Barth missional (5): Inkarnation und Gemeinde

Barths nicht enden wollende Bandwurmsätze sind eine schwere Anfechtung für den Leser. Wer sich dennoch die Mühe macht, sie zu entwirrren, der stößt hier auf die Grundlagen einer „Ekklesiologie der Inkarnation“ – und deren direkte Verbindung zur Christologie:

So gewiß ihr Herr Jesus Christus nicht als „logos asarkos“, sondern als das Verbum incarnandum, in seiner konkreten Menschlichkeit und Sichtbarkeit als der Mensch Jesus von Nazareth, von Ewigkeit her erwählt wurde, so gewiß er (1 . Joh. 4, 2) «im Fleisch gekommen» ist, gelebt und gelitten hat und gestorben ist, so gewiß er sein konkret menschliches Wesen auch nicht abgelegt hat, sondern gerade in ihm von den Toten auferstanden, gen Himmel gefahren ist und mit ihm bekleidet zur Rechten Gottes sitzt, so gewiß gerade die Herablassung Gottes ins Fleisch, in die konkrete adamitische Menschheit, keine bedauerliche Minderung, sondern als das Werk seiner Gnade, der Triumph und die Vollendung seiner […] Ehre und Herrlichkeit ist – so gewiß hat er in demselben Jesus Christus auch seine Gemeinde gerade in ihrem Sein nach außen, gerade in ihrer Sichtbarkeit und Weltlichkeit, gerade in ihrer Gleichartigkeit mit allen anderen Völkern erwählt, so gewiß wird auch sie ihrer nicht wieder entkleidet, wird vielmehr auch sie in der Vollendung seiner Wiederkunft gerade in ihrer Sichtbarkeit und Weltlichkeit offenbar und eben so – dann gewiß keinem Mißverständnis mehr ausgesetzt, dann eindeutig leuchtend in der Ganzheit ihres Wesens, des ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott teilhaftig werden. Ist es ihr aber von Ewigkeit her und in Ewigkeit wesentlich, als die Gemeinde Jesu Christi auch ganz nach außen, sichtbar und weltlich, den anderen Menschenvölkern gleichartig zu sein, dann offenbar erst recht in ihrer inzwischen sich ereignenden zeitlichen Geschichte. (KD IV,3, S. 829)

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Barth missional (4): Das eine Reich Gottes

Es bleibt nicht beim Gegenüber von menschlicher Konfusion und göttlicher Vorsehung. Das Evangelium hat glücklicherweise mehr zu sagen, als bloß auf diesen Zwiespalt hinzuweisen, meint Barth:

Denn das ist das offenbare Geheimnis des in Jesus Christus Geschehenen: daß in Ihm der hohe, aber die Welt liebende, den Menschen erwählende und befreiende Gott und die niedrige, aber von Gott geliebte Welt, der von ihm erwählte und befreite Mensch, wohl unterschieden, aber nicht getrennt, nicht Zwei, sondern Einer, Eines sind. In Ihm ist der Bund zwischen Gott und dem Menschen nicht nur der von Gott gehaltene, vom Menschen aber gebrochene, sondern der von beiden zugleich gehaltene und so der erfüllte Bund. In Ihm klaffen nicht zwei Reiche auseinander: in Ihm ist das eine Reich Gottes Wirklichkeit. Das ist das Neue, das die christliche Gemeinde nicht irgendwo gesucht und gefunden, geschweige denn in irgendeinem Geistesschwung erfunden hat, von dem sie aber, indem es selbst sich ihr eröffnete, ihrerseits gefunden wurde, indem das Wort, der Ruf Jesu Christi an sie erging und von ihr vernommen wurde.

