Unverdient, aber nicht bedingungslos?

Daniel Rushing hat auf academia.edu ein interessantes Paper über die neue Paulusperspektive (Stendahl, Sanders, Dunn, Wright etc.) veröffentlicht. Darin greift er unter anderem auch ein paar Auszüge aus dem mehr als tausendseitigen Wälzer The Deliverance of God: An Apocalyptic Rereading of Justification in Paul von Douglas Campbell auf.

Demnach verfährt die klassische Paulusauslegung (liberal wie konservativ, sagt Rushing) nach folgendem Muster:

  • Sie geht von einem Gegensatz gerettet (bzw. gerechtfertigt) und unerlöst bzw. nicht gerechtfertigt aus, wobei für den Übergang von letzterem zu ersterem der Blick ins eigene Innere entscheidend ist
  • Sie setzt ein rationales Individuum mit Eigeninteresse voraus, das von Gottes Existenz durch die Stimme des Gewissens und den Anblick der Schöpfung überzeugt ist
  • Gott erscheint als kosmischer Gesetzgeber und moralischer Richter, der die Schuldigen bestraft und die Gerechten belohnt.
  • Das Ziel des Individuums muss als also sein, gerecht zu werden, um der Strafe und entgehen und den Lohn zu empfangen
  • Hier (mit der Introspektive) beginnt der „Zyklus der Verzweiflung“ – Luthers bohrende Frage nach dem gnädigen Gott: Jeder Versuch, gerecht zu werden, ist zum Scheitern verurteilt
  • Alternativ gibt es den Narrenzyklus: Menschen ignorieren das Urteil ihres Gewissens und machen sich selbst etwas vor, statt den wahren Ernst ihrer Lage anzuerkennen
  • Neben diesen beiden Zyklen gibt es zwei „Kontrakte“: Der eine verfügt, dass Gott Sünde unbedingt strafen muss, der andere legt fest, dass durch Christus Menschen aus dem Zyklus der Verzweiflung entkommen können.
  • Indem Gott Jesus straft, erfüllt er den ersten „Kontrakt“ und ermöglicht den zweiten: An Jesus erfüllt sich Gottes Zorn gegen Sünde und Sünder, zugleich verleiht er denen seine vollkommene Gerechtigkeit, die glauben.

Campbell formuliert abschließend:

Gnade bezeichnet in dieser Lesart der Rechtfertigung: Gottes unverdiente Großzügigkeit, die sich in der Rettung allein durch Glauben erweist; sie ist nicht mehr als das und auch nicht weniger. Sie ist eher „unverdient“ als „bedingungslos“ (an dieser Stelle fragt man sich freilich, ob es sich wirklich in dem Sinne um „Gnade“ handelt, wie die Bezeichnung normalerweise theologisch verwendet wird). Allerdings werden erlöste Individuen darauf dennoch mit einer gewissen Freude, Frieden und Dankbarkeit reagieren. Schließlich ist ihnen die tödliche Last der Sorge abgenommen. So können die Themen der fröhlichen oder umkämpften Empfänglichkeit, des Friedens und der Dankbarkeit, die in den Texten des Paulus anklingen, mit dem Modell an passender Stelle verknüpft werden.

Der ganze Gedankengang ist jetzt leider doppelt verkürzt, weil ich Rushings Zusammenfassung hier nochmal knapp wiedergebe. Es mag also sein, dass sich das im Original noch viel differenzierter anhört. Trotzdem würde ich sagen, so oder doch ganz ähnlich habe ich das auch viele Male präsentiert bekommen.

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Eine Antwort auf „Unverdient, aber nicht bedingungslos?“

  1. Ich habe mir das Papier von Daniel Rushing mal komplett durchgelesen. Interessante Darstellung der „alten“ und der „neuen“ Sichtweise der paulinischen Auslegung. Schön zusammengefasst. Allerdings komme ich auch nach dem Lesen des Artikel zu einem anderen Schluss als der Verfasser. Auch wenn er das „neue“ Gesamtbild als schlüssiger ansieht, entdecke ich anschließend andere Stellen, bei denen man sich ganz schön verbiegen muss, um das noch einigermaßen in Einklang zu bringen. Trotzdem danke fürs zeigen, diese Ausarbeitung kannte ich noch nicht.

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