Unverdient, aber nicht bedingungslos?

Daniel Rushing hat auf academia.edu ein interessantes Paper über die neue Paulusperspektive (Stendahl, Sanders, Dunn, Wright etc.) veröffentlicht. Darin greift er unter anderem auch ein paar Auszüge aus dem mehr als tausendseitigen Wälzer The Deliverance of God: An Apocalyptic Rereading of Justification in Paul von Douglas Campbell auf.

Demnach verfährt die klassische Paulusauslegung (liberal wie konservativ, sagt Rushing) nach folgendem Muster:

  • Sie geht von einem Gegensatz gerettet (bzw. gerechtfertigt) und unerlöst bzw. nicht gerechtfertigt aus, wobei für den Übergang von letzterem zu ersterem der Blick ins eigene Innere entscheidend ist
  • Sie setzt ein rationales Individuum mit Eigeninteresse voraus, das von Gottes Existenz durch die Stimme des Gewissens und den Anblick der Schöpfung überzeugt ist
  • Gott erscheint als kosmischer Gesetzgeber und moralischer Richter, der die Schuldigen bestraft und die Gerechten belohnt.
  • Das Ziel des Individuums muss als also sein, gerecht zu werden, um der Strafe und entgehen und den Lohn zu empfangen
  • Hier (mit der Introspektive) beginnt der „Zyklus der Verzweiflung“ – Luthers bohrende Frage nach dem gnädigen Gott: Jeder Versuch, gerecht zu werden, ist zum Scheitern verurteilt
  • Alternativ gibt es den Narrenzyklus: Menschen ignorieren das Urteil ihres Gewissens und machen sich selbst etwas vor, statt den wahren Ernst ihrer Lage anzuerkennen
  • Neben diesen beiden Zyklen gibt es zwei „Kontrakte“: Der eine verfügt, dass Gott Sünde unbedingt strafen muss, der andere legt fest, dass durch Christus Menschen aus dem Zyklus der Verzweiflung entkommen können.
  • Indem Gott Jesus straft, erfüllt er den ersten „Kontrakt“ und ermöglicht den zweiten: An Jesus erfüllt sich Gottes Zorn gegen Sünde und Sünder, zugleich verleiht er denen seine vollkommene Gerechtigkeit, die glauben.

Campbell formuliert abschließend:

Gnade bezeichnet in dieser Lesart der Rechtfertigung: Gottes unverdiente Großzügigkeit, die sich in der Rettung allein durch Glauben erweist; sie ist nicht mehr als das und auch nicht weniger. Sie ist eher „unverdient“ als „bedingungslos“ (an dieser Stelle fragt man sich freilich, ob es sich wirklich in dem Sinne um „Gnade“ handelt, wie die Bezeichnung normalerweise theologisch verwendet wird). Allerdings werden erlöste Individuen darauf dennoch mit einer gewissen Freude, Frieden und Dankbarkeit reagieren. Schließlich ist ihnen die tödliche Last der Sorge abgenommen. So können die Themen der fröhlichen oder umkämpften Empfänglichkeit, des Friedens und der Dankbarkeit, die in den Texten des Paulus anklingen, mit dem Modell an passender Stelle verknüpft werden.

Der ganze Gedankengang ist jetzt leider doppelt verkürzt, weil ich Rushings Zusammenfassung hier nochmal knapp wiedergebe. Es mag also sein, dass sich das im Original noch viel differenzierter anhört. Trotzdem würde ich sagen, so oder doch ganz ähnlich habe ich das auch viele Male präsentiert bekommen.

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Der Jona-Komplex (2)

DSC01087.jpgAn Bord des in Seenot geratenen Schiffes überschlagen sich bald die Ereignisse. Der Kapitän rüffelt Jona, weil der nicht wie alle anderen seinen Gott um Rettung anfleht: praktischer Atheismus beim verstockten Propheten, bei den Seeleuten dagegen lebendige Religiosität, die sich sogar dem Urteil Gottes zu stellen bereit ist. Und Jahwe redet zu den Heiden auf ihre (!) Weise, indem er das Los auf Jona fallen lässt, und damit „seinen“ Mann verpetzt. Selbst jetzt müssen die Einzelheiten Jona noch zeitraubend aus der Nase gezogen werden – wer gibt schon freiwillig zu, dass er die ganze Mannschaft ins Unglück gestürzt hat. Immerhin räumt er bei der Gelegenheit ein, dass sein Gott nicht nur Himmel und Erde, sondern auch das Meer gemacht hat – wieder ein Beispiel dafür, dass theoretisches Wissen bei Jona ohne jeden Bezug zu seinen existenziellen Entscheidungen bleibt.

Alle Insassen dieses Schiffs treffen sich in der Logik von Schuld und Strafe: Der Sturm muss mit dem Fehlverhalten eines der Anwesenden zu tun haben. Diese Logik existiert nicht nur in den heidnischen Kulten (die vorchristlichen Wikinger opferten vor tausend Jahren neben Tieren auch noch Sklaven), sondern auch im Judentum, auch da nimmt Gott Israel in „Sippenhaft“ für Vergehen einzelner. Allerdings wird dieses Denken in der Bibel auch deutlich kritisiert, und das Buch Jona scheint mir Teil dieser Selbstkritik zu sein. Und so muss Gott gar nicht explizit fordern, dass man ihm Jona ausliefert – niemand hier kann sich etwas anderes vorstellen, und Jona spricht es aus. Ist das nun prophetische Inspiration oder allzu menschliche Resignation?

Die Idee, dass Gott Gruppen und ganze Gesellschaften in „Sippenhaft“ nehmen und pauschal strafen könnte, für Dinge, die ihn stören, hält sich auch heute leider noch in manchen christlichen Milieus. Da wird dann auch mal schnell die nächstbeste Katastrophe als Gottes Strafgericht ausgegeben oder eine Minderheit zum Sündenbock gemacht.

Doch ungeachtet der Tatsache, dass Jona gerade dabei ist, sie mutwillig um ihren Besitz und vielleicht auch ihr Leben zu bringen, versuchen die Seeleute erneut, mit letzter Kraft das rettende Ufer zu erreichen. Erst als das selbstlose Unterfangen scheitert, wird Jona aufgegeben – jedoch nicht ohne die Bitte an Gott, ihnen dieses zwiespältige „Opfer“ nicht nachzutragen. Am Ende dieses ersten Kapitels haben wir einen Gottesmann, der total versagt und nur um Haaresbreite dem Untergang entgeht, und eine durch und durch gottesfürchtige Schiffsbesatzung, die Gott für fairer und barmherziger hält als Jona, der es wissen müsste. Immerhin: Auch so kann „Mission“ gelingen…

Die Ironie des Ganzen lautet: Jonas Präferenz für einen unbarmherzigen Gott befördert ihn ins Wasser, wo er der Barmherzigkeit Gottes in Gestalt eines mächtigen Fischs begegnet. Wird ihn das verändern? Wenigstens zeitweise sieht es danach aus…

Dennoch schimmert schon hier in diesem plakativen Kontrast eine andere Hoffnung durch, die Hoffnung auf Gottes Reich. Ich habe neulich schon den Beitrag von Klaus Mertes auf Zeit Online zitiert. Er schreibt dort gegen Ende, wie gerade der Tod Jesu die Logik von Leistung, Rache, unentrinnbar bösen Tatfolgen und strafender Gewalt außer Kraft setzt:

