Re-reading Richard Rohr (1)

Ich wollte schon seit einiger Zeit Richard Rohrs Buch Ins Herz geschrieben wieder lesen. Jetzt endlich komme ich dazu. Und weil es fast unmöglich ist, seine Gedanken knapp und griffig zusammenzufassen, gibt es an dieser Stelle immer wieder einmal einzelne Zitate, die vielleicht den einen oder die andere dazu anregen, selbst hinein zu schauen. Los geht’s mit einem Gedanken zur Bibel – passend zur immer noch andauernden Diskussion in der Kommentarspalte:

Der Bibeltext selbst ist in einer Bewegung nach vorn und manchmal zurück, gerade so wie wir Menschen. Mit anderen Worten: Die Bibel gibt Ihnen keine Schlussfolgerungen und fertigen Antworten an die Hand, sondern öffnet einen Raum und lässt eine Richtung erkennen: Die Punkte nach vorn und hinten zu verbinden, ist unsere Aufgabe …

Das Leben selbst – und ebenso die Bibel – ist ein Prozess, der sich immer drei Schritte vorwärts und zwei Schritte zurück bewegt. Wir finden immer wieder einen Punkt, den wir dann wieder verlieren oder in Zweifel ziehen. Darin ist der Bibeltext ein Spiegel unseres menschlichen Bewusstseins und unserer Lebensreise. Unsere Aufgabe besteht darin, zu erkennen, in welche Richtung die Texte führen, die drei Schritte vorwärts gehen. Es sind die Texte, die unablässig in Richtung Erbarmen, Vergebung, Nicht-Augrenzen, Nicht-Gewalt, Vertrauen weisen.

Share

Rennradfahrer sind seltsame Menschen

… das ist bestimmt eine ungerechte Verallgemeinerung. Vielleicht treffe ich immer nur die komischen Exemplare. Sie tragen grelle Trikots mit wenig ansehnlichen Werbeaufdrucken meist unbekannter Firmen, ohne dass sie dafür etwas bezahlt bekämen, und verstecken sich hinter Spiegelbrillen, deren Gläser in Schockfarben wie türkis, orange oder pink schillern und an die Stubenfliege Puck aus der Biene Maja erinnern. Vermutlich um andere Verkehrsteilnehmer darüber im Unklaren zu lassen, ob sie noch Puste haben oder längst aus dem letzten Loch pfeifen. Denn das Leben ist ein Wettrennen, da verschenkt man keinen Vorteil, auch keinen psychologischen.

Ich bin ein eher zügiger Radfahrer, aber mit normaler Sonnenbrille und in unauffälligem Zwirn unterwegs. Ab und zu begegne ich einem Rennradler, der verträumt vor sich hin strampelt. Er – vielmehr sein Ehrgeiz – erwacht jedoch in genau dem Moment, wo ich ihn überhole. Dann hängt er sich ein Weilchen in meinen Windschatten um etwas später triumphierend an mir vorbeizuziehen. Ich bin kein Bummler und finde es schön, schnell zu sein. Aber mein Verdacht ist, dass Rennradler immer nur „schneller als“ sein müssen. Sonst wäre sie ja gleich schneller gefahren.

PS: Für Ehrgeizige gibt es inzwischen elektrische Hilfsmotoren, die man dezent im Rahmen verstecken kann.

Share

Harte Zeiten für Vampire

Mittwoch mittag am Ostbahnhof in Berlin. Ich kaue das Produkt einer großen Sandwich-Kette und blicke durch die Glasscheibe hinaus Richtung Ausgang. Eine automatische Schiebetür öffnet und schließt sich, während Reisende den Bahnhof betreten oder verlassen. Auf – zu. Auf – zu.

Plötzlich wird das monotone Kommen und Gehen interessant: Eine Frau geht auf die Tür zu, aber die öffnet sich nicht. Die Frau geht ein paar Schritte zurück und nimmt einen neuen Anlauf – wieder nichts. Sie wippt auf den Zehenspitzen, sie wedelt mit der Hand – nichts. Unverrichteter Dinge dreht sie ab und verschwindet aus meinem Blickfeld.

Ich starre auf die Tür. Ist sie kaputt? Jemand nähert sich von außen. Sie öffnet sich und schließt sich wieder hinter der Person. Dann kommen zwei Leute von innen. Die Tür funktioniert tadellos. Ich versuche mich zu erinnern: Hatte die Frau nicht irgendwie transsilvanisch ausgesehen? Schattenkreaturen wie Vampire und Geister sieht man ja angeblich nicht im Spiegel. Da wäre es ja auch kein Wunder, wenn Bewegungsmelder sie ignorieren. Also stolpern sie über dunkle Flure und müssen Umwege in Kauf nehmen – die moderne Seite des alten Fluches. Vielleicht sieht man sie deshalb so selten.

