Weisheit der Woche: Die Illusion der goldenen Mitte

Gestern abend kam in einer Gesprächsrunde die Frage nach der „goldenen Mitte“ auf. Natürlich will (und muss) man manche Extreme vermeiden, weil da zum Beispiel die Grenze zum Fanatismus überschritten wird. Aber die Mitte als Ideal taugt auch nicht, da waren wir uns einig.

Heute habe ich Martin Schleskes brandneues Buch Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens in die Hand genommen, mich an der anregenden, bildreichen Sprache gefreut und eine schöne Antwort auf die Frage von gestern gefunden:

Im Bild einer Landschaft gesprochen, geht es gerade nicht um die sprichwörtliche „Gratwanderung“ – jenen scharfen Höhenweg, wo zur Rechten und zur Linken je ein steiler Abgrund droht. Es ist vielmehr das Bild zweier Berggipfel – eben der harmonischen Gegensätze –, die zwischen sich einen weiten Raum aufspannen. Es ist der seelische Lebensraum, den ein Mensch einzunehmen fähig ist. Da ist kein scharfer Grat des Guten, sondern ein Raum der einander zugeordneten, entgegengesetzten, guten und segnenden Kräfte.

Er nennt dann Begriffspaare wie Leidenschaft und Gelassenheit, Treue und Freiheit, die immer beide zum menschlichen Seelenvermögen gehören. Da wo die Spannung verloren geht, schreibt Martin, lieben wir Gott nicht mit ganzer, sondern nur mit halber Seele.

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Fanatismus: einige zwiespältige Argumente

Ein Dauerthema dieses Blogs ist die Frage, wie Christen in einer pluralistischen Gesellschaft dem Evangelium entsprechend leben können. Insofern sind Fanatismus und Toleranz zwei Begriffe, die ständig am Horizont erscheinen. Ob es sich um Kreuze und Kopftücher handelt, Sarrazin und die Integration, islamistischen Terror und westliche Reaktionen, Ökumene, Umgang mit Homosexualität und vieles mehr.

Hier vernünftige Grenzen zu ziehen und Unterscheidungen zu treffen ist wichtig – und folgenreich. Hin und wieder benutzen wohlmeinende Zeitgenossen dabei hochbrisante Argumentationsmuster. Vielleicht kann das auch gar nicht ausbleiben, wenn man sich auf dieses zerklüftete Terrain begibt. Trotzdem ist es gut, wenn man das Risiko wenigstens ahnt.

Wenn ich also im Folgenden ein paar Stichworte aus Hubert Schleicherts Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren aufgreife, dann kann man das im Blick auf christlichen Fundamentalismus hören (den gibt es seltener in einer echt militanten, häufiger in einer dogmatischen Variante, die allerdings auch handfeste politische Konsequenzen hat), man kann es aber auch im Blick auf islamische Hardliner, dogmatischen Atheismus wie Christopher Hitchens oder, um einmal ein ganz anderes Beispiel zu wählen, auch mal im Blick auf die Diskussion, wie eine Demokratie mit Neonazis und anderen Verfassungsfeinden umgehen soll.

Keines dieser Argumente, sagt Schleichert, ist in sich rundweg falsch oder kategorisch abzulehnen. Er exerziert es zudem am Beispiel von Calvin und Augustinus vor, nicht weil die besonders böse Menschen waren, sondern weil es lange genug her ist, so dass niemand sich sofort auf den Schlips getreten fühlen muss.

Da ist zunächst das Gefährdungsargument: der Häretiker (oder Abtrünnige/Andersdenkende) wendet sich gegen die Wahrheit, die ihm bereits klar vor Augen stand. Dass das größeren Anstoß erregt, als wenn jemand den Glauben (egal an was genau) schlicht ignoriert oder missversteht, liegt auf der Hand. Es stellt, so Schleichert, „die innere Wirksamkeit der christlichen Doktrin in Frage“ (S. 70). Nur mal so: Nach 1945 Nazi zu sein ist schlimmer als vorher – oder?