KD IV,3 S. 815

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Barth missional (3): Konfuse Welt

Barth betrachtet nach der Geschichte Israels nun die Weltgeschichte unter der Dialektik von menschlicher Verwirrung und göttlicher Vorsehung – hominum confusio et dei providentia. In dieser Perspektive lassen sich Realismus und Hoffnung zusammenhalten und ein Rückzug der Christen aus der feindliche Welt in eine fromme Nische vermeiden:

Der Teufel in Ehren: aber der Teufel kann im Großen wie im Kleinen nur da los sein, wo der Mensch los, nämlich gottlos und bruderlos existiert. Die gottlosen und bruderlosen Menschen machen die Verwirrung und damit eine nun allerdings weithin verteufelt aussehende Weltgeschichte. Der Ausdruck hominum confusione ist endlich auch darin gerade theologisch zutreffend, daß er nicht zu wenig, aber auch nicht zuviel sagt. Confusio bezeichnet zweifellos eine tief bedenkliche, eine ganze üble Sache. Confusio eröffnet den Ausblick auf ein Meer von Torheit und Bosheit, von Betrug und Unrecht, von Blut und Tränen. Confusio spricht aber doch kein schlechthiniges Verwerfungsurteil aus, bezeichnet die Weltgeschichte nicht als eine Nacht, in der alle Katzen grau sind, nicht als ein Irrenhaus, nicht als eine Verbrecherhöhle, nicht als ein Leichenfeld, geschweige denn als ein Inferno, sondern sagt von ihr nur – und das ist ernst und hart genug – daß die Menschen da Verwirrung machen, veranstalten, vollziehen. Und «Verwirrung» impliziert doch auch ein positives Moment. Daß sie unter Gottes Vorsehung geschieht, kann ja auch da drunten nicht bloß theoretische Bedeutung haben. Wo Verwirrung stattfindet, da ist nicht nur ein Element, da müssen mindestens zwei verschiedene im Spiel sein […]:
Auf der einen Seite die gute und ihrer Güte keineswegs beraubte oder sonst verlustig gegangene, auch keineswegs «zerbrochene», sondern herrlich wie am ersten Tag existierende Schöpfung Gottes: der Mensch, der hinsichtlich alles dessen, was ihn zur menschlichen Kreatur macht und als solche auszeichnet – was auch von seinem Tun zu melden sei – nicht schlecht, sondern gut ist […]
Auf der anderen Seite aber (und hier könnte nun ernstlich des Teufels zu gedenken sein): die auf keine ihr von Gott gegebene Möglichkeit begründete, von ihm, dem Schöpfer, nicht gewählte und gewollte, sondern nur eben per nefas existierende Wirklichkeit und Wirksamkeit des Absurden, des Nichtigen. Was ist das? Nichts Anderes als die Verneinung der guten Schöpfung Gottes, die als solche auch von ihm nur eben verneint, ausgeschlossen, verworfen sein kann, die darum auch von seinem Geschöpf, vom Menschen im Mittelpunkt, in der Schlüsselstellung seiner Geschöpfwelt, lebte er mit Gott, seinem Bruder und sich selbst im Frieden, nur eben verneint, ausgeschlossen, verworfen werden könnte und dürfte!

(KD IV,3 S. 796f.).

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Barth missional (2)

Weiter geht es mit einem Kommentar aus KD IV,3 über die Beziehung zwischen dem Volk Gottes und den Völkern der Welt in alttestamentlicher Perspektive:

Entscheidend ist vielmehr auch für die Weltvölker dies, was derselbe Gott auch für sie ist: daß nämlich auch sie gerade in ihrer so kritischen Funktion im Verhältnis zu seinem Volk nicht etwa souverän oder zufällig oder schicksalshaft, sondern ihnen selbst verborgen, aber höchst real, von ihm geführt und regiert, nach seinem Willen von ihm dazu eingesetzt werden.