Nachdenklich schlucke ich den letzten Bissen herunter. Es fühlt sich gut an, Mensch zu sein. Sogar die automatischen Türen sind uns untertan…

Share

Weisheit der Woche: Weitblick

In Krisenzeiten braucht man eine etwas weiter ausgreifende Perspektive als den Rat des Mainstreams und das Klein-Klein des bloßen Durchwurstelns

Jürgen Habermas – hier zitiert

Share

Adam, Eva und die globale Familie

In diesem spannenden Video geht Jeremy Rifkin der Frage nach dem Ursprung der Menschheit, der Zivilisation und der menschlichen Natur nach. Er setzt ein mit der Feststellung, dass der Mensch nicht – wie manche Denker der Aufklärung und Vertreter der (frühen) Evolutionstheorie vermuteten – primär von Aggression und Trieb zur Selbstdurchsetzung gelenkt wird, sondern von Empathie, Kooperation und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit.

Auf die Frage, ob es gelingen kann, globale Solidarität jenseits von ethnischen, religiösen, ideologischen und nationalen Grenzen zu ermöglichen, kommt er eher nebenbei darauf zu sprechen, dass genetische Daten darauf hindeuten, dass die heute Menschheit tatsächlich von einem Mann und einer Frau abstammt und dass daher die globale Familie genetisch betrachtet gar keine Fiktion ist. Weiß jemand, wer diesen Nachweis geführt hat?

Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Ich sage damit nicht, dass Genesis 1-2 in allen Einzelheiten wörtlich auszulegen wäre, besonders was die Theorie von der Erbsünde betrifft. Aber für einen fruchtbaren Dialog zwischen Theologie und Wissenschaft liefert Rifkin ein paar schöne Ansatzpunkte.

RSA Animate – Empathic Civilisation from The RSA on Vimeo.

Share

Homosexualität: Leiser streiten

Vor einer Weile habe ich mich in ein paar Posts mit den Positionen des Aufatmen-Dossiers Homosexualität beschäftigt. Inzwischen habe ich angefangen, im Sammelband Homosexuality and Christian Faith zu lesen. Ein Beitrag stammt vom Herausgeber selbst – Walter Wink, definitiv kein theologisches Leichtgewicht – und da geht es um Homosexualität und die Bibel. Ich referiere das hier einfach kurz und kommentarlos:

Die Frage nach einem Standpunkt zu Homosexualität führt uns immer wieder zurück auf die Frage, wie wir die Bibel heute verstehen und auslegen. Wink beginnt damit, dass er sagt, bei manchen Texten ist nicht klar, ob sie sich überhaupt auf Homosexualität beziehen. Bei anderen ist der Bezug unmissverständlich, etwa in Levitikus 18 und 20. Allerdings strikt auf Männer bezogen. Im Hintergrund steht das vorwissenschaftliche Weltbild der Hebräer, die davon ausgingen, das männliche Sperma enthält das Ganze des werdenden Lebens, weshalb es Tötung ungeborenen Lebens wäre, es nicht ausschließlich zur Zeugung einzusetzen. Daher die Todesstrafe. Fruchtbarkeit hatte in der alten Welt einen ganz anderen Stellenwert, es ging um das Überleben des Stammes und der Sippe, um Altersversorgung und – da es keinen Auferstehungsglauben gab – eine gewisse Form des Weiterlebens nach dem Tod. All das hat sich für uns verändert.

Manche dieser Vorstellungen stehen auch im Hintergrund, wenn Paulus in Römer 1,26f mit dem Gegensatz natürlich/unnatürlich arbeitet. Paulus hatte allem Anschein nach keine Vorstellung von einer homosexuellen Neigung, die sich entweder sehr früh im Leben entwickelt oder möglicherweise auch angeboren ist, sondern er geht davon aus, dass jemand willentlich gegen eine gegebene heterosexuelle Natur handelt. Paulus und seine Zeitgenossen hatten vermutlich auch kein Konzept gleichberechtigter homosexueller Partnerschaften die auf Dauer und Treue angelegt sind.

Aus der Bibel eine widerspruchsfreie, stimmige Sexualethik abzuleiten, ist deswegen ein schwieriges Unterfangen, weil dort ganz verschiedene Gebräuche oft unkommentiert nebeneinander stehen.