Spannend ist in diesem Zusammenhang auch das folgende Zitat aus neuerer Zeit von Karl Rahner – es wäre interessant zu wissen, ob sich kirchliche Sektenbeauftragte heute darauf noch beziehen:

Wer für den unmittelbar tödlichen Ernst einer Entscheidung darüber, ob dieser oder jener Satz wahr ist, keinen Sinn hat, der kann die christliche Einschätzung der Häresie nicht verstehen. […]. Denn hier wird die absolute Wahrheit, die schon in geschichtlich eindeutiger Weise ausgesprochen gegeben war, verloren […].
Das Heidentum […] bedeutet keine Gefahr für den Christen, der sich schlicht als weitergekommen, überlegen […] ansehen kann. Aber all das ist anders beim Häretiker: […] er verlässt das Ziel und gibt dabei vor, es allein zu besitzen. Ihm Gutgläubigkeit zuzubilligen, fällt daher dem Christentum schwerer als dem […] Ungläubigen gegenüber […]. Wie sollte er schuldlos […] das richtige und das gefälschte Christentum nicht auseinanderkennen? Er ist der Gefährlichste: er bekämpft die wirkliche und endgültige Wahrheit.

Es folgt das Hirtenargument, das bei Augustinus klassisch so lautet: Wer seinen Freund in einem Anfall von Fieberwahn auf einen Abgrund zulaufen sähe, würde ihn auch mit allen Mitteln davon abhalten, sich hinunterzustürzen: „Wer einen Tobsüchtigen bindet und einen Schlafsüchtigen aufrüttelt, fällt beiden lästig und liebt doch beide.“ Zugleich muss der verantwortungsvolle Hirte aber noch einen Schritt weitergehen, und darf die Wölfe zum Schutz der Herde nicht schonen.

Repression (lassen wir die Mittel einmal offen) wird gerechtfertigt gegen den Hinweis, dass sie noch lange bzw. an sich kein Umdenken bewirkt, sondern höchstens Heuchelei. Man kann auch an Guantanamo denken, wenn Schleichert hier Beza (er nennt ihn seltsamerweise Bezelius) zitiert mit den Worten aus de haereticis: „Nicht um von ihnen gewaltsam (…) falsche Reue zu erzwingen (werden Häretiker gestraft), sondern damit die Obrigkeit wahrhaft Gott dient (…) und die öffentliche Ordnung, die Lehre und die Sitten bewahrt bleiben.“

Das Gute rechtfertigt für Augustinus auch extreme Mittel: „Die Schläge des Freundes sind besser als die Küsse des Feindes“, das wusste schon Salomo (Spr 27,6). Zwang, der zum Guten dient, ist also etwas ganz anderes als Zwang zum Bösen. Folglich ist Gewalt gegen rechtgläubige Märtyrer qualitativ anders als Gewalt gegen Gotteslästerer. Das würden ein paar Millionen Muslime im Blick auf Kurt Westergaard vielleicht ähnlich sehen. Manche von ihnen verstehen womöglich auch

Toleranz als Ausdruck von Schwäche. Calvin etwa lehnte es ab, dem Beispiel des Gamaliel zu folgen (Apg. 5,34ff), denn dessen Zögern habe nur darauf beruht, dass er zweifelte und daraus die irrige Schlussfolgerung zog, man müsse Gott das Urteil überlassen, so würde sich das Gute von selbst durchsetzen. Manche Polemik gegen „liberale Theologie“ folgt ja derselben Spur: „Wenn die nichts mehr glauben, brauchen sie auch nichts zu verteidigen.“

Beliebt ist auch die Kriminalisierung. Dann wird der Andersdenkende zum Gotteslästerer, seine Theologie zur Blasphemie, er wird als Klassenfeind, Spion oder Kollaborateur verdächtigt. Der Homosexuelle wird zum wahrscheinlichen Kinderschänder, der Loveparade-Besucher zum schamlosen Lüstling, der Nazi per se als so dumm, zurückgeblieben oder geisteskrank hingestellt, dass man ihn zum Schutz der Allgemeinheit wohl doch besser wegsperren sollte. Nur um nicht falsch verstanden zu werden: Bei Neonazis und ihren Organisationen kommen wir tatsächlich kaum umhin, zu fragen, wo die Grenze zur kriminellen Vereinigung überschritten wird. Nur liegt die Dämonisierung anderer auch nicht weit von der Kriminalisierung weg, und die gibt es im frommen Spektrum viel häufiger.

Ein anderer Aspekt sind Denk- und Zweifelsverbote. Ob der Begriff in der Sarrazin-Debatte angebracht war, darüber kann man streiten. Calvins Opus gegen die Irrlehrer schließt mit einer Verwünschung ihrer „viehischen Spitzfindigkeiten“ – folglich erscheint ihm auch schon der suspekt, der Milde für die Abweichler fordert. In manchen christlichen Kreisen betrifft das Denkverbot die Evolutionslehre oder die Frage, wie eng man die Inspiration der Schrift zu verstehen hat, oder man verbietet den Widerspruch gegen bestimmte kanonische Autoritäten und sanktioniert das entsprechend.

Zum Schluss nennt Schleichert noch das Distanzierungargument: Der Rechtgläubige verfolgt den Häretiker nur aus Pflicht und aus Liebe, und nicht aus Selbstgerechtigkeit oder weil ihm das klammheimlich Spaß macht und Genugtuung verschafft. Solche Leute gibt es auch, aber mit denen hat der Gerechte nichts zu tun. Aktuell könnte man folgern: Es gibt Leute, die wollen muslimische Einwanderer aus dem Land oder aus der Öffentlichkeit bzw. den Sozialkassen verbannen (oder zur Assimilation drängen), weil sie Angst haben, oder neidisch sind, oder einen Sündenbock brauchen. Andere tun das aus tiefer, selbstloser Sorge um das Gemeinwohl.

So weit der spärlich kommentierte Überblick. Über die Folgen mache ich mir noch Gedanken, lese weiter und melde mich dann wieder an dieser Stelle. Wem langweilig ist oder wer das Thema vertiefen möchte, kann hier einen anregenden Artikel von John Milbank über Christentum, Aufklärung und Islam lesen

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Den Eifer nicht erkalten lassen?

Hin und wieder lese ich momentan in Hubert Schleicherts Buch Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. Um exemplarisch zu zeigen, was aus einem Prinzip wie „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ oder dem Einsatz für die Wahrheit (bzw. die Ehre Gottes, die Partei, das Proletariat) folgen kann, zitiert Schleichert den Genfer Reformator Calvin:

Jeder, der die Ansicht unterstützt, man tue Häretikern und Gotteslästerern durch eine Bestrafung Unrecht, macht sich bewusst mitschuldig und zum Komplizen desselben Verbrechens. Man komme mir nicht mit irdischen Autoritäten – es ist Gott, der hier spricht, und man sieht klar, was Er in seiner Kirche bis ans Ende der Welt bewahrt haben will.

Nicht ohne Grund schlägt Er alle menschlichen Gefühle nieder, von denen gewöhnlich das Herz erweicht wird; nicht ohne Grund verjagt Er die Liebe des Vaters zu seinen Kindern und alle Freundschaft zwischen Brüdern und unseren Nächsten; (nicht ohne Grund) entzieht Er die Ehemänner den vielleicht milde stimmenden Schmeicheleien ihrer Frauen; mit einem Wort: (nicht ohne Grund) beraubt Er die Menschen quasi ihrer Natur.

(Nämlich:) Damit nichts ihren Eifer erkalten lasse. Warum fordert Er diese extreme Härte und Unnachgiebigkeit, wenn nicht, um zu zeigen, dass man Ihm nicht die schuldige Ehre erweist, wenn man nicht Seinen Dienst wichtiger nimmt als jede menschliche Rücksicht, und weder Verwandtschaft noch Blut noch sonst irgend etwas schont; und dass man jegliche Menschlichkeit zu vergessen hat, wenn es darum geht, für Seinen Ruhm zu kämpfen?

Schleichert denkt nun nicht, dass Christen im 21. Jahrhundert noch so denken und argumentieren, aber er hält die Geisteshaltung, die sich hier ausspricht, für beispielhaft, wenn es um ideologischen und religiösen Fanatismus geht. Zum Glück ist das 500 Jahre her. Calvin stand damals auch keineswegs allein mit dieser Ansicht. Und trotzdem läuft es mir zumindest noch etwas kalt den Rücken hinunter.

Falls jemand beim Lesen auf diesem Blog bisher der Meinung war, das ich auf manche Argumentationsmuster recht empfindlich reagiere – vielleicht versteht man es vor diesem Hintergrund besser. Zum Beispiel dann, wenn jemand sagt, der höchste Ausdruck von Liebe sei es, einen anderen Menschen mit der vollen Wahrheit zu konfrontieren. Ich verstehe, was da auch gemeint sein könnte, aber es riecht mir zu sehr nach Fanatismus, wenn da die Wahrheit am Ende doch die Liebe absorbiert. In der Frage der Wahrheit kann ich irren, in der Liebe kaum. Es heißt eben nicht von ungefähr: Glaube, Liebe, Hoffnung – und die Liebe ist die größte unter ihnen.

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Gut gefragt

Diese Woche hatte ich ein Interview über unsere Gemeinde zu bestehen. Eine Mitarbeiterin schreibt an einer Studienarbeit. Wir saßen deutlich länger als geplant zusammen, auch deshalb, weil es so schön war. Ich musste zwar meinen ganzen Grips zusammenkratzen, um kurze und hoffentlich bündige Antworten auf Fragen nach Geschichte und Charakter der Gemeinde, den wichtigsten Schwerpunkten, Überzeugungen und Herausforderungen zu geben. Aber am Ende saßen wir beide ganz glücklich und bewegt da.

Eigentlich hätten wir es mitschneiden sollen. Gar nicht unbedingt für andere – es hat vor allem mich selbst beflügelt und motiviert. Ich dachte mir dann, eigentlich müsste ich das öfter machen. Die Fragen haben meine Aufmerksamkeit auf die guten und wesentlichen Dinge gelenkt. Vielleicht diskutieren wir manche Details und Probleme zu isoliert vom Ganzen und vielleicht leidet gelegentlich auch die Motivation darunter?

Vor zwei Wochen sagte ein katholischer Priester bei einem Hochzeitskaffee zu mir, bevor er zu drei weiteren Terminen an diesem Tag aufbrach: „Wir haben doch den schönsten Beruf der Welt“. Seltsam, dass ich mich mich immer wieder mal daran erinnern lassen muss. Aber gut, dass es passiert!

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Bußpredigt ohne Absolution

Gestern abend habe ich Hagen Rether hier in Erlangen gehört. Respekt vor der Leistung, knapp drei Stunden lang vor vollem Haus auf einem Drehsessel einen Monolog zu halten! Ein paar Besucher dachten wohl zur Pause, es sei schon Schluss. Im zweiten Abschnitt waren die Plätze links von mir leer.

Vielleicht hat Rether aber manchen nicht nur mit der Dauer der Vorstellung überfordert. Nach ein paar Witzchen über seine Heimatstadt Essen („Wer aus Essen kommt, dem gefällts überall“) und ein paar Erlangen-Siemens-Klischees ging es los mit Kopftuch und Integration. Relativ ernst plädierte er dafür, Kopftücher nicht nur als Zeichen der Unterdrückung zu betrachten. Lacher (eine Dame drei Reihen vor mir ganz besonders schrill) warf in dieser Phase nur die gelegentliche Erwähnung eines gewissen „Sarrasani“ ab. Na gut. Doch als Rether sich an genereller Religionskritik – namentlich Papst, pädophile Priester, Reinkarnation und Dalai Lama – versucht, da tobt der Saal bei jeder noch so plumpen Pointe. Man brauche keine Religion, so Rether. Nett sein reiche völlig, und wie das geht, das wisse schließlich jeder. Konkret: Ethik verbindlich für alle in der Schule, neutrale Religionskunde. Gott habe Humor, der habe schließlich Meerschweinchen erfunden, sagt Rether und mümmelt ins gluchsende Publikum.

Zugleich fällt auf, dass Rether den Islam bei der Religionskritik ausklammert (das Judentum scheint eh tabu). Fürchtet er, von der immer populärer werdenden „Islamkritik“ vereinnahmt zu werden oder gehen Christen und Buddhisten bloß mit Spöttern und groben Karikaturisten ihrer Glaubensinhalte und -gemeinschaften weniger rabiat um? In der ersten Runde bleibt vieles irgendwie schwammig. Die Politiker- und Medienschelte wirkt eher willkürlich. Einerseits versucht er, Lanzen zu brechen für Kachelmann, der „medial hingerichtet“ wurde, und (mehrfach) für Oskar Lafontaine, der allzu oft nur die richtigen Dinge zur falschen Zeit gesagt habe. Fast schon Mitleid erntet Guido Westerwelle, bissige Kritik an der Grenze der Fairness für Schäuble, Merkel dagegen ist aus der Schusslinie. Und irgendwie kommen wir alle immer wieder mal vor, die wir diesen Wahnsinn mitmachen. Joseph Ackermann wird als Blitzableiter des kollektiven Zorns dargestellt und langsam frage ich mich, warum bloß der Papst nicht ebenso in die Kategorie „Presseopfer“ fällt. Vielleicht einfach deshalb, weil Witze auf Kosten alter Männer und klerikaler Pappkameraden zum Anheizen einfach zu gut funktionieren?

Der erste Teil schließt mit einer Parodie auf Grönemeyers „Männer“. Wer frage, wann ein Mann ein Mann sei, sagt Rether, der habe wohl nichts zu tun. Im zweiten Abschnitt wird Rether zielgenauer, die Gags auf Kosten anderer seltener. Er wirft einen Blick auf die verdrängten Schattenseiten der Gesellschaft und unsere misslungenen Versuche, den geschenkten Wohlstand zu sichern. Es geht um Bildung, Energieversorgung, Integration, die fragwürdige Logik legaler und illegaler Drogen, deutsche Waffenexporte und Kriege, Energiesparlampen und Urlaubsflüge. Die Berpredigt und die zehn Gebote kommen ins Spiel – ich staune. Zwischendurch ein paar Akkorde Keith Jarrett mit demonstrativem Geseufze – den Gag hat nicht jeder kapiert, fürchte ich. Gegen Ende ein – nur zum Teil ironisches – Gebet, das in eine sarkastische Vaterunser-Persiflage mündet, die nicht etwa den christlichen Gott, sondern die heiligen Kühe der Konsumgesellschaft vorführt.

