen Zusammenhängen. Und mir geht es jedenfalls so: Beim Nachbuchstabieren des „Kleingedruckten“ , Nach-Leben dieses anderen Umgangs mit Verletzungen und Anfeindungen kommt „das-mit-Jesus“ plötzlich greifbar nahe, auch wenn`s weh tun kann. Danke!

  2. „Wer vergibt, verzichtet darauf, das Fehlverhalten des anderen als Trennungsgrund anzusehen.“

    Ich denke das is der Punkt! Super Artikel!

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