An Bord des in Seenot geratenen Schiffes überschlagen sich bald die Ereignisse. Der Kapitän rüffelt Jona, weil der nicht wie alle anderen seinen Gott um Rettung anfleht: praktischer Atheismus beim verstockten Propheten, bei den Seeleuten dagegen lebendige Religiosität, die sich sogar dem Urteil Gottes zu stellen bereit ist. Und Jahwe redet zu den Heiden auf ihre (!) Weise, indem er das Los auf Jona fallen lässt, und damit „seinen“ Mann verpetzt. Selbst jetzt müssen die Einzelheiten Jona noch zeitraubend aus der Nase gezogen werden – wer gibt schon freiwillig zu, dass er die ganze Mannschaft ins Unglück gestürzt hat. Immerhin räumt er bei der Gelegenheit ein, dass sein Gott nicht nur Himmel und Erde, sondern auch das Meer gemacht hat – wieder ein Beispiel dafür, dass theoretisches Wissen bei Jona ohne jeden Bezug zu seinen existenziellen Entscheidungen bleibt.
Alle Insassen dieses Schiffs treffen sich in der Logik von Schuld und Strafe: Der Sturm muss mit dem Fehlverhalten eines der Anwesenden zu tun haben. Diese Logik existiert nicht nur in den heidnischen Kulten (die vorchristlichen Wikinger opferten vor tausend Jahren neben Tieren auch noch Sklaven), sondern auch im Judentum, auch da nimmt Gott Israel in „Sippenhaft“ für Vergehen einzelner. Allerdings wird dieses Denken in der Bibel auch deutlich kritisiert, und das Buch Jona scheint mir Teil dieser Selbstkritik zu sein. Und so muss Gott gar nicht explizit fordern, dass man ihm Jona ausliefert – niemand hier kann sich etwas anderes vorstellen, und Jona spricht es aus. Ist das nun prophetische Inspiration oder allzu menschliche Resignation?
Die Idee, dass Gott Gruppen und ganze Gesellschaften in „Sippenhaft“ nehmen und pauschal strafen könnte, für Dinge, die ihn stören, hält sich auch heute leider noch in manchen christlichen Milieus. Da wird dann auch mal schnell die nächstbeste Katastrophe als Gottes Strafgericht ausgegeben oder eine Minderheit zum Sündenbock gemacht.
Doch ungeachtet der Tatsache, dass Jona gerade dabei ist, sie mutwillig um ihren Besitz und vielleicht auch ihr Leben zu bringen, versuchen die Seeleute erneut, mit letzter Kraft das rettende Ufer zu erreichen. Erst als das selbstlose Unterfangen scheitert, wird Jona aufgegeben – jedoch nicht ohne die Bitte an Gott, ihnen dieses zwiespältige „Opfer“ nicht nachzutragen. Am Ende dieses ersten Kapitels haben wir einen Gottesmann, der total versagt und nur um Haaresbreite dem Untergang entgeht, und eine durch und durch gottesfürchtige Schiffsbesatzung, die Gott für fairer und barmherziger hält als Jona, der es wissen müsste. Immerhin: Auch so kann „Mission“ gelingen…
Die Ironie des Ganzen lautet: Jonas Präferenz für einen unbarmherzigen Gott befördert ihn ins Wasser, wo er der Barmherzigkeit Gottes in Gestalt eines mächtigen Fischs begegnet. Wird ihn das verändern? Wenigstens zeitweise sieht es danach aus…
Dennoch schimmert schon hier in diesem plakativen Kontrast eine andere Hoffnung durch, die Hoffnung auf Gottes Reich. Ich habe neulich schon den Beitrag von Klaus Mertes auf Zeit Online zitiert. Er schreibt dort gegen Ende, wie gerade der Tod Jesu die Logik von Leistung, Rache, unentrinnbar bösen Tatfolgen und strafender Gewalt außer Kraft setzt:
Die Praxis Jesu weist einen Weg, wie die durch Gewalt beschädigten Vertrauensressourcen unter Menschen und Völkern wieder neu zum Sprudeln gebracht werden können. Dabei bedeutet „Reich Gottes“ nicht einfach die Wiederherstellung eines ursprünglich heilen, paradiesischen Zustandes der Gewaltlosigkeit. Vielmehr geht die Perspektive nach vorn: Im Reich Gottes werden Menschen und Völker, die zueinander kein Vertrauen mehr aufbringen können und sich deswegen in der Spirale gegenseitiger Gewalt verstrickt haben, versöhnt
… Das Evangelium schlägt als Alternative zur Gewalt den Weg der Gewaltlosigkeit vor: Sie meint aber gerade nicht Resignation gegenüber der Gewalt, sondern Widerstand gegen sie. Man kann die „Leistung“ Jesu am Kreuz so beschreiben: Dem Misstrauen und der Gewalt, die auf ihn prallen, gelingt es nicht, sein Vertrauen zu besiegen. Sein Tod ist kein äußerliches Opfer, sondern versöhnende Hingabe des Lebens, weil er bis zum Schluss aus Vertrauen lebt. Gott ist vertrauend.
Ich frage mich, ob der Sturz ins Meer nicht der krönende Abschluss der Flucht Jonas ist – lieber tot als Ninive. Denn das eigentlich naheliegende, nämlich wie die Seeleute Gott anzurufen, lässt Jona aus. Denn das würde bedeuten, Gottes Auftrag anzunehmen.
Jona hat dann aus seiner Sicht Pech und macht die Erfahrung aus Psalm 139: Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
Nun, er holt das Beten in Kapitel 2 etwas nach, wobei das merkwürdig aufgesetzt klingt und sich als kurzlebig erweist (weshalb manche die Spannung auch literarkritisch auflösen).
Sehr geehrter Herr Aschoff, ich lese Ihren Blog eigentlich ganz gern, bin jedoch über diesen Beitrag überrascht: In Ihren Anmerkungen zum Propheten Jona fehlt mir der sonst stets betonte geschichtliche Kontext. Jona war offensichtlich bereits viele Jahre lang ordentlicher Prophet und Lehrer in Israel (2.Könige 14,25), bevor er auf diese heikle und äußerst ungewöhnliche Mission geschickt wurde, die immerhin 120.000 Menschen das Leben rettete. Die Ereignisse, die geschildert werden, und die Art und Weise, wie sie formuliert werden, legen nahe, dass Jona unter immensem Stress sozusagen „neben sich“ stand: Schließlich waren die Niniviten erklärte und bittere Feinde des Volkes Gottes, unter dem er wirkte. Wenn schon Petrus, der Jesus hautnah erlebt hatte, viele Jahre später kaum fassen konnte, dass er zu einem einzigen Mann aus einem heidnischen Volk geschickt wurde, wie viel mehr musste Jona, der ja noch ganz und gar unter dem alten Bund lebte, irritiert gewesen sein, als er zu einer ganzen Stadt, die für ihre Bosheit und Verkommenheit bekannt war, geschickt wurde, um unmittelbares Verderben anzukündigen! Gott suchte einen Mann, der das tun konnte, und er wählte Jona. Das will doch schon einiges sagen. Und: Israel war zu der ein „abtrünniges Geschlecht“, wie zu Zeiten Jesu, daher das „Zeichen des Jona“: Ein Prophet steht sozusagen aus den Toten auf (die 3 Tage im Fisch müssen ein ununterbrochener Sterbeprozess gewesen sein) und predigt Buße und Gericht. Gericht über Israel umso mehr, als sich, im Gegensatz zu ihnen, die ihn jahrelang gehört hatten, die Stadt Ninive schon nach drei Tagen umkehrt.
@Burkhart Lübke: Ich halte da die bekannte Position von C.S. Lewis für plausibler, der Jona als eine Art Gleichnis oder eben Lehrerzählung versteht, nicht als Geschichtsschreibung im damaligen oder gar heutigen Sinn. Der schrieb 1953: „the question about Jonah and the great fish does not turn simply on intrinsic probability. The point is that the whole Book of Jonah has to me the air of being a moral romance, a quite different kind of thing from, say, the account of King David or the New Testament narratives, not pegged, like them, into any historical situation.
In what sense does the Bible “present” the Jonah story “as historical”? Of course it doesn’t say, “This is fiction,” but then neither does our Lord say that the Unjust Judge, Good Samaritan, or Prodigal Son are fiction (I would put Esther in the same category as Jonah for the same reason)…“
Es handelt sich jedoch bei Jona, ebenso wie bei David, um eine historische Person: „Jona, der Sohn Amitthais, der Prophet, der von Gath-Hepher war“ (2.Kön 14,25), ist derselbe wie derjenige aus dem Buch Jona: „Es geschah das Wort des HERRN zu Jona, dem Sohn Amitthais …“. Weshalb also das Narrativ anzweifeln?
Würde Jesus obendrein als einziges Zeichen, dass er der Messias war, seinen „böse und ehebrecherischen“ Zeitgenossen wiederholt das „Zeichen des Propheten Jona“ nennen, wenn Jona eine rein fiktive Person gewesen wäre?
Und selbst wenn es so wäre und C. S. Lewis hätte recht (was ich bezweifle), müsste der geschichtliche Kontext berücksichtigt werden, aus dem heraus die Sendung eines israelitischen Propheten in eine heidnische Stadt etwas extrem Ungewöhnliches und Unerhörtes war.
Wie gesagt, ich halte Lewis‘ Position für plausibel. Sie ergibt sich aus der Art der Erzählung. Frelich wird da ein Protagonist verwendet, der irgendwie bekannt ist, praktischerweise nur dem Namen nach. Aber in Ninive wird (anders als im Buch Nehemia etwa) der König eben nicht namentlich erwähnt. Jona ist der einzige Akteur, dessen Name fällt.
Das biblizistische Jesus-Argument ist nicht überzeugend: Für Jesus spielt es auch keine Rolle, ob der reiche Kornbauer oder der barmhezige Samariter „wirklich“ gelebt haben. Jesus spricht in den Vorstellungen der Menschen seiner Zeit. Eine historisierende Lesart bringt m.E. keinen Erkenntnisgewinn, sie verstellt eher den Blick auf die Pointe.
Ach, ich denke, beide Sichtweisen führen daran vorbei. Eine bestimmte Beantwortung der historischen Frage verstellt weder den Blick auf die Pointe noch verhilft sie zur Erkenntnis. Auch historische Ereignisse wurden nur weitererzählt, wenn man „was draus lernen“ konnte.
Peter, du schriebst: Für Jesus spielt es auch keine Rolle, ob der reiche Kornbauer oder der barmhezige Samariter “wirklich” gelebt haben.
Dein Argument ist nicht überzeugend. Die Evangelien unterscheiden sehr wohl zwischen Gleichnissen, mit denen Jesus etwas verdeutlichen möchte, und einer tatsächlich stattgefundenen Begebenheit.
Aber Jesus selbst unterscheidet nicht! Er erzählt einfach eine Geschichte. So ist das mit Jona auch.
Nun, die Pointe wäre nicht weg – sie wäre nur woanders.
Einfach eine Geschichte, die 3000 Jahre später dazu gut ist, persönliche Resentiments gegen „gewisse christliche Milieus“ zu untermauern? Wo bleibt denn da die exegetische Redlichkeit …