Die Praxis Jesu weist einen Weg, wie die durch Gewalt beschädigten Vertrauensressourcen unter Menschen und Völkern wieder neu zum Sprudeln gebracht werden können. Dabei bedeutet „Reich Gottes“ nicht einfach die Wiederherstellung eines ursprünglich heilen, paradiesischen Zustandes der Gewaltlosigkeit. Vielmehr geht die Perspektive nach vorn: Im Reich Gottes werden Menschen und Völker, die zueinander kein Vertrauen mehr aufbringen können und sich deswegen in der Spirale gegenseitiger Gewalt verstrickt haben, versöhnt

… Das Evangelium schlägt als Alternative zur Gewalt den Weg der Gewaltlosigkeit vor: Sie meint aber gerade nicht Resignation gegenüber der Gewalt, sondern Widerstand gegen sie. Man kann die „Leistung“ Jesu am Kreuz so beschreiben: Dem Misstrauen und der Gewalt, die auf ihn prallen, gelingt es nicht, sein Vertrauen zu besiegen. Sein Tod ist kein äußerliches Opfer, sondern versöhnende Hingabe des Lebens, weil er bis zum Schluss aus Vertrauen lebt. Gott ist vertrauend.

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Sola Gratia. Echt jetzt?

IMG_0674.JPGHeute las ich bei einem Autor, der sich selbst als evangelikal einstuft, etwas über die katholische Kirche. Nichts unfreundliches, aber pro-forma-Kritik musste anscheinend doch sein, um dem Leser ausreichende Distanz zu beweisen. Also stand da unter anderem, Katholiken neigten zur „Werkgerechtigkeit“ – seit 500 Jahren der Standardvorwurf. Wie oft er inzwischen überprüft wurde oder ob sich hier ein identitätsstiftendes Sprachritual verselbständigt hat, ließ sich schwer beurteilen. Aus eigener Erfahrung könnte ich das so nicht verifizieren.

Merkwürdig ist es allemal. Denn Leistungsfrömmigkeit (und nichts anderes wäre die beklagte „Werkgerechtigkeit“ ja) ist im evangelikalen Bereich mindestens so lebendig wie unter den römischen Geschwistern. Ein typischer Fall von Splitter/Balken? Testen lässt sich das ganz leicht, wenn man (wie hier verschiedentlich geschehen) über das Thema Himmel und Hölle spricht. Gegen als zu inklusiv und universal empfundene Vorstellungen von Gottes Gnade erscheint dann reflexartig (und das kann ich nun durchaus aus eigener Erfahrung verifizieren…) der Einwand, dass man sich ja dann vielleicht ganz umsonst Mühe gebe und auf manches verzichte, wenn da am Ende (fast) alle „rein dürfen“, und überhaupt gehe so aller moralischer und geistlicher Ernst verloren. Man meint dann fast schon die FDP mit ihrem „Leistung muss sich wieder lohnen“ zu hören. Vielleicht ist die katholische Neigung eher die, für gutes Verhalten einen Lohn zu bekommen, während die protestantische Variante oder Versuchung die ist, auf einer knackigen Strafe für uneinsichtiges Fehlverhalten zu bestehen – die deutlich unsympathischere Form eines analogen Fehlers.

Vielleicht ist das ja ein großer Nutzen dieser Debatte: Nimm die Hölle weg – und das sonst so gut getarnte fromme Leistungsdenken geht auf die Barrikaden. Letzten Endes klagt es, so scheint mir, Gott selbst so an wie der ältere Bruder des verlorenen Sohns. Als geistliche Übung wäre diese Umkehrung von John Lennons „Imagine there’s no heaven“ auf jeden Fall ein Volltreffer – so wie Ignatius von Loyola das Gegenteil, nämlich die imaginäre Höllenfahrt, wegen des therapeutischen Effekts in seine Übungen aufnahm.

Also: Ich stelle mir mal rein hypothetisch vor, Gott schafft am Ende doch das Kunststück, keine einzige Menschenseele zu verlieren. Was freut mich daran, was stört mich? Wen möchte ich auf keinen Fall dort haben? Was regt mich an diesen Menschen so auf? Und was sagt das wiederum über meinen Schatten aus, den Teil meiner Persönlichkeit, den ich nur unter allergrößten Schmerzen anerkennen will? Wenn Gott mich liebt, obwohl er das sieht und weiß, kann ich dann auch aufhören, diese Seiten an mir selbst und anderen zu verdammen? Und wäre es dann noch eine Katastrophe, wenn die Hölle am Ende leer wäre?

PS: Der Katholik (!) Hans Urs von Balthasar hat übrigens ganz passend zu diesen Diskussionen geschrieben: „Das Ernsteste, was es gibt, ist nicht die Strafgerechtigkeit Gottes, sondern seine Liebe.“

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Der Jona-Komplex (1)

DSC05053Mit dem Buch Jona hat sich eine phantasievolle und freche Erzählung zwischen all die ernsten Prophetentexte der Bibel gemogelt. Historische Details sind Mangelware, stattdessen stehen eher schablonenhafte Kontraste und Klischees im Zentrum der Geschichte, wie sie für Satire und Karikaturen typisch sind. Die Frage, ob das also alles genau so war oder nicht, können wir getrost zurückstellen hinter die Frage, ob und inwiefern es heute so ist. Jona steht hier als Spiegel, als Platzhalter, als Symbolfigur für das Volk Gottes: Nicht die Adressaten von Gottes Botschaft lassen hier Gottes Ruf an sich abprallen, sondern der Bote selber ist verstockt.

Gottes Auftrag scheint Jona aus heiterem Himmel zu treffen, aber Trägheit kann man ihm kaum vorwerfen: Seine plötzliche Panik hat aber nichts mit Angst zu tun – das wäre eine durchaus verständliche Regung gewesen, angesichts der Tatsache, dass er sich allein in die Metropole einer brutalen Großmacht wagen soll. Er bucht eine Schiffspassage in den äußersten Westen der damals bekannten Welt. Sein Motto erscheint zweimal im Text: „Weit weg vom Herrn“. Äußerlich wird damit das nachvollzogen, was innerlich schon der Fall ist: Gott ist Jona lästig geworden, weil der Glaube an ihn irritierende innere Grenzüberschreitungen mit sich bringen würde. Um die Konfrontation mit sich selbst zu vermeiden, ist ihm kein äußerer Weg zu weit, sogar die Angst der palästinischen Landratten vor dem Meer überwindet er.

Jona behandelt „seinen“ Gott, als wäre der eine territoriale Größe – wie die Götter des antiken Pantheons auf bestimmte Bereiche des Lebens begrenzt oder als Stammesgottheit nur ein Garant für das Überleben und die Macht eines bestimmten Volkes. Jeder außer Jona weiß sofort, dass die Rechnung nicht aufgehen kann. Seine Flucht war ungefähr ebenso schlau wie der Versuch des (eigentlich so cleveren) Odysseus, dem Meeresgott Poseidon ausgerechnet auf dem Seeweg zu entwischen. Nur dass Jonas Irrfahrt deutlich kürzer ausfällt und so gar nichts Heldenhaftes an sich hat.