Er macht seinem Volk Raum in ihrer Mitte. Er führt seine Kriege und er gibt ihm Frieden. Er stellt es durch sie als seine Nachbarn, durch ihre Art und Unart, auf die Probe. Er läßt es ihre Vitalität und Macht erfahren, um es um so zwingender an ihn selbst zu erinnern und ihm selbst zu verpflichten. Er läßt es jetzt über sie siegen und triumphieren, jetzt ihnen unterliegen und zur Beute werden. Er wirkt und redet in der Schwachheit und in der Stärke dieser Völker ihm gegenüber. Es geht auch in dem, was sie tun und zu leiden haben, um seine Sache.

Er führt den Pharao, und er die Potentaten von Assur, Babylon und Persien auf den Plan. Er braucht sie zu Vollstreckern seiner Gerichte, aber wie jenen Cyrus auch als Werkzeuge seiner Treue und Güte. Er setzt ihrem Tun aber auch seine Grenzen. Er läßt auch ihre Reiche steigen, stehen und fallen. Er ist auch ihr Richter und handelt auch an ihnen als solcher. Er zerstört jeden auch nur auftauchenden Schein einer Konkurrenz ihres Wollens, Könnens und Vollbringens mit dem seinigen. Er und in Wahrheit er allein ist auch in ihnen groß. (S. 791)

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Barth missional (1)

Im vierten Band der Kirchlichen Dogmatik schlug Barth die Brücke vom „prophetischen Amt“ Christi zur christlichen Gemeinde, die in seine Sendung einbezogen wird und betrat damit theologisches Neuland. Ich werde in lockerer Abfolge hier Auszüge aus dem §72 („Der Heilige Geist und die Sendung der Gemeinde“) posten, um zu sehen, was sie für die missionale Diskussion abwerfen. Hier der Einstieg zum Thema „Berufung“:

Des Menschen Berufung ist […] seine Berufung zum Christen. Eben die Berufung zum Christen ist aber, […) des Menschen Berufung in die Christenheit und also in die Kirche, d. h. in die lebendige Gemeinde des lebendigen Herrn Jesus Christus. Man wird nicht zuerst zur Kirche und dann, in der Kirche und durch sie, wohl auch noch zum Christen berufen. Man kann aber auch nicht Christ werden, um dann wohl nachträglich auch zur Kirche berufen (möglicherweise auch nicht berufen) zu werden. Wie die christliche Existenz kein bloßes Komplement der kirchlichen ist, so ist die kirchliche auch kein bloßes Komplement der christlichen.

aus: Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV,3, §72 S. 780

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Kind der Verheißung

Seit Jahrhunderten zerbrechen sich Christen die Köpfe (und schlugen sich dieselben gegenseitig machmal auch fast ein), wie man angemessen über Jesus reden kann. Die historischen Formulierung in den Lehre von den zwei Naturen hat dabei in vielfältige Sackgassen geführt. Hauptursache sind die Kategorien, die dort verwendet werden, da sie einer „Ontologie der Substanz“ entnommen sind. Und an dieser Stelle ist es vielleicht auch einmal angemessen, von einem gewissen Gegensatz zwischen griechischem und hebräischem Denken zu sprechen. Letzteres weist eher in die Richtung einer Ontologie der Relation, die wiederum leichter mit neueren Denkansätzen, z.B. auch dem Gedanken der Emergenz als dynamischer Interaktion, ins Gespräch zu bringen ist. Ersteres steht dagegen dem Essentialismus nahe, der die Essenz der Existenz vorordnet oder in der Biologie die Art dem Individuum.

In der neueren Theologie sind diese Kategorien daher wie in den meisten anderen Wissenschaften auch aufgegeben und die Inhalte dessen, das man mit ihrer Hilfe hatte aussagen wollen, wurden und werden in das relationale Koordinatensystem übertragen. Von Jesus als Gott zu sprechen geschieht nun nicht mehr so, dass man ihm Teilhabe an einer abstrakt bestimmbaren göttlichen Natur zuschreibt, sondern auf seine Identifikation mit Gott und Gottes Identifikation mit ihm verweist, in der Einheit und Differenz (im Sinne eines echten „Gegenübers“) vorhanden sind.