  • Geschlechtsverkehr während der Woche nach dem Einsetzen der Menstruation wird mit dem Tod bestraft (Lev. 18,19; 15,19-24)
  • Ehebrecher wurden gesteinigt (Dtn 22,22), allerdings konnte eine Frau nur die eigene, der Mann nur die Ehe eines anderen „brechen“. Eine Braut, die vor der Hochzeit ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, wurde auch gesteinigt.
  • Nacktheit war ein strenges Tabu (Gen 9,20ff, 2.Sam 6,20; 10,4; Jes 20,2-4; 47,3)
  • Polygamie und Konkubinat dagegen kommen wiederholt vor und werden nicht kritisiert, im Judentum noch in nachneutestamentlicher Zeit
  • Die Leviratsehe ist Brauch im AT wird auch von Jesus ohne negative Wertung erwähnt
  • Wie das Hohelied andeutet, sind im Judentum einvernehmliche sexuelle Beziehungen unter Unverheiratetenin Einzelfällen möglich, so lange sie den Brautpreis nicht schmälern (s.o.).
  • In manchen ländlichen Gegenden erfolgte auch unter Christen die Eheschließung erst dann, wenn die Braut schwanger war. Kinderlosigkeit konnte man sich nicht leisten.
  • Sperma und Menstruationsblut verunreinigten nach dem jüdischen Gesetz einen Menschen für einen Tag bzw. eine Woche – Christen kümmert das heute in der Regel gar nicht mehr.
  • Regelungen zu Ehebruch, Inzest, Vergewaltigung, Prostitution drehen sich meistens um die Frage, wie hier männliche Besitzverhältnisse in einer patriarchalischen Gesellschaft berührt werden. In manchen jüdischen Texten ist zwar die Prostituierte eine Sünderin, nicht aber der Mann, der zu ihr geht. Heute verstehen wir das anders, weil wir von einer gleichberechtigten Partnerschaft mit Liebe, Treue und gegenseitiger Achtung ausgehen.
  • Die Mischehe mit Angehörigen anderer Völker ist im Alten Testament in der Regel verboten
  • Das mosaische Gesetz erlaubt die Scheidung, Jesus verbietet sie, die meisten Christen haben sich mit der Realität von Scheidungen inzwischen irgendwie arrangiert.
  • Ehelosigkeit wird im Alten Testament als abnormal empfunden, ihre generelle Forderung in 1Tim 4,1ff als Häresie bezeichnet, Paulus empfiehlt sie als Charisma und Jesus lebt sie vor.
  • Sklaverei wird in Teilen der Bibel akzeptiert und der „Gebrauch“ von Sklavinnen als Konkubinen gehörte da auch dazu.

Angesichts dieser Vielfalt, sagt Wink nun, sind Christen schon immer dabei, biblische Aussagen zu gewichten, zwischen unterschiedlichen Positionen auszuwählen und es ist gar nicht möglich, alles wörtlich zu erfüllen. Es gibt für Wink keine isolierte biblische Sexualethik. Stattdessen gilt:

Sexualität kann vom Rest des Lebens nicht getrennt werden. Kein geschlechtlicher Akt ist an sich „ethisch“, ohne Bezug zum übrigen Leben eines Menschen, den Mustern seiner Kultur, den besonderen Umständen, mit denen er zu tun hat, und dem Willen Gottes. Wir haben hier einfach sexuelle Gepflogenheiten, die sich manchmal mit erstaunlicher Geschwindigkeit wandeln und in befremdliche Dilemmata führen.

Diese Verhaltensweisen und Gepflogenheiten gilt es nun, sagt Wink, vom biblischen Liebesgebot her zu bewerten. Homosexualität als Orientierung ist für ihn so wenig eine Frage der Moral wie Linkshändigkeit, daher wirft er die Frage auf, ob man sie nicht (analog zu Ehelosigkeit) als Gabe neu begreifen sollte. Jesus fordert in Lukas 12,57 von seinen Zuhörern ein eigenverantwortliches ethisches Urteil, und Wink fragt, ob angesichts eines verändertes Wissensstands wie angesichts veränderter sozialer Verhältnisse nicht eine Neubewertung an der Zeit ist, die frühere Urteile revidiert. So wie Christen inzwischen Sklaverei, Gewalt und Sexismus hinter sich lassen und die biblischen Texte, in denen sich dies noch als unbestrittene Realität widerspiegelt, anders werten, könnte auch hier eine begründete Öffnung stattfinden. Den Ermessensspielraum hält er für gegeben.

Von daher kritisiert und beklagt Wink die aggressiven Auseinandersetzungen um das Thema Homosexualität in den Kirchen. Es wäre angesichts der Vielschichtigkeit der Auslegungsfragen besser, die Lautstärke um 95% zu reduzieren und auf gegenseitige Ausschlüsse und Verurteilungen zu verzichten, so lange kein Konsens erreicht ist. Als Beispiel führt er das Ehepaar Campolo an, die auch zum Autorenkreis des Sammelbands gehören. Meinungsunterschiede sind schmerzhaft, aber es ist eben manchmal nötig, sie auszuhalten.

Share

Authentisch Predigen

Nach dem Post über Authentische Antworten hier noch ein weiterführender Gedanke zum Thema Predigen, der wieder die vier Beziehungsräume (öffentlich – sozial – persönlich – intim) voraussetzt.

Predigen spielt sich im mindestens sozialen, meist auch im öffentlichen Raum ab. Unverfängliche, zum Thema passende Anekdoten sind eine schöne Sache. Aktuelle „Wie gehts mir“-Erklärungen gehören da aber einfach nicht hin, vor allem, wenn es um Probleme geht (mit Erfolgen ist es jedoch nicht viel besser). Die aktuelle Befindlichkeit herauszuhalten bedeutet nicht, zu lügen oder zu heucheln. Denn ich kann ungelöste persönliche Dinge da nicht ausbreiten, ohne dass die Gemeinde anfängt, sich Sorgen um mich zu machen, anstatt über den Gegenstand meiner Predigt nachzudenken.

Ein konkretes Beispiel: Als ich mit Gipsarm ankam, musste ich den Unfall in drei Sätzen erklären – nicht während, sondern vor Beginn der Predigt. Und ich fing nicht an, zu beschreiben, wie mich das beim Schlafen stört, wann ich noch Schmerzen habe, ob ich wütend bin auf den Verursacher und so weiter. Ich kann auch mit genügend innerem und zeitlichem Abstand von bewältigen Problemen berichten, aber es muss klar werden, dass das abgeschlossen und vergangen ist, und auch nur dann, wenn es die eigene Person nicht ungebührlich in Szene setzt.

Authentisch predigen bedeutet also, nicht dem Irrtum zu erliegen, man müsse jede Aussage durch den Verweis auf eigenes Erleben untermauern. Persönliche Geschichten, vor allem sehr persönliche Geschichten, erzeugen immer eine größere Resonanz. Die Versuchung ist also durchaus gegeben, möglichst viel Persönliches zu erzählen, weil das von den Hörern belohnt wird. Doch es lauern hier mehrere Gefahren:

  • Die Abnutzung: Wenn Persönliches zum Standardrepertoire wird und nicht etwas Besonderes bleibt, verliert es seine Wirkung. Woche für Woche kann kaum jemand bewegende persönliche Erlebnisse erzählen, ohne am Ende um des Effekts willen Banalitäten aufzubauschen. Das ist natürlich ein Vorteil für Gast- und Wanderprediger – man kommt mit drei bis fünf guten (oder schlimmstenfalls rührseligen) Storys über die Runden und erzeugt zumindest die Illusion, es gehe hier sehr persönlich zu.
  • Die Verselbstständigung: Es mag eine Nebenwirkung der Klatschpresse sein, aber viele Predigthörer erinnern sich an nebensächliche persönliche Details und haben die – eigentlich beabsichtigte? – Aussage der Predigt längst vergessen.
  • Die Verengung: Wenn ich nur „persönlich“ predigen kann, dann wird mein persönliches Erleben zum Nadelöhr. Die Palette der Themen, die ich in der Bibel finde und die mit den Fragen und Erfahrungen in meiner Gemeinde korrespondiert, ist jedoch viel breiter. Es findet aber unter der Hand auch eine Verengung des Evangeliums auf den persönlichen und intimen Bereich statt. Das wird nie explizit gesagt, aber die soziale und öffentliche Dimension des Glaubens rückt in den Hintergrund.
  • Die Verflachung: Persönliche Geschichten können durchaus eine beachtliche Wirkung haben, aber wenn wir darüber vergessen, die Bezüge zum Ganzen der christlichen Botschaft herauszustellen und neben einem schönen Beispiel auch gute Gründe für ein bestimmtes Handeln zu vermitteln, verpufft sie auch ganz schnell wieder.

Sicher sagen mir nach diesem Post viele, dass ich nicht in der Gefahr stehe, auf der persönlichen Seite vom Pferd zu fallen. Ich finde das auch gar nicht schlimm. Ab und zu passt alles und ich kann tatsächlich persönlicher predigen als sonst. Authentisch ist es aber in jedem Fall.