Etwas schwindlig ob der vielen und manchmal auch wirklich überraschenden Perspektivwechseln und müder nach dem verbalen Dauerbeschuss verlasse ich den Saal. Im Grunde ist Rether ein moderner Bußprediger. Und er klingt vom Akzent her ja schon ein bisschen nach Ulrich Parzany. Vergebung, so sagte er beim anfänglichen Rundumschlag gegen Religion, sei unnötig. Folglich geht das Publikum des Moralisten auch gescholten, aber ohne Absolution nach Hause. Ich frage mich auf dem Heimweg: Denkt nun tatsächlich jemand um, oder merken die meisten sich schlicht ihre Lieblingswitze und trösten sich damit, als Teilnehmer dieses Rituals kollektiver Zerknirschung zu den ernsthaften, kritischen Zeitgenossen zu gehören, wenn sie am nächsten Morgen in den alltäglichen Wahnsinn eintauchen?Könnte das allmählich angestrengte Absitzen der drei Stunden in stickiger Luft sowie die 17,50 € für die Karte nicht auch wie eine Art Ablass wirken?

Freilich wäre auch Vergebung missverstanden, wenn sie Sinneswandel und Verhaltensänderung nicht fördert, sondern verhindert. Trotzdem frage ich mich: Bringt das Kabarett die zweifellos beabsichtigte Katharsis, oder bleiben die ertappten Lacher dem überführten Publikum zwar nicht im Halse stecken, aber in vagen Vorsätzen, die man im Kreise Gleichgesinnter noch hegt, beim ersten Widerstand aber aufgibt? Hat Gott vielleicht am Ende doch noch mehr drauf als nett sein und Meerschweinchen – und kann man das Evangelium von einem Gott, der auf seine Privilegien pfeift und sich selbst verschenkt, so leichtfertig verzichten?

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Scharfe Kontraste

Manchmal kommt die Bibel ja ziemlich schwarz-weiß daher. Das Johannesevangelium etwa liebt die Kontraste: Licht/Finsternis, Wahrheit/Lüge und so weiter. In unserer alltäglichen Wirklichkeit ist es allerdings oft viel weniger klar. Daher tun wir uns auch oft schwer mit Zeitgenossen, die nur über eine solch binäre Wahrnehmung verfügen und alles auf ein allzu simples Entweder/Oder reduzieren.

Vielleicht wird ja so ein Schuh draus: Wer eine kompakte Digitalkamera hat, weiß vermutlich, dass der Autofokus auf Kontraste reagiert. Bei kontrastarmen Motiven ohne harte Kanten und Schattenwürfe versagt er daher hin und wieder. Kann es sein, dass solche Kontraste uns helfen, Szenen und Situationen richtig zu fokussieren? Und zwar nicht, um die Feinheiten, Farbnuancen und Schattierungen dann zu ignorieren, sondern um sie besser zu sehen?

Das würde dann aber auch heißen, dass man beim Kontrast nicht stehenbleiben darf. Zuspitzungen können manchmal helfen, aber eben in Maßen.

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Mach ’nen Kult draus

Vielleicht – nein, hoffentlich! – gibt es diese Diskussion ja nur in den USA. Ein Mädchen und seine Mutter klagen gegen eine Schule in North Carolina, die ein Nasenpiercing verbietet. Das Verbot ist seltsam genug. Richtig schräg wird es, weil sie es unter Verweis auf die Religionsfreiheit aushebeln wollen. Die beiden gehören zur „Church of Body Modification“ (die überzeugt mit sehr appetitlichen Fotos auf ihrer Website).

Also ich warte ja nur darauf, dass bei der geltenden Rechtslage nach Raucherclubs nun überall Qualmkirchen aufmachen…

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Dicke Freunde

Nicholas Christakis hat sich mit der Wirkung von Beziehungsnetzen beschäftigt und dabei eine Reihe von interessanten Entdeckungen gemacht. Sein Ausgangspunkt war der „Widower-Effect“, von da aus geht es weiter zu der Frage, ob Dickleibigkeit „ansteckend“ ist. Sie ist es: Wer stark übergewichtige Freunde hat, wird mit 45% größerer Wahrscheinlichkeit selbst ähnlichen Umfang erreichen. Und zwar auch dann, wenn es nur die Freunde der Freunde bzw. die Freunde der Freunde der Freunde betrifft (das fiel mir neulich in Paris auf: Man sieht viel weniger Dicke dort als bei uns). Zum einen ist es das Verhalten, das abfärbt, Essgewohnheiten zum Beispiel. Zum anderen verändert sich der Maßstab, das innere Bild einer „Normalfigur“, man gewöhnt sich an den Anblick.

Manches, was Christakis hier sagt, hat mich an die IGW-Tagung mit Steve Timmis erinnert, der die Bedeutung von gelebter Gemeinschaft für die Identität des einzelnen Christen so stark betont hat: Das Beziehungsnetz ist wie ein lebendes Wesen. Es hat ein Gedächtnis, es pflegt dauerhaft bestimmte Gewohnheiten und Gefühlslagen. Vielleicht ist der kollektive Faktor bei Emotionen bisher weitgehend übersehen worden, sagt Christakis. Glückliche und unglückliche Menschen bilden Cluster in Beziehungsnetzen und wie Dicke und Normalgewichtige trennen sie drei Bindeglieder („three degrees of separation“). Die glücklichen Leute findet man eher im Zentrum, die Unglücklichen am Rand des Netzes., dazwischen die Neutralen.

Menschliches Verhalten wird also nicht nur vom angeborenen Temperament bestimmt, sondern auch von der sozialen Umgebung. Und unterschiedliche Verknüpfungsmuster prägen die Reaktionen ganzer Gruppen von Menschen bzw. die Art und Intensität, wie Menschen sich gegenseitig beeinflussen wie ein Bienen- oder Vogelschwarm.

Solche vernetzten „Superorganismen“ existieren, weil sie unser Leben positiv beeinflussen (also einen „Nutzen“ haben). Positive Einflüsse können sich umgekehrt auch nur über Beziehungsnetze verbreiten. So oder so geht es um „das Gute“, daher lohnt es sich, kräftig in Freundschaften und Beziehungen zu investieren.

Christen haben oft die Tendenz gehabt, sich aus diesen Netzen zurückzuziehen, um nicht mit Schlechtem angesteckt zu werden. Jesus hat das Gegenteil gelebt: Er hat sich auf viele unterschiedliche Menschen eingelassen, weil er das Gute, das er brachte, für stärker hielt. Auch in seinen Jüngern, wie das Wort vom Salz und Licht zeigt, auch wenn die alles andere als vollkommen waren. Mittelbar beeinflussen wir sogar Menschen, zu denen wir gar keinen direkten Kontakt haben. Das machen wir uns viel zu selten bewusst, vermute ich.

(Danke an Jason Clark für den Hinweis!)

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Gott lügt nicht. Oder…?

In dem großartigen Buch Texts Under Negotiation: Bible and Postmodern Imagination von Walter Brueggemann bin ich auf eine interessante Geschichte gestoßen: Gott schickt Samuel zu Isai, um einen seiner Söhne zum König zu salben (1. Samuel 16). Weil Samuel den Zorn des Noch-Königs Saul fürchtet, wenn die Sache auffliegt, bekommt er gesagt, dass er zur Tarnung so tun solle, als wolle er ein Opfer bringen.

Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht. David wird gesalbt, aber das Opfer findet nicht statt. Samuel verlässt Bethlehem sofort und kehrt nach Rama zurück. Neben vielen anderen interessanten Aspekten, die er erläutert, schreibt Brueggeman: Unsere Überzeugung, dass Gott nie lügt, geht hier den Bach hinunter. Und er fügt verschmitzt hinzu: Gott lügt natürlich nicht immer, sondern nur, wenn es wirklich um etwas geht.

Die Bibel kann einen manchmal ganz schön durcheinander bringen.

(Bevor jetzt jemand Titus 1,2 zitiert und meint, die Sache sei damit erledigt: Bitte Joh 7,8ff lesen und nochmal nachdenken)

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Appetit auf Essen

Für alle, denen die Reise in den Süden bisher zu weit und teuer war, gibt es jetzt keine Ausrede mehr: Das diesjährige Emergent Forum findet in Essen statt.

Wer mehr wissen will oder sich anmelden, klickt einfach auf das Bild unten.

Emergent Forum 2010

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Mission und Qualität – geht das?

Vorgestern war ich zu einem Treffen eingeladen, wo wir versucht haben, diese beiden Begriffe zusammenzubringen. Vielleicht war die Runde ein bisschen zu groß, die das Zentrum Mission in der Region da zusammengebracht hatte. Während die offizielle Ergebnissicherung noch aussteht, habe ich beschlossen, hier mal mein persönliches Fazit in ein paar unausgegorenen Thesen festzuhalten:

1. Wesen und Ziel von Mission

Zum Missionsbegriff ist viel geschrieben worden. Ich bevorzuge ein weites, ganzheitliches Verständnis. Mission ist mehr als nur die Predigt des Evangeliums, sondern auch der Dienst am Nächsten und das Eintreten für soziale und ökologische Gerechtigkeit.

Aber selbst in der weitesten Fassung muss man gleichzeitig festhalten: Mission ist nur das, wo sich Kirche und Christen nicht mit sich selbst beschäftigen. Das ist im großkirchlichen Kontext schwer zu definieren, wo Kirchenmitgliedschaft und Getauftsein sich mit sehr unterschiedlicher Nähe und Distanz zum Glauben verbinden.

Mission hat ihr Ziel erst dann wirklich erreicht, wenn Menschen aktiv an dieser Bewegung teilnehmen, die Gottes liebendes und rettendes Handeln an der Welt beschreibt (richtig verstanden führen Taufe und/oder die Erfahrung von „Bekehrung“ zu diesem Ziel). Wollte man über Erfolgskriterien oder Ergebnisqualität nachdenken, so müsste man ansetzen bei Fragen wie:

  • hilft sie Menschen, zum Glauben zu finden und diesen auch selbst wieder weiterzugeben?
  • nehmen die nach außen gerichteten Aktivitäten in einer Gemeinde zu?
  • finden wir Partner in anderen Gruppen (und Glaubensgemeinschaften), mit denen wir soziale und ökologische Anliegen gemeinsam verfolgen?
  • wird unsere Stimme in der Gesellschaft wahrgenommen?

2. Charakter von Mission

Hier geht es, das habe ich gestern gelernt, um die Prozessqualität. Ich hatte vorgeschlagen, sich am biblischen Ethos der Gastfreundschaft zu orientieren. Ganz knapp formuliert hat „gute Mission“ für mich fünf Aspekte; ich versuche, weitgehend positiv zu formulieren:

  1. Die Bereitschaft, selbst zum Fremden zu werden – sich durch die Identifikation mit Christus in eine Distanz zur eigenen (auch und gerade kirchlichen) Kultur führen zu lassen, starre Identitäten erschüttern zu lassen und deren Grenzen zu überschreiten um des Nächsten willen.
  2. Auf den Nächsten, der mir als Fremder begegnet, zuzugehen und ihn mit seinen Bedürfnissen wie mit seinem Reichtum sehen zu lernen
  3. Einen Freiraum (Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit) zu schaffen, der frei ist von Erwartungs- und Anpassungsdruck (bzw. von allen Versuchen, andere zu beeindrucken, zu manipulieren oder zu übertrumpfen)
  4. Eine „freundliche Leere“ (H. Nouwen) zu pflegen, indem ich mich selbst zurücknehme und ein echter, ergebnisoffener Dialog und gegenseitiges Lernen möglich wird
  5. das freimütige, fröhliche und unapologetische Bekenntnis des eigenen Glaubens an den dreieinigen Gott bzw. der eigenen Glaubensgeschichte mit Gott im Rahmen der großen Geschichte Gottes mit der Welt.

Hier wird „Qualitätssicherung“ vor allem darin bestehen, auf die Rückmeldungen des jeweiligen Gegenübers zu hören. Darüber hinaus kann man sich selbst fragen (und das am besten von Jahr zu Jahr und dann die Antworten vergleichen):

  • Wo bewegen wir uns als einzelne und gemeinsam über das gewohnte und vertraute Terrain hinaus?
  • Wo gelingt es uns, Distanz zu überwinden und Vorbehalte bei uns selbst und anderen abzubauen?
  • Wie klar ist unsere Vorstellung von unserem Beitrag zum Wohl des Gemeinwesens?
  • Wo lassen wir die Beschäftigung mit eigenen Bedürfnissen und dem eigenen Erfolg bleiben um des anderen willen und pflegen Kontakte?
  • Welche Spannungen nehmen wir dafür in Kauf?
  • Wie kultivieren wir Achtsamkeit und Gelassenheit?
  • Wie ist es um unsere Sprachfähigkeit im Blick auf den Glauben bestellt und welche Formen (Belehrung, Appell, Apologie, Bekenntnis/Zeugnis) bevorzugen wir dabei?

Oft sind hier nur relative Bewertungen möglich: Mehr/weniger (bzw. besser/schlechter) als vor einem Jahr, vor drei Jahren, vor zehn. Die jedoch können enorm sinnvoll und hilfreich sein. Man könnte schließlich auch noch die Frage der Strukturqualität aufwerfen: Aus- und Weiterbildung des Personals, Ausstattung mit Mitteln, angewandte Methoden.

Ich gestehe, dass ich das immer noch mit einem mulmigen Gefühl niederschreibe. Die Ökonomisierung so vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens droht auch in den Kirchen großen Schaden anzurichten, wenn man nicht sehr umsichtig mit den Begriffen und Methoden des Managements verfährt. Ich rede zum Beispiel viel lieber von „Identität“ als „Marke“ zu sagen. In dieser Hinsicht musste ich mir beim Gespräch öfters auf die Zunge beißen. Die meisten Leute, die ich kenne, sind heilfroh, wenn in ihrer Gemeinde nicht auch noch die ganze Zeit von Effizienzsteigerungen und ähnlichen Dingen die Rede ist.

Kleiner Nachtrag: Mission ist eine Art Liebesaffäre. Kein Wunder, wenn man Hemmungen verspürt, in Herzensangelegenheiten Qualitätskriterien anzulegen.

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Tabubrecher aller Länder…

Der Beifall für Thilo Sarrazin unter Evangelikalen hat mich in den letzten Wochen doch beunruhigt. Vielleicht ging es dabei nicht einmal um die Sache, sondern um das (meiner Meinung nach nicht unbedingt berechtigte) Empfinden, dass hier jemand von einer linken Medienmeute gelyncht wird, weil er „die Wahrheit“ gesagt und auf „Fakten“ verwiesen hat, die von allen anderen angeblich tabuisiert und totgeschwiegen wird. Solche Erfahrungen kamen vielen vertraut vor, Eva Herman hatte in mancher Augen für ihre Thesen zu Kind und Familie schließlich ähnliches erleiden müssen, in einschlägigen Kommentaren dazu klang auch schon einer gewisse Christenverfolgungs-Rhetorik an.

Unbehagen gegenüber dem Islam kommt dann noch dazu, wie auch eine gewisse Bitterkeit über Kritik und Häme, die man in der Öffentlichkeit für bestimmte Moralvorstellungen einstecken musste. Nun wagt jemand mit tatkräftiger Unterstützung von Bild („Jede Wahrheit braucht einen Mutigen…“) einen scheinbar ähnlichen „Tabubruch“ und erhält dafür große Zustimmung. Dreht sich der Wind? Und wäre das nicht eine herrliche Gelegenheit, dem eigenen Frust auch einmal Luft zu machen, indem man sich mit Sarrazin solidarisiert? Zumal einem selbst doch diese Solidarität versagt geblieben ist…?

Nun, dasselbe haben anscheinend auch Erika Steinbach und der Bund der Vertriebenen empfunden und eine Spur zu deutlich gesagt, was sie immer schon dachten, aber nie klar zu sagen wagten, schließlich war es (aus guten Gründen) auch ein „Tabu“, etwa dass Polen den zweiten Weltkrieg im Grunde mit verschuldet haben soll. Steinbach war (zu Recht, wie sich nun deutlich zeigt) zu einer echten Belastung des deutsch-polnischen Dialogs und die Stiftung „Flucht – Vertreibung – Versöhnung“ geworden, was wiederum polnischen Scharfmachern in die Hände spielte, die es natürlich auch gibt. Steinbach & Co haben sich damit als Revisionisten geoutet.

Für mich bedeutet das: Wir sollten mit Opfer- und Märtyrerposen oder Begriffen wie „Schauprozess“ sehr, sehr sparsam umgehen. In der Geschichte der Kirche sind viele Unterdrückte nur allzu schnell zu Unterdrückern geworden. Sarrazin hat nach allem, was man inzwischen bei Freunden und Gegnern lesen kann, ja nichts wirklich Neues gesagt, sondern es war der Ton und der grob gestrickte publizistische Auftakt seiner Veröffentlichung, sowie das Nachlegen mit kruden Argumenten, das ihm den verdienten Gegenwind einbrachte (und ihn zum zweifelhaften „Volkshelden“ machte).

Zuletzt: Tabubrecher wie die Knalltüte Terry Jones will ja dann doch niemand wirklich haben. Eine christliche Subkultur, die ihre Verfolgungskomplexe hätschelt und trotzig mit Tabubrüchen und politischen Unkorrektheiten kokettiert, droht solchen Wahnsinn jedoch auf Dauer zu begünstigen.

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