Die weitere Geschichte zeigt: Gott lässt nicht locker. Während sich Ninive im dritten Kapitel scheinbar en passant bekehrt, dreht sich alles um die bis zuletzt offene Frage, ob sich auch der bockige Bote noch ändert. Gott hat hier keinen Plan B, keinen Ersatzmann, den er ins Rennen schickt. Wenn Jona der „Platzhalter“ für das gesamte Gottesvolk ist, dann ist das auch ganz logisch. Jonas Reaktion liest sich wie ein Gleichnis zur Klage Gottes in Jeremia 7,24: „Aber sie wollten nicht hören noch ihre Ohren mir zukehren, sondern wandelten nach ihrem eignen Rat und nach ihrem verstockten und bösen Herzen und kehrten mir den Rücken zu und nicht das Angesicht.“

Also stellt sich gleich zu Beginn der Geschichte die Frage,

  • ob manchmal erst ein „nach außen“ gerichteter Auftrag Gottes Menschen und ganze Glaubensgemeinschaften dazu zwingt, sich mit ihren inneren Widerständen und Vorbehalten ihm gegenüber auseinanderzusetzen
  • welche Funktion wir Gott denn insgeheim zugewiesen haben: Soll er vor allem dafür sorgen, dass die Dinge bleiben, wie sie sind (und wir mit ihnen)?
  • und ob diese Funktionalisierungen aus Gott praktisch einen Götzen machen
  • wie notwendig bestimmte Feindbilder und Klischees über andere sind, um der eigenen Verstocktheit nicht ansichtig zu werden

Erst einmal bricht der Sturm los. In Todesangst werfen die Seeleute ihre Ladung – den Grund der riskanten Reise und jede Aussicht auf Lohn und Gewinn – über Bord. Nur einer auf dem Schiff nimmt keine Notiz von der Gefahr, der Angst und dem Verlust aller anderen. Wenn man das nicht individualpsychologisch deutet, sondern auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft hin – und so dürfte es auch gemeint gewesen sein – dann stellt sich die Frage, wie Kirche innerhalb einer stürmischen See, in der sich unsere Gesellschaft befindet, noch meinen kann, dass sich alle anderen zu ändern hätten, nur nicht sie selbst. Dann wäre das Buch Jona eine Mahnung gegen jede Form des Klerikalismus, ähnlich wie es der Jesuit Klaus Mertes jüngst in Zeit Online formulierte.

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Kompromisslos hoffen

dsc02096.jpgAm Ende seines kleinen Diskurses über die Hölle schreibt Hans Urs von Balthasar, man müsse die biblischen Gerichts- und Unheilsworte insofern ernst nehmen, als man darin die große Verantwortung erkennt, die menschliche Freiheit mit sich bringt – die Möglichkeit, sich dauerhaft gegen Gott und das Gute zu immunisieren. Schwierig wird es immer dann, wenn man dem Erschrecken über sich selbst ausweicht und über das Schicksal anderer theoretisiert und spekuliert – für die anderen müssen wir kompromisslos hoffen:

Wer mit der Möglichkeit auch nur eines ewig Verlorenen außer seines selbst rechnet, der kann kaum vorbehaltlos lieben… Schon der leiseste Hintergedanke an eine endgültige Hölle für andere verführt in Augenblicken, wo das menschliche Miteinander besonders schwierig wird, dazu, den anderen sich selbst zu überlassen. Man müsste sich aber [es folgt ein Zitat von Hansjürgen Verweyen] »wirklich vorbehaltlos entscheiden, jeden Menschen in seinem ganzen Wert anzuerkennen und in dieser Bejahung der anderen die eigene endgültige Freude zu suchen. Sieht man die Dinge so, dann bedeutet ein ‚Himmel für alle‘ nicht etwa den Anreiz zur Faulheit im ethischen Engagement, sondern die schwerste Anforderung an alle, die man sich denken kann: den Entscheid für eine Geduld, die grundsätzlich niemand aufgibt, sondern unendlich lange auf den anderen zu warten bereit ist… wenn ich aufgrund der universalen Güte Gottes keinen auf ewig abschreiben darf, dann könnte mein ewiges Unglück gerade darin bestehen, dass ich selbst einfach nicht die Geduld aufbringe, auf die ‚Bekehrung des anderen‘ unendlich lange zu warten.« Und nicht irgendwann dem lieben Gott zu sagen: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ Kann ein Christ dieses Mörderwort in den Mund nehmen? Und welcher Mensch ist nicht mein Bruder?

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Gehorsam, Angst und Strafe

Ich habe gerade wieder Hans Urs von Balthasars (ich konnte die Autokorrektur gerade noch daran hindern, hier „Barthaar“ zu schreiben) „Kleinen Diskurs über die Hölle“ vor mir liegen. Balthasar steigt mit der Frage ein, ob die objektive Sicherheit über das Vorhandensein der Hölle nötig sei, um dem Evangelium den nötigen ernst zu verleihen.DSC01522.jpg

Von Balthasar setzt dagegen, dass nicht Gottes Strafgerechtigkeit, sondern gerade seine Liebe den Ernst des Evangeliums begründe. Freilich komme die Hölle als eine „reale Möglichkeit“ in den Blick, freilich finden sich in den Evangelien neben Worten der Hoffnung auch Drohworte. Macht man allerdings aus letzteren die Beschreibung objektiver Fakten, dann nimmt man ersteren damit allen Sinn. Man muss aber, um für sich selbst hoffen zu können, für die ganze Menschheit hoffen dürfen – und nicht etwa umgekehrt. Ein sehr sympathischer Gedanke gegen jede Form des Heilsegoismus.

Ganz passend dazu lese ich eben Folgendes bei Arno Gruen über Gruppen und Gesellschaften die nach dem Gehorsamsprinzip funktionieren (nur bevor jetzt jemand fragt: ein reifes Christentum stellt die Liebe und damit die Empathie über den Gehorsam, aber mache Spielarten christlicher Frömmigkeit trifft der folgende Absatz nur zu gut):

Gehorsam scheint […] zu einem Bedürfnis nach Eindeutigkeit zu führen, was als Kriterium für eine „Verantwortung“ herhält und wiederum ja nur den Autoritäten dient. Diese falschen Verantwortung führt durch die Anpassung an soziale Normen zu persönlicher Kohärenz. Diese Kohärenz aber beruht auf Gehorsam. Sie unterscheidet sich grundlegend von einer Identität, die sich aus eigenen empathischen Wahrnehmungen herleitet, durch die Notwendigkeit, andere Verhaltensweisen bestrafen zu müssen. Denn abweichendes Verhalten bedroht die eigene Anpassung an den Gehorsam, stellt sie infame und macht genau deswegen Angst. Das ist ein – vielleicht sogar der hauptsächliche – Faktor, der die Gewalttätigkeit ideologischer Extremisten auslöst. (Dem Leben entfremdet: Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden, 32f.)

Darüber lohnt es sich eine Weile nachzudenken…

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Eine „Sünderin“ wird rehabilitiert

Im letzten halben Jahr ist mir immer wieder die Geschichte von der Frau am Jakobsbrunnen (Johannes 4) begegnet. Viele Auslegungen, die ich bis dahin gehört und gelesen hatte, scheinen die Situation typisch modern zu erfassen: da sieht sich Jesus einer bindungsscheuen Hedonistin gegenüber, die einen Mann nach dem anderen verschleißt auf der Suche nach einem erfüllten Leben.

Irgendwie fällt, so scheint es, immer auch etwas der Schatten der Ehebrecherin aus Kapitel 8 auf diese Episode. Die anschließende Diskussion ist dann so zu verstehen, dass Jesus die Frau implizit tadelt für ihre verfehlte Suche und ihr den Weg zu einem Leben aus der Fülle Gottes weist.

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Doch wie plausibel ist diese heutige Betrachtungsweise für die damalige Situation? Frauen konnten sich in der patriarchalischen Kultur nicht von ihren Männern scheiden lassen und wieder heiraten, nur Männern war das möglich – das dürfte auch unter der Samaritanern kaum anders gewesen sein. Es ist also viel wahrscheinlicher, dass diese Frau schon fünfmal verlassen wurde – eventuell war sie auch ein- oder mehrmals verwitwet. Über ihren eigenen, in unseren heutigen Kategorien vielleicht auch „schuldhaften“ Anteil an den Trennungen kann man jetzt lange und fruchtlos spekulieren, etwas weiter hilft vielleicht die Überlegung, dass (freilich unverschuldete) Unfruchtbarkeit durchaus auch ein denkbarer Scheidungsgrund gewesen sein könnte. Und so sah der augenblickliche Lebensgefährte vielleicht keinen Anlass, sich an eine Frau mit einem derartigen Stigma (unfruchtbar, verschmäht, „gebraucht“) dauerhaft zu binden.

Dass Jesus um diese leidvolle Geschichte weiß und sich trotzdem auf Augenhöhe mit ihr unterhält, dass er keine Anstalten macht, der Frau irgendeine erst noch zu bereuende und bereinigende Schuld zu unterstellen und so ihre Schande zu vergrößern, sondern mit ihr über eine Gottesunmittelbarkeit spricht, die auch den Gegensatz von Juden und Samaritanern, von Zion und Garizim transzendiert – all das wird, so betrachtet, noch viel erstaunlicher. Er stellt sie also keineswegs bloß, sondern er bekleidet sie mit einer Würde, die sie wiederum im Handumdrehen zur „Missionarin“ werden lässt.

Noch ein paar kurze Anmerkungen rund um die beiden erwähnten Damen:

(1) Einen ganz anderen Aspekt bringt z.B. C.K. Barrett in seinem Kommentar am Rande auch noch ins Spiel: Fünf Ehen war für damalige Verhältnisse außerordentlich viel. Nach Josephus hatten die Samaritaner fünf Götzen (in anderen Quellen dagegen sind es sieben). Es könnte also auch sein, dass die Frau symbolisch für ihr Volk hier steht, das nach jüdischem Dafürhalten den wahren Gott verkannt hat. Dieser symbolische Verweis mit der Ehe- auf die Gottesbeziehung wäre ja nicht ganz ungewöhnlich, wenn man an die jüdischen Propheten denkt.

(2) Eli Lizorkin-Eyzenberg hingegen sieht in einer der knappen Erinnerung an die Josephsgeschichte eine Deutung des Leids, das der Frau widerfahren ist, das sich nun durch die Begegnung mit Jesus ebenso wendet wie das Schicksal des Stammvaters der beiden religiösen Gruppen.

(3) Ausgerechnet die so beliebte Geschichte von der Ehebrecherin aus Kapitel 8,1-11 dagegen fehlt übrigens in den ältesten Handschriften des vierten Evangeliums, sie wurde wohl erst später hinzugefügt. Doch auch wenn das geniale Wort nicht von Jesus stammen sollte: Steine werfen ist keine gute Idee, selbst als Sündloser (der man hinterher ohnehin nicht mehr wäre).

Ebenso stellt sich damit die Frage nach dem Stellenwert des in manchen Kreisen mindestens ebenso populären, weil die verletzte moralische Ordnung nachdrücklich bestätigenden Diktums „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr“, mit dem man die Vergebung an die Bedingung künftigen Wohlverhaltens knüpfen kann. Damit niemand das mit der bedingungslosen Gnade missversteht… Valeria Hinck hat hier zu Recht darauf hingewiesen, wie selten das in den Evangelien der Fall ist – sollte Joh 8,11 einfach aus Joh 5,14 übernommen und eingefügt worden sein, dann halbiert sich das auf genau noch ein Vorkommen, während Jesus irritierend oft ganz ohne Bewährungsauflagen vergibt.

Alles in allem sind das doch spannende Perspektiven!

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Ketzervergleich

Brandan Robertson, der mit seinem Blog Revangelical daran arbeitet, die evangelikale Bewegung in den USA vom neoreformierten Fundamentalismus (oder wie auch immer man das bezeichnen mag) zu lösen, hat einen sehr interessanten Blogpost über C.S. Lewis geschrieben, in dem er Lewis‘ theologische Positionen beleuchtet und nebenbei Vergleiche zieht zu N.T. Wright, Rob Bell und Brian McLaren, die von vielen Rechtsevangelikalen wie Al Mohler derzeit mit allerlei Polemik überzogen werden.

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Der Post ist mit Lewis-Zitaten gespickt und allein deswegen schon sehr interessant zu lesen. Das Fazit lautet:

Bei einem Durchgang durch eine kurze Liste von Lewis-Zitaten können wir sehen, dass Lewis nicht glaubte, die Bibel sei unfehlbar, dass er es für möglich hielt, dass es universales Heil (Allversöhnung) geben könnte, dass er an die Evolution glaubte, dass er der Ansicht war, menschliche Sprache könne Gott nicht beschreiben, dass er an ein Fegefeuer glaubte und dass er die evangelikale Anschauung ablehnte, das Evangelium sei gleichbedeutend mit der Lehre vom stellvertretenden Strafleiden.

Obwohl Lewis mehr „Ketzereien“ verzapfte als seine aktuellen Nachfahren, wird er bis heute in vielen konservativen Institutionen gelesen und verehrt. Robertson fragt nun, ob sich daraus nicht auch die Möglichkeit ergibt, anderen mit derselben Aufgeschlossenheit zu begegnen. Die entsprechende Weite war also schon einmal da, sie ist auch für Evangelikale grundsätzlich möglich, die Tendenzen der Abschottung sind weder logisch noch notwendig (freilich werden die richtigen Hardliner nun wohl eher auf Lewis losgehen als ihre Engführungen in Frage zu stellen).

Insofern hat es doch etwas Erfrischendes und Mutmachendes, in den mal mehr, mal weniger radikalen Lewis-Zitaten zu stöbern.

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Einfach mal machen…

Der Kirchenvater Cyprian von Karthago hat das berühmte Diktum extra ecclesiam salus non est geprägt – es gibt kein Heil außerhalb der Kirche. Es wurde und wird immer wieder gern zitiert – vor allem da, wo es um kirchliche Macht und Einfluss ging: Es ist das Dogma vieler Traditionalisten, dass nur die Gott zum Vater haben, deren Mutter die Kirche ist. Offizielle Kirchenlehre war es aber nicht.

Nun hat Papst Franziskus in einer Predigt über Markus 9,38ff die Sache noch etwas deutlicher relativiert: Für ihn haben Menschen, die Gutes tun, auch dann Anteil am Heil, wenn sie keiner oder keiner christlichen Glaubensgemeinschaft angehören. Wer Gutes tut, erweist sich darin als Gottes Ebenbild. Und im Tun des Guten können sich Menschen unterschiedlicher Überzeugungen schon jetzt treffen.

Manches Missionskonzept käme dadurch ins Schleudern. Denn so gesehen kann es nun nicht mehr darum gehen, denen, die anders glauben, nachzuweisen, dass sie trotz all des Guten, das sie tun, nicht „in den Himmel“ kommen – sie gar als „Gutmenschen“ zu verurteilen, deren Selbstlosigkeit am Ende nur besonders raffiniert getarnter Hochmut ist –, sondern es geht wohl eher darum, das Gute auch als gut anzuerkennen und die Liebe, aus der heraus es geschieht, dankbar zu würdigen – um dann vielleicht gemeinsam zu überlegen, wie noch mehr Gutes geschehen kann.

Auftrag der Kirche wäre es dann nicht, sich möglichst alle Menschen „einzuverleiben“ oder gar alle anderen Glaubensrichtungen zu verdrängen, sondern dem Gemeinwohl zu dienen und so den Messias zu bezeugen, der sich für das Heil aller Menschen verschenkt hat. Abraham Heschel schrieb einmal:

Religion ist um Gottes Willen da. Die menschliche Seite der Religion, ihre Glaubensbekenntnisse, Rituale und Institutionen, sind eher ein Weg als das Ziel. Das Ziel ist “Gerechtigkeit zu üben, Barmherzigkeit zu lieben und in Demut mit deinem Gott zu wandeln.”

Wenn uns das gelingt, womöglich so absichtslos und selbstvergessen wie die Liebe nun einmal ist, dann ergeben sich vielleicht ganz neue Koalitionen und Möglichkeiten.

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Sterbliche Seelen und ewiges Leben

DSC00122Als Dallas Willard letzte Woche starb, habe ich mich erinnert an das Gespräch mit einigen Freunden während der Wochen über Tod und ewiges Leben. Unter anderem kamen wir auf den traditionellen Leib-Seele-Dualismus, nach dem die Seele das ist, was von einem Menschen übrig bleibt, wenn der Körper stirbt und verwest. Die immaterielle „Seele“ ist zugleich das Ewige, der Leib das offenkundig Vergängliche.

Platon, von dem dieses Modell stammt, hatte sich die Seele feinstofflich vorgestellt, für ihn handelte es sich um eine Substanz. Heute wissen wir, dass es so nicht funktioniert. Es wird überhaupt zunehmend schwerer, diese dualistische Sicht des Menschen aufrecht zu erhalten. Unsere ganze Person ist leiblich. Alle unsere Empfindungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gedanken, Bewusstsein und unbewusstes, unser Selbst oder wie man das auch nennen mag, existiert in einer verleiblichten Form und kann davon höchstens gedanklich abstrahiert werden, aber nicht gelöst. Dallas Willard hingegen hatte „Seele“ als die Gesamtheit der geistleiblichen Existenz des Menschen samt aller Beziehungen bestimmt – das Lebewesen samt Bewusstsein und aller Verhältnisse in die Welt hinein. So ganzheitlich verstanden ist „die Seele“ – der Mensch – also keineswegs ewig, sondern eminent sterblich. Ohne Leib gibt es kein Weltverhältnis mehr.

Eine verbreitete Gegenposition zu Platon wäre nun, mit vielen anderen zu sagen, das Ganze ließe sich auf rein materielle neurobiologische Prozesse reduzieren und wäre dann mit dem Abbruch der Körperfunktionen auch erledigt. Dann wäre der Tod das unwiderrufliche Ende der Person, alle Nahtoderfahrungen Illusion und der Horizont aller Hoffnung radikal begrenzt.

Der Glaube an die Auferstehung von den Toten liegt zwischen diesen Extremen und mutet uns einiges an Denkarbeit zu: Wenn nämlich die Seele keine Substanz ist, die ihre Hülle verlustfrei abstreift und in den Äther verschwindet, wie muss lässt sich dann das Weiterleben eines Menschen nach dem physischen Tod denken? Der Auferstandene wird in den Evangelien ja nicht als immaterieller „Geist“ geschildert. Zugleich sah er offenbar anders aus als vorher – erst das, was er sagte, machte ihn identifizierbar.

Dallas Willard hat sinngemäß gesagt, der Mensch sei eine Abfolge bewusster Erfahrungen. Ich würde das ganz ähnlich sagen – das Wesentliche an mir ist meine Geschichte: meine Erinnerungen, was mich durch die die Beziehungen zu anderen erreicht hat und was umgekehrt bei anderen angekommen ist (also die geteilte Erinnerung). Ich könnte mir vorstellen, dass bis zur Auferstehung der Toten, die ja noch aussteht, diese Erinnerungen bei Gott (dem einzigen anderen Wesen, das sie lückenlos kennt) aufgehoben sind, bis sie in einer anderen Dimension, aber keineswegs außerhalb dieser (dann geheilten und vollendeten) Welt, leiblich auf den Plan treten. Auch wenn ein technischer Vergleich zwangsläufig hinkt: Gott hätte so gesehen ein „Backup“ meines Lebens und Bewusstseins in seiner Erinnerung, das irgendwann auf neuer, kompatibler „Hardware“ wieder „lauffähig“ ist. Freilich haben wir (zumindest wenn wir vergessen, dass es nur eine Metapher ist) statt eines Leib-Seele-Dualismus den von Soft- und Hardware.

Eine offene Frage ist dabei noch, wie es sich mit der Zeit verhält. Vielleicht gibt es auch gar kein subjektiv erlebbares Intervall zwischen „jetzt“ und „dann“ – so wie man ja auch nicht weiß, wie lange man geschlafen hat, bevor man wachgeküsst wurde; oder weil die Lücke nur aus unserer Perspektive linear ablaufender Zeit im dreidimensionalen Raum entsteht und unter den Bedingungen der neuen Welt (oder wie Tom Wright gern sagt: im „Leben nach dem Leben nach dem Tod“) andere Gesetze gelten. Vielleicht besteht also zwischen dem „entkleidet werden“ und dem „überkleidet werden“, von dem Paulus in 2.Kor 5 schreibt, gar kein so großer Unterschied?

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„Sünde“ ist überbewertet

Neulich unterhielt ich mich mit einem Freund, der Theologie unterrichtet. Er hatte sich gerade mit dem Begriff „Vergebung“ beschäftigt und dabei festgestellt, das Thema kommt in den Evangelien (und im Neuen Testament überhaupt) zwar immer wieder einmal vor, aber längst nicht so oft, wie man das meinen könnte, wenn man manchen theologischen Traditionen unteren Verkündigen zuhört. Jesus ist keineswegs ständig dabei gewesen, Menschen ihre Sünden zu vergeben. Stattdessen hatte fast alles, was er tat und sagte, mit dem Kommen des Reiches Gottes zu tun und mit dem Stichwort der Gerechtigkeit.

Das traf sich gut, denn mir war es mit dem Begriff „Sünde“ ähnlich gegangen vor einiger Zeit. Im Neuen Testament kommt, wenn meine Software das richtig anzeigt, der griechische Begriff „hamartia“ 173 mal vor, in 150 Bibelversen. Allerdings nur ganze 41 mal in den vier Evangelien, 24 mal in den synoptischen Evangelien. Davon macht die dreifach erzählte Heilung des Gelähmten knapp die Hälfte aus, dazu kommt dann das Vaterunser und das Kelchwort beim Abendmahl und darüber hinaus bleibt nicht mehr viel übrig, wenn man die Länge der Texte bedenkt.

Im Römerbrief dagegen fällt das Wort Sünde 48 mal – ein gutes Viertel also und damit einsame Spitze im Neuen Testament. Der Hebräerbrief schlägt mit 25 Erwähnungen zu Buche, zusammen macht das 42% aus. Und es sind nun eben der Römer- und der Hebräerbrief, auf die sich zum Beispiel unsere Theologien des Sühnopfers stützen, genauso wie die Anschauung, dass die Erlösung von der Sünde (und dies nun verstanden als individuell zu verantwortendes, schuldhaftes und strafbedrohtes moralisches Versagen) das zentrale Problem sei, für das Bibel und Christentum eine (exklusive) Lösung anzubieten hätten (und manche konservative Stimmen würden hinzufügen: Für nichts anderes als dafür!).

Tom Wright hat immer wieder einmal darauf hingewiesen, dass wir, wenn wir Paulus und das Neue Testament nicht vom Römer- sondern zum Beispiel vom Kolosser- und Epheserbrief her lesen würden, vielleicht zu ganz anderen Verhältnisbestimmungen kämen. Zudem bietet Wright auch eine großartige Rückbesinnung darauf, was die Rede von „Sünde“ (und „Sündern“) im Judentum zur Zeit Jesu bedeutete und inwiefern Sünde damals als Problem betrachtet wurde.

Jesus und außerhalb des Römerbriefes auch Paulus haben also nicht annähernd so oft über Sünde gepredigt, wie das in der Tradition des Spätmittelalters und der Reformation, weiten Teilen des Pietismus und vor allem der Heiligungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts geschah. Dass das Wort fehlt, muss nicht unbedingt bedeuten, dass auch die Sache nie in den Blick kommt. Menschliches Scheitern, Zerbrochenheit, Verlorenheit und sogar Bosheit werden immer wieder thematisiert, vor allem aber Gottes Antwort auf diese Misere.

Dallas Willard hat in The Divine Conspiracy gefrotzelt, das Evangelium des „Sündenmanagements“ (von dem es eine konservative und eine liberale Variante gibt) führe zu einem „Vampirchristentum“, das nur an Jesu Blut interessiert sei, nicht jedoch an der Nachfolge Christi und der Umgestaltung des Selbst durch Gottes Geist mitten in einer instabilen Welt.

Im apostolischen Glaubensbekenntnis, das ja durchaus einige theologische Leerstellen enthält, erscheinen die Begriffe Sünde und Vergebung ganz am Schluss. Ursprünglich war das ja ein Leitfaden für die Bibellektüre. In dieser Hinsicht vielleicht kein ganz schlechter. Wenn wir das Thema Sünde und Vergebung einen Augenblick zurückstellen und es nicht zwanghaft überall hineinlesen, wo es weder der Begrifflichkeit noch der Sache nach erscheint, dann entdecken wir möglicherweise viele spannende Aspekte von Gottes Handeln, die uns bisher gar nicht so richtig aufgefallen sind.

Den Versuch wäre es allemal wert!

PS: Bevor jetzt die Kommentare all derer losgehen, die falsche Umkehrschlüsse lieben – ich habe nicht gesagt und auch nicht impliziert, dass (1.) Sünde kein Thema im NT ist, (2.) Vergebung überflüssig, (3.) das Kreuz sinnlos. Ich stelle nur in Frage, ob (1.) Sünde und Vergebung die bestimmenden oder gar (2.) einzig legitimen Kategorien sind, in denen Gottes Handeln in Christus beschrieben werden sollte.

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Geglückte Verbindung

Am gestrigen Sonntag haben wir Konfirmation und Taufe gefeiert. Beides in einem Gottesdienst unterzubringen war eine interessante Herausforderung, aber wir haben uns in den Gesprächen mit den noch nicht getauften Jugendlichen und ihren Familien dagegen entschieden, um der einheitlichen Erscheinung willen schnell noch eine Taufe kurz vor der Konfirmation anzubieten.

Alles andere, da waren wir uns einig, wäre ein problematisches Signal, denn es würde die Taufe de facto auf eine Zugangsvoraussetzung zur Konfirmation reduzieren. Aber die Taufe ist das Eigentliche, die Konfirmation deren Aktualisierung. Und es wäre doch ziemlich merkwürdig, bewusst getaufte Jugendliche ein paar Tage später zu fragen, ob das denn wirklich ihr Ernst war. Nicht nur ich fand gestern, es hat dem Konfirmationsversprechen der KonfirmandInnen einen wunderbaren Bezugspunkt gegeben, dass ihm zwei Taufen (mit richtig viel Wasser…) vorausgingen.

Wir sind damit sicher nicht die einzigen, aber anscheinend eine Minderheit: Die Website der EKD stellt den theologischen Zusammenhang zwar zutreffend dar, erwähnt dann jedoch die verbreitete Inkonsequenz in der Praxis (nebenbei: etwas unpassend fand ich, dass in dem Textabschnitt durchgängig von „Kind“ die Rede ist). Das Thema hat also noch Entwicklungspotenzial:

Die Konfirmation ist die Bestätigung der Taufe. Wenn das Kind nicht getauft ist, so wird das Kind in der Regel am Ende des Konfirmandenunterrichts getauft; eine Bestätigung der Taufe, also die Konfirmation, ist dann nicht mehr notwendig, da das Kind ja schon selber Ja zu der Taufe gesagt hat. In der Praxis wird das Kind dennoch oft vor der Konfirmation getauft.

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Stalin, Hitler und die Hölle

Anscheinend ist das Thema „Hölle“ immer noch ein mächtiger Aufreger für viele Christen. Um sicherzustellen, dass die Ewigkeit nicht von Krethi und Plethi bevölkert wird, weil die strengen Zugangsvoraussetzungen von allzu liberalen Gutmenschen aufgeweicht werden, wird immer wieder mal angemerkt, dass am Ende auch noch Hitler und Stalin im „Himmel“ auftauchen könnten, weshalb man in dem Fall selber gar nicht mehr da hin will. Ich nenne das mal den Monster-Trick.

So weit, so gut. Ich wüsste noch ein paar Namen von Leuten, denen ich lieber nicht begegnen würde. Je länger nicht drüber nachdenke, desto mehr fallen mir ein für die Monster-Liste. Nur: Wo ist die Grenze? Und ist mein netter, aber vermeintlich gott-loser Nachbar nun näher an mir oder näher an den Monstern? Es geht ja gar nicht um diese Grenzfälle, sondern um die Milliarden unspektakulärer Individuen, die schon erwähnte „massa damnata“,

Auf der anderen Seite haben viele die Blüten, die der theologische Exklusivismus hier und da so treibt, dermaßen satt, dass sie der Kirche insgesamt den Rücken kehren, die für sie zum Hort der Bigotterie und Intoleranz geworden ist. Von einer solchen Geschichte erzählte neulich Peter Rollins. Einer seiner Freunde erklärt seinen Abschied vom organisierten Christentum mit einer Parabel: Er kommt an der Himmelstür an, Petrus überprüft seine Identität und will ihn hereinlassen, da fällt sein Blick auf seine Freunde. Ob die auch hinein dürfen? Petrus schüttelt den Kopf. Dann, so der Freund, ziehe er es vor, auch draußen zu bleiben. Petrus strahlt ihn an und beglückwünscht ihn zu dem Entschluss.

Es ist freilich eine konstruierte Geschichte, die auf diese sympathische Pointe hinausläuft. Immerhin: Jesus hat selbst den „Himmel“ verlassen um all der Menschen, ja der ganzen Welt willen, die Gott liebt. Wie sollten wir ihm da nicht nacheifern?

Die Szene an der Himmelstür, wo man sich in Ruhe informieren kann, wer nun drin ist und wer nicht, und sich dann selber entscheiden, ob Gottes Auswahl einem nun zusagt oder nicht, wird es freilich nicht geben. Die Entscheidung, wie ich zu Gott und anderen Menschen stehe, treffe ich heute. Sich von einer Organisation zu distanzieren (oder ihr entschieden zu widersprechen!), die den Großteil der Menschheit mehr oder weniger verklausuliert in die Kategorie „Monster“ einstuft, kann dabei ein sinnvoller Schritt sein.

Letzten Endes aber bedeutet es, auf das Urteil in dieser Frage überhaupt zu verzichten, keine end-gültige Ausgrenzung vorwegzunehmen und zu akzeptieren, dass ich nicht Gott spielen kann – für niemanden. Wer sich damit schwer tut, kann ja mal drüber meditieren, wie es wäre, tatsächlich im „Himmel“ einem Hitler oder Stalin zu begegnen. Einem, der dort all die positiven Möglichkeiten verwirklicht, die er in seinem „irdischen“ Leben ausgelassen hat. Einen, der in all das Gute hineinwächst, das Gott ihn ihm angelegt hatte.

Man muss ja nicht gleich eine Theologie draus machen. Als Herzensübung ist das jedoch gar nicht so schlecht. Denn wenn Gott so etwas mit Hitler gelingen könnte, was wäre dann mit meinen ganz persönlichen Intimfeinden – oder gar mir selbst?

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Die Hölle der anderen?

DSC08717Am vergangenen Wochenende hat Paul Zulehner die Universalität der biblischen Heilszusagen angeschnitten. Es geht Gott um nichts weniger als die Erlösung der Menschheit, und nicht einer kleinen Schar von Erwählten (während der Rest als massa damnata in der Hölle brutzelt). Seit Augustinus († 430) ist ersteres die Mehrheitsposition der westlichen Christenheit gewesen, mittlerweile ist aber einiges in Bewegung geraten.

Es lohnt sich, bei dem Thema zu verweilen: Der theologische Exklusivismus funktioniert nach der Formel „Wir kommen in den Himmel, die anderen nicht“. So schroff wird das selten formuliert, aber die Position wird ja doch in der Regel von denen vertreten, die relativ sicher wirken, dass sie der richtigen Religion (und natürlich Konfession) angehören und damit qualifiziert sind für die Zukunft in der lichtdurchfluteten Hälfte des durch einen breiten Graben geteilten Jenseits.

Dass diese Heilsgewissheit entgegen aller Beteuerungen immer auch mit irgendeiner Form von Leistung zu tun hat, zeigt sich daran, dass auf jede kritische Anfrage an den Exklusivismus die stereotype Antwort kommt, andernfalls sei ja erstens alle Mission für die Katz und zweitens gehe die Moral den Bach runter, weil sich niemand mehr anstrengen würde. Das tatsächliche Vorhandensein der jenseitigen „Hölle“ wird so zum objektiven wie subjektiven Grund christlicher Mission. Objektiv, weil der doppelte Ausgang des göttlichen Gerichts schon jetzt fest steht, und subjektiv, weil nur der, der die Dringlichkeit der katastrophalen Lage der Anderen verinnerlicht hat, alle Kräfte dafür aufbieten wird, die Sünder umzustimmen. Alles andere liefe in dieser theologischen Konstruktion auf unterlassene Hilfeleistung hinaus, die selbst wieder zum Ausschluss führen müsste. Den ersten Christen scheint das eher fremd gewesen zu sein.

Reichlich unklar bleibt freilich, wie jemand, der das ernsthaft glaubt (nur um nicht missverstanden zu werden: die allermeisten Exklusivsten sind sehr nette und zum größeren Teil auch kluge Menschen!), überhaupt noch ruhig schlafen kann, denn alle Mühen sind augenscheinlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein und jede Nacht könnte theoretisch jemand sterben, dem ich das Evangelium schuldig geblieben bin. Verständlich also, wenn man versucht sein sollte, um des vermeintlich guten Zwecks willen auch mal zu fragwürdigen oder recht drastischen Mitteln zu greifen. Zumindest ergibt sich das Problem, anderen permanent ihre echten oder vermuteten moralischen Defizite vorhalten zu müssen, derentwegen ihnen die gerechte Verbannung in die äußerste Finsternis droht (ein passabler Ausweg aus dem Dilemma wäre die Lehre von der doppelten Prädestination, denn die erlaubt es, fröhlich an der eigenen exklusiven Erwählung festzuhalten ohne sich über den gottgewollten Verlust der vielen anderen zu grämen und das alles noch als Akt vollkommener Gnade zu feiern). Vielleicht sollte man das theologisch zutreffender als „Teilversöhnung“ bezeichnen. Donald Miller kommentierte treffend: “If the religious fundamentalists are right, heaven will be hell. And almost nobody will be there.”

Exklusivsten nämlich bezeichnen den Widerspruch gegenüber ihrer Position mit dem Kampfbegriff „Allversöhnung“. Nicht nur jene, die richtig glauben, werden nach dieser Vorstellung erlöst, sondern alle Menschen. Jesus ist nicht nur für wenige Erwählte gestorben, sondern für die von Gott geliebte Welt und Menschheit. Während Exklusivisten vielfach Himmel und Hölle zum Glaubens- und Bekenntnisgegenstand erheben und ausgiebig zum Thema christlicher Doktrin machen, die ihrerseits vornehmlich Gewissheiten begründen soll, liegt bei vielen der „Allversöhnung“ beschuldigten Theologen die Sache ein bisschen anders. Hans Urs von Balthasar hat in seinem „Kleinen Diskurs über die Hölle“ unter anderem zwei Dinge herausgestellt: Christen sind zum Festhalten an der Hoffnung gerufen, dass Gottes Heil am Ende alle Menschen erreicht, und zugleich müssen sie die Warnungen der Bibel, dass dieses Heil kein bloßer Automatismus der Weltgeschichte ist, und man Gottes Ziel für das eigene Leben verfehlen kann, für sich persönlich ganz ernst nehmen. Diese Mahnungen wirken einer gnadenlosen Selbstgefälligkeit entgegen, während jene Hoffnung für die anderen den Horizont der Gnade ganz weit offen hält.

Denn eine „Allversöhnung“, die lediglich darin bestünde, dass Gott aus einer müden Laissez-faire-Nettigkeit heraus alles ignoriert, was Menschen einander und ihren Mitgeschöpfen antun, die das Problem des Leidens und menschlicher Bosheit nicht ernst nähme (und damit auch die Opfer derselben), wäre auch keine gute Nachricht für die Welt. In der Fortschrittseuphorie des 18. und 19. Jahrhunderts war es vielleicht noch denkbar, dass diese düsteren Seiten der Menschheit sich irgendwann erübrigen. Heute ist niemand mehr so naiv. Ebensowenig kann es ja um einen „Zwangshimmel für alle“ gehen, wie Steve Turner einmal spöttisch dichtete.

Einig waren sich jedoch, das hat jüngst Brian McLaren wieder betont, beide Richtungen bisher oft in der Annahme, dass es im Evangelium primär um die Frage der „Seelenrettung“ geht, wo und wie der einzelne Mensch die Ewigkeit verbringt, und dass das Leben hier und jetzt vor allem im Blick auf jene Zukunft zu sehen und zu bewerten ist. Nun könnte man sagen, im Zweifelsfall gehen wir vom ungünstigeren Fall aus und freuen uns, wenn Gott großzügiger ist, als wir denken. Mit dem gleichen Recht kann man aber auch umgekehrt argumentieren, das strenge Gottesbild der exklusivistischen Verkündigung sei so negativ, dass es viele Menschen abstößt und damit das Gegenteil dessen erreicht, wozu es theoretisch da ist.

Wenn es aber zutrifft, dass Jesus die kommende Herrschaft Gottes im Sinne der jüdischen Prophetie als Befreiung Israels und der Welt aus der inneren und äußeren Versklavung unter zerstörerische Mächte verstanden hat, wenn die Auferstehung das Urdatum der Neuschöpfung ist, wenn es weniger darum geht, Menschen „in den Himmel“ als den Himmel zu den Menschen zu bringen, wenn Jesu Gerichtsworte viel mehr von innergeschichtlichen als überzeitlichen Folgen destruktiven Verhaltens handeln, dann wird das Diesseitige nicht länger zugunsten des Jenseitigen abgewertet, das Soziale nicht mehr zugunsten des Individuellen, das Äußere, Politische nicht mehr zugunsten des Innerlichen und Religiösen. Der Bogen von der Schöpfung nur Neuschöpfung reicht an beiden Enden weiter als der von der Erbsünde zum Weltgericht. Dann verlangt das nach einer integralen Spiritualität aus Aktion und Kontemplation (oder, wie Paul Zulehner es nannte, Mystik und Politik), dann sind andere Weltanschauungen nicht in erster Linie Konkurrenz, die Menschen vom wahren Heilsweg ablenkt, sondern durchaus auch mögliche Partner in der Erwartung des Neuen. Dann muss ich an anderen Menschen nicht die Schatten und Schwächen finden und ans Licht zerren, sondern ich kann all das würdigen, was Gott schon Gutes geschaffen hat – und auf dieser Grundlage dann Probleme und Konflikte lösen.

Mission hieße dann, Menschen für diese Bewegung der Versöhnung und Umgestaltung zu mobilisieren, die ihnen vielleicht auf absehbare Zeit größere Unannehmlichkeiten bringt als vordergründigen Gewinn, weil die Saat des Guten langsam und ungleichmäßig verteilt heranreift und alles auf eine Zukunft hin angelegt ist, für die wir keine andere Garantie haben als die biblische Verheißung. Es hieße, diesen Himmel der Gegenwart Gottes im Gewöhnlichen und Unvollkommenen (das „Heil-Land“) auch jenen offen zu halten, die ihn missverstehen, verachten oder gar vernichten wollen. Es hieße aber auch, die vielen Höllen auf Erden zu bekämpfen und in Gottes Namen ihren Protagonisten und Nutznießern hartnäckig zu widerstehen. Die Kraft dazu werden Menschen nur schwerlich finden, wenn sie nicht bei Gott „eintauchen“ und aus der Hoffnung und Kraft der Auferstehung schöpfen. Jürgen Moltmann hat die Alternative schön auf den Punkt gebracht:

Die Messiashoffnung kann in beiden Richtungen wirken: Sie kann das Herz der Menschen aus der Gegenwart abziehen und in die Zukunft setzen. Dann entleert die Messiashoffnung das gegenwärtige Leben, das Handeln, aber natürlich auch das Leiden an den gegenwärtigen Unterdrückungen. Sie kann aber auch die Zukunft des Messias vergegenwärtigen und die Gegenwart mit dem Trost und dem Glück des nahenden Gottes erfüllen. Dann erzwingt die messianische Idee gerade kein »Leben im Aufschub«, sondern ein Leben in der Vorwegnahme, in welchem alles schon in endgültiger Weise getan werden muss, weil das Reich Gottes auf die Weise des Messias schon »naheherbeigekommen« ist. (Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen. S. 43)

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Stiefmütter, Schwiegermütter und skandalöse Situationen

Heinz Schilling schreibt in seiner Luther-Biographie von einem Zwischenfall zwischen Luther und Georg Spalatin, der nach seiner Zeit am kursächsischen Hof als Superintendent von Altenburg einem verwitweten Pfarrer erlaubte, die Mutter seiner verstorbenen Ehefrau zu heiraten. Luther machte dem früheren Freund daraufhin derart massive Vorwürfe, dass der in eine Angstdepression verfiel und Monate später starb.

Dass Luther so lospolterte, hat eine biblische Analogie: In 1.Korinther 5 tadelt Paulus die Gemeinde in Korinth dafür, weil sie duldete, dass ein Mann aus der Gemeinde mit seiner Stiefmutter liiert war. Es lässt sich aus dem Text selber nicht mehr rekonstruieren, ob der Vater gestorben, die Ehe zwischen Vater und Stiefmutter geschieden und die beiden eventuell sogar irgendwie rechtskräftig ein Paar waren. Ein Kommentator spekuliert zu der Stelle, es müsse ein Fall von ganz besonders schwerem Ehebruch vorgelegen haben, weil Paulus so heftig reagierte.

Aber vielleicht war das, wie Luthers Beispiel zeigt, ja gar nicht der Fall. Vielleicht hatte da tatsächlich nur einer die verwitwete Stiefmutter geheiratet oder heiraten wollen? Nach Deuteronomium 23,1 ist das an sich ein schweres moralisches Vergehen, und nach Paulus‘ Darstellung war es das angeblich auch in den Augen der nichtjüdischen Welt.

Wenn sich das also so verhielt, dann ist das Spannende an diesen beiden Episoden ja dies, dass wir heute (und das zeigt ja schon das Postulat des Kommentators, da müsse doch noch mehr dahinter stecken!) die Aufregung in beiden Fällen nicht mehr verstehen und dass der gesellschaftliche Skandal, den Paulus an die Wand malt, bei uns gar nicht mehr zu befürchten wäre. Gewiss würde der eine oder andere den Kopf schütteln oder die Nase rümpfen, aber das war’s dann auch schon.

Wir bewerten manche Dinge heute anders. Anders als Luther, der von „Blutschande“ (also Inzest) sprach, auch anders als Paulus. Es ist richtig und notwendig, dass wir das tun und uns ein eigenes Urteil bilden und dabei auch der veränderten Rechtslage Rechnung tragen. Ich weiß nicht, wie Dtn 23,1 im heutigen Judentum interpretiert wird – vermutlich gibt es dazu auch mehr als eine Meinung. Als Christen können wir solche Aussagen eben auch nicht einfach nur biblizistisch unmittelbar auf heutige Situationen übertragen, selbst wenn das bei Paulus noch möglich (oder gar kulturell angebracht) gewesen sein sollte.

Spalatin hat mutig entschieden und dafür einen hohen Preis bezahlt. Die Wittenberger wollten ihm jene evangelische Freiheit nicht zugestehen, die sie selbst (durchaus höchst umstritten) in Anspruch nahmen

So weit die Geschichte. Eventuelle Parallelen zur Gegenwart darf sich jeder selbst überlegen.

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