Share

Authentisch antworten

Die Unterscheidung der verschiedenen Beziehungsräume bei Joseph Myers hat mich die letzten Tage begleitet. Eine ganz praktische Anwendung war, für jeden Raum eine Antwort auf die Frage zu formulieren, wie es mir geht.

Neulich rief der Verkäufer einer Autofirma an und fragte: „Wie geht es Ihnen?“ In Deutschland ist das ungewöhnlich, in den USA ganz normal. Wir kannten uns bis dahin gar nicht und es wird auch nicht Gegenstand unseres Gespräches sein. Ich habe maximal fünf Worte für eine Antwort. Ich bin gesund, wir haben keinen Trauerfall in der Familie, keine Naturkatastrophe in der Stadt, also sage ich „Danke, gut.“ Für den öffentlichen Raum ist das ganz authentisch.

Wenn ich dem Missverständnis erlegen wäre, ich müsse jetzt persönlich antworten (als wäre er mein Freund), dann hätte das für uns beide eine peinliche Situation ergeben. Amerikaner sind nicht oberflächlich, weil sie in einer solchen Situation nur allgemein und in der Regel positiv antworten, sondern ihre Antwort entspricht der Ebene, auf der sich die Beziehung für ihr Empfinden bewegt.

Am Freitag fragte mich dasselbe jemand, den ich mit Namen kannte. Wir treffen uns auf irgendwelchen Sitzungen ein oder zweimal im Jahr – sozialer Raum also. Ich sagte zwei allgemeine Sätze über meine Arbeit, mit der ich im Wesentlichen zufrieden bin. Da liegen unsere Berührungspunkte, insofern war auch das eine ganz authentische Antwort.

Gestern fragte mich ein Freund, wie es mir geht. Wir tranken etwas zusammen und es war Zeit, um länger zu antworten. Also konnte ich ein paar Dinge sagen, über die ich mich freue, und ein paar, die mir Sorgen machen. Einzelheiten dieses Gesprächs haben auf diesem Blog nichts zu suchen, der ist öffentlich zugänglich. Das steht im übrigen auch nicht auf Facebook (trotz der Formulierung „Freunde“) oder Twitter.

Wenn ganz enge Freunde oder meine Frau fragen, wie es mir geht, und wenn der äußere Rahmen dafür stimmt, wir also ungestört sind, nicht in einem Café sitzen, wo man uns am Nebentisch hört, wenn ausreichend Zeit ist, dann kann ich auch mal die ganz tiefen Dinge auspacken, die mir meistens erst dann richtig bewusst werden, wenn ich anfange, sie jemandem zu erzählen. Und da – aber nur da! – gehören sie dann auch hin.

Share

Langsam kommt man weiter

Die Kosten von Mobilität stehen mir aktuell wieder deutlich vor Augen, da liest man Berichte wie diesen auf Zeit Online nochmal ganz anders: Dort ist vom Ende des Ölzeitalters die Rede und davon, dass die Welt es kaum überleben würde, wenn in China statt bisher 25 Autos auf 1000 Einwohner 560 PKW kämen wie bei uns.

Die Regierung verschläft die Verkehrswende, die immer teurer werdendes Öl unweigerlich nach sich ziehen wird, jedoch weitgehend. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, Wohnen und Arbeiten so zu ordnen, dass wir wieder mehr zu Fuß und mit dem Rad erledigen können – Langsamverkehr, sagen die Schweizer dazu.

Tanja Rieckmann schildert passend dazu auf Spiegel Online, wie sogar die Autobauer auf den Trend zur Demobilisierung und wachsender Entfremdung ganzer Käferschichten vom Auto als unverzichtbarem Statussymbol reagieren:

75 Prozent der 20-29-jährigen Befragten besitzen einen Führerschein, aber 45 Prozent fahren nur selten, und 80 Prozent erklären gar, dass man in der Stadt wegen des öffentlichen Verkehrs überhaupt kein Auto brauche. In Japan hat die Einstellung schon einen Namen: „kuruma banare“, übersetzt etwa Demotorisierung. Dort definieren sich junge Leute längst über ihr Smartphone oder Netbook – und nicht mehr übers Auto.

Konzerne wie Peugeot entwickeln daher Car-Sharing-Konzepte mit einem ausbaufähigen Anteil an Elektromobilität. Das geht zwar noch nicht weit genug, aber zur Entthronung des Autos trägt es dennoch bei.

Daran, wie sinnvoll Laufen und Radfahren ist, hat jüngst eine Studie erinnert, die darauf hindeutet, dass ein schwaches Herz auch das dazugehörige Hirn schneller altern lassen könnte. Das Auto so oft wie möglich stehen zu lassen und der drohenden Demenz zu ent-gehen (!!) könnte also buchstäblich smart sein.

Share

Kein Kruzifix und fertig?

Ich hatte mich neulich beklagt, auf welch dürftigem Niveau die Debatte um religiöse Symbole und die Rolle von Glaube und Religion im öffentlichen Leben in weiten Teilen der Medienlandschaft geführt wird. Da darf ich es nun nicht versäumen auf eine rühmliche Ausnahme aufmerksam zu machen. Auf Zeit Online schreibt Jan Ross über neue Koalitionen: Ein jüdischer Jurist aus den USA vertritt das katholische Italien, das seine Kruzifixe behalten möchte, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Klage einer Migrantin, die nicht etwa aus einem islamischen Land stammt, sondern aus dem modernistisch-areligiösen Finnland.

Ross findet erfrischend klare Worte zur aktuellen Islamdebatte zwischen verkapptem westlichem Rassismus und radikalem Islam, um dabei festzustellen:

… für den Umgang mit einer religiösen Herausforderung sind die Europäer des Jahres 2010 nicht gut gerüstet. Dies ist die glaubensfernste Region der Welt, eine kühle Zone der Säkularisierung auf einem Globus, der sonst vor frommen Leidenschaften nur so dampft. Das Christentum, die historische Religion Europas, wird weiter millionenfach gelebt, ist aber in der herrschenden Kultur in eine Außenseiterposition geraten. Es wird keineswegs mehr selbstverständlich als die »eigene« Religion Europas akzeptiert oder gar privilegiert.

Der Islam macht doppelt Angst, weil er erstens fremd ist und zweitens eine Religion. Weil in Europa die Mehrheit kein persönliches Verhältnis zu einer Religion hat, gedeiht der Generalverdacht, dass Glaube generell eine Brutstätte von Vorurteilen, Unterdrückung und Gewalt sei. Da ist es verlockend, sich am französischen Laizismus zu orientieren und Religion jedweder Art ins Private zu verbannen:

Religion wird für ein verunsichertes, verständnisloses Publikum gleichbedeutend mit Fanatismus, der Irrsin scheint jetzt auch unseren Kontinent zu überschwemmen, man will sich dagegen verteidigen und wehren.

Demgegenüber plädiert Ross für einen fairen Pluralismus der Religionen im öffentlichen Raum, und wie er diesen begründet, finde ich überzeugend:

Kluge Politik ist sich bewusst, dass ihr die Herausforderung durch den Glauben und die Gläubigen guttut, als Widerlager gegen Bequemlichkeit und Hybris – das ist das entscheidende Argument für die Präsenz der Religion im öffentlichen Raum. Dass die bestehenden Verhältnisse nicht die einzig vorstellbare Realität sind und der Mensch mit Brot allein nicht satt zu machen ist, daran erinnert jedes Kreuz auf einem Kirchturm in einer europäischen Stadt. Es kann auch ein Halbmond auf einer Moschee sein.

Share

Stresstest für „fromme“ Organisationen!

In der christlichen Szene ist es nicht anders als im Bankenwesen: Viele Organisationen sind da irgendwie miteinander vernetzt, die in der Öffentlichkeit zunehmend undifferenzierter betrachtet werden (vor allem, wenn das Reizwort „evangelikal“ im Spiel ist), oft aber reicht schon der Begriff „Religion“, „Kirche“ oder „Gemeinde“, um stereotype Assoziationsketten über Hardliner, Eiferer, Piusbrüder und Fundamentalisten auszulösen.

Schon längst sitzen alle in einem Boot. Wenn nämlich nur eine Gruppe Mist baut, weil sie Geld veruntreut, Missbrauch duldet oder vertuscht, soziale Vorurteile schürt oder sich dem rechten Rand des politischen Spektrums nähert, dann befinden sich auch die Aktien der anderen an der Börse des gesellschaftlichen Ansehens im freien Fall.

Tatenlos zuzusehen ist da die falsche Taktik. Eigentlich müssten auch hier Stresstests her: Positionen zu gesellschaftlichen Fragen müssten geklärt werden, vor allem da, wo es um eine ambivalente Haltung zu Gewalt und ein autoritäres Verständnis von Macht geht. Aus machen verhängnisvollen Allianzen sollte man sich schleunigst verabschieden, Verlagssortimente müssten kritisch überprüft werden und manche ReferentInnen sollte man lieber nicht mehr einladen.

Und das alles natürlich am liebsten aus aufrichtiger Überzeugung. Aber für alle Besonnenen, die unter den Eskapaden unbelehrbarer Sturköpfe, Schwärmer und Stänkerer zu leiden haben und hatten, wäre selbst zähneknirschende Kooperation schon ein echter Segen – so wie am Finanzmarkt auch.

Wenn nun jemand fragt: „Aber wer soll das entscheiden und nach welchen Kriterien?“ – dann herzlichen Glückwunsch, das ist genau die Diskussion, die wir jetzt brauchen!

Share

„Guter“ Kapitalismus

Einige US-Milliardäre spenden die Hälfte ihres Vermögens. So weit, so gut. Es ist ein riesiges Almosen, das sie geben, aber ein Almosen. Die problematischen Seiten dieser Großzügigkeit hat die Zeit treffend kommentiert. Bevor deutsche Politiker an Appelle in diese Richtung denken, sollten sie das vielleicht lesen.

Noch radikaler ist die Kritik von Slavoj Zizek, die wunderbar untermalt in diesem Video (danke an depone für den Hinweis) nicht nur die Superreichen (das nennt er „alten Kapitalismus“), sondern auch alle, die einen „kulturellen Kapitalismus“ pflegen und hoffen, dass sich so die Probleme der Welt lösen lassen. Den Kaffee bei Starbucks zu trinken macht die Welt nicht automatisch besser.

Er bietet keine Patentrezepte an, aber er rüttelt auf. Wir brauchen mehr als die Wohltätigkeit der Reichen und der fairen Konsumenten, es muss politische Lösungen und ein gründlicheres Umdenken geben, das tatsächlich auch zu besseren Lebensbedingungen für alle führt.

Share

Zutaten gesunder Gemeinschaft (2): Kompetenzen

Um ausgewogene Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich ein gesundes Gemeinschaftsgefühl entwickeln kann, sind ganz unterschiedliche Kompetenzen gefragt. Myers zählt einige auf, ich fasse das kurz zusammen:

  • Im öffentlichen Raum ist die Fähigkeit, auf Fremde zuzugehen und sie einzubeziehen, gefragt. Es geht um gemeinsame Erlebnisse, die Menschen locker verbinden. Das Ganze bleibt einmalig oder episodisch, und den Eventcharakter muss man akzeptieren können wie auch die Spielregeln, nach denen solche Veranstaltungen ablaufen. Humor ist eine wichtige Tugend, der ermöglicht eine angemessene Distanz und signalisiert, dass man keine Bedrohung darstellt. Blickkontakte sind im öffentlichen Raum kurz, Berührungen bleiben in der Regel aus.
  • Im sozialen Raum geht es darum, kleine und möglichst authentische „Schnappschüsse“ von sich selbst mitzuteilen und die Schnappschüsse oder „Blitzlichter“ anderer realistisch einschätzen zu können. Spontane und kurze Interaktion ist gefragt, der klassische Small Talk, und Taktgefühl wird großgeschrieben, ein Gespür für das richtige Maß von Nähe und Distanz. Der Blickkontakt darf etwas länger ausfallen, Berührungen sind bestenfalls kurz und ohne größere Bedeutung. Sich an spielerischen Aktivitäten in der Gruppe zu beteiligen, ist wichtig. Sowohl defensive als auch offensive Verhaltensweisen sind gefragt. Es geht darum, dem anderen ein guter Nachbar bzw. Nächster zu sein.
  • Im persönlichen Raum sollte man Vertraulichkeit wahren können. Hier bekommt man auch Privates erzählt und sollte sich für den anderen auch persönlich interessieren und um die Beziehung kümmern. Oft sind es Gespräche unter vier Augen mit intensiverem Blickkontakt, der jedoch nicht ins Intime wechselt.
  • Im intimen Raum geht es noch mehr darum, wer ich eigentlich bin und nicht mehr so sehr darum, was ich tue. Rollen treten in den Hintergrund, aber ein gutes Gefühl für die eigene Identität mit unseren Eigenarten, Stärken, Schwächen und Grenzen ist wichtig. Blick- und Körperkontakt fallen entsprechend inniger aus als in anderen Beziehungen.

Gruppen in Gemeinden, sagt Myers, sind für die meisten Leute deswegen interessant, weil sie dort Nachbarn und Bekannte suchen. Geht das Gespräch oder der Austausch ins Persönliche, dann wünschen sich manche schon wieder die Knabbersachen und den Plauderton der Ankomm-Phase wieder zurück. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einer beliebig zusammengewürfelten Gruppe von acht bis zwölf Leuten jeder die nötigen Kompetenzen mitbringt, die persönliche Beziehungen erfordern, ist nicht sehr hoch. Wenn sich eine Gruppe jedoch in einem größeren Kontext gefunden hat, klappt es eher. Bei sehr intimen Selbstmitteilungen fühlen sich allerdings viele ganz plötzlich sehr unwohl. Statt also Intimität zu betonen, sollte man den Schwerpunkt auf soziale und persönliche Kontakt setzen und darauf vertrauen, dass sich intime Freundschaften dann von selbst entwickeln. Vieles hängt von zwanglosen, im positiven Sinne „unverbindlichen“ Möglichkeiten zum „Andocken“ ab. Zu schematisch und mit einem zu hohen Anspruch an Verbindlichkeit heranzugehen ist eher hinderlich.

Share

Zutaten gesunder Gemeinschaft (1): Die Mischung macht’s

Joseph Myers nennt in The Search To Belong vier Felder, in denen sich gesundes Gemeinschaftsleben entwickelt. Ich habe sie hier kurz angerissen, die Definitionen haben mit Raum und Distanz unterschiedlichen Ausmaßes zu tun. Es gibt nicht die eine Gestalt von Beziehungen, die immer richtig ist.

Es stimmt auch nicht, dass die unterschiedlichen Formen nur Durchgangsstadien auf dem Weg ins Allerheiligste der Intimität sind. Selbst unsere Beziehung zu Gott kennt diese unterschiedlichen Dimensionen. Wir fühlen uns ihm nicht immer gleich nah und vertraut.

Wichtig ist nun, dass unsere Beziehungen in den vier Feldern im richtigen Verhältnis stehen. Myers nennt das die „Gruppenchemie“ und meint damit nicht primär, das, was wir oft im Sinne von Sympathie verstehen. Wir brauchen sehr viele öffentliche Kontakte, viele soziale (einen größeren Bekanntenkreis), einige persönliche (echte Freundschaften) und wenige intime Beziehungen. Aber selbst mit Freunden und Partnern bewegen wir uns immer wieder im öffentlichen Raum und passen unser Verhalten an die (unausgesprochenen) Spielregeln größerer Gruppen an. Von innen nach außen gedacht verdoppelt sich der Personenkreis also mindestens.

Oft pflegen Gemeinden jedoch nur eine oder zwei bestimmte Tonlagen. Neulich erzählte eine engagierte Katholikin, dass sie seit ihrem Umzug in einer neuen Pfarrgemeinde Anschluss gesucht hat und wie irritiert sie war, als sie Stimmen aus der Kerngemeinde hörte, die etwas abschätzig von „Laufkundschaft“ sprachen. Die Anwesenheit „Fremder“ (und jeder Neue ist natürlich erst einmal fremd) wurde als Störung oder Beeinträchtigung einer Gemeinschaft empfunden, die darauf beruhte, dass jeder jeden kannte – die klassische Definition des Social Space.

Myers nennt auch verschiedene Beispiele, in denen Wortwahl und Sprache für eine subtile Ausgrenzung sorgten, weil der Zugang zur Gemeinde, den jemand gerade gewählt hat, dort als minderwertig abqualifiziert wird. In der Regel betrifft das „Besucher“, „Gäste“ und damit alle, die den Weg noch nicht in eine Kleingruppe oder verbindliche Form von Mitarbeit und Mitgliedschaft gefunden haben. Ohne die Bedeutung dieser Dinge zu relativieren – wir müssen trotzdem lernen, dass auch die sporadischen und distanzierten Formen echte Zugehörigkeit ausdrücken können, nicht nur passives Konsumententum (das gibt es leider auch, und ich bin noch etwas ratlos, wie man mit dieser Spannung fertig wird).

Es hat mich auch an ein anderes Erlebnis erinnert: Leute kamen neu zur Gemeinde dazu und suchten nach dem „inneren Kreis“. Oft kannten sie das von früher und unterstellten, dass es da einen informellen Klüngel gibt, der privilegierte Informationen austauscht und die wichtigen Entscheidungen regelt. Folglich musste man möglichst viele enge Kontakte zu den Leuten in den vermeintlichen oder tatsächlichen Schlüsselpositionen knüpfen. Für mich persönlich bedeutete das, dass immer wieder jemand mit der unausgesprochenen Erwartung auf mich zukam, dass wir Freunde werden. Aber erstens ist meine Kapazität begrenzt und zweitens hat die Erwartung mich so unter Druck gebracht, dass ich mich instinktiv zurückzog, weil ich spürte, dass die Enttäuschung programmiert war. Freundschaften brauchen einen weiteren Raum, um sich zu entwickeln: den zwanglosen Bekanntenkreis. Leute, deren Namen ich kenne, aber die ich nicht zu meinem Geburtstag einlade.

Share