Im neuen Testament finden sich nebeneinander mehrere Linien, die diese Identifikation beschreiben: Die Geburtsgeschichten bei Matthäus und Lukas, die Taufe mit dem Empfang des Geistes (Matthäus, Markus und Lukas), die Auferweckung (z.B. Römer 1,3), die wiederum die Erhöhung schon mit umfasst.

Stellt man mal die beliebte Streitfrage nach der Jungfrauengeburt als historisches und biologisches „Faktum“ zurück, dann bleibt die Frage nach dem theologischen Gehalt und der Bedeutung. Wäre ein vermeintliches oder tatsächliches Faktum nämlich ohne heute noch nachvollziehbare und aussagbare Bedeutung, dann lohnt sich der Streit darum auch gar nicht mehr. Immerhin: Muslime glauben auch an die Jungfrauengeburt Jesu, ziehen aber daraus keineswegs dieselben Schlussfolgerungen wie Christen.

Die altkirchliche Theologie musste die Vorstellung eines Halbgottes oder Hybridwesens (bzw. eines natürlich-übernatürlichen „Zwitters“) abwehren und orientierte sich an der (damaligen) Anthropologie: So wie in der Person eines Menschen Leib und (Geist-)Seele vereint sind, so in der Person Christi göttliches und menschliches „Wesen“. Das Risiko bleibt aber, dass sich ein tendenziell unweltliches und (nicht im ethischen Sinne) unmenschliches Jesusbild daraus entwickelt, beziehungsweise dass die Logik „Pneuma statt Sperma“ sich dem Verdacht einer „Leibfeindlichkeit“ aussetzen könnte, die Sexualität grundsätzlich anrüchig findet. Der Dualismus des Leib/Geist Schemas hat in der Geschichte unter anderem ja auch dazu geführt, dass die weiblich verstandenen Materie gegenüber dem männlich konnotierten Geist als minderwertig und unterlegen erscheint.

Geht man zurück auf die nächsten jüdischen Analogien, dann stößt man auf Geschichten, die davon handeln, dass unfruchtbare Frauen Mütter werden. In der Antike galt Unfruchtbarkeit meist als das Problem der Frau, nicht des Mannes. Das Motiv wird in Jes 49,21 auf das am Boden zerstörte Israel ausgeweitet. Relational gedacht ließe sich das im Blick auf Jesus vielleicht so weiterdenken: Gott überbietet, was er bei Isaak, Samuel oder Johannes dem Täufer getan hat in Jesus noch. Bei Matthäus folgt mit dem Kindermord und der Flucht nach Ägypten ja auch noch die Bezugnahme auf Mose, die größte Gestalt des Alten Testaments, die genealogische Linie zu David erwähnen Matthäus wie Lukas (und im Römerbrief auch Paulus). All das zusammen baut ein Beziehungsfeld auf, in dem Jesus zu betrachten ist.

Könnte man es also so sagen: Jesus ist nicht nur ein, sondern das Kind der rettenden Verheißung, die in seiner Person ihrer umfassenden Erfüllung entgegen geht. Er ist darin, dass er sich nicht sich selbst verdankt, Teil unserer geschöpflichen Wirklichkeit und damit nicht weniger menschlich (im Sinne von „unnatürlich“) als wir, sondern vielleicht ja noch mehr. Weil Gottes Verheißung aber unableitbar ist und keiner bestimmten menschlichen Voraussetzungen bedarf, entzieht sich diese Geburt und diese Person auch unseren gängigen biologischen (dazu neigt die „fromme“ Richtung wie das katholische Dogma) und psychologischen (das wäre die Grundtendenz der liberalen Theologie) Aneignungs- und Anknüpfungsversuchen. Jesus ist also weder Super-/Sondermensch noch die Extrapolation eines allgemeinen religiösen Bewusstseins auf eine absolute Stufe oder in Reinform.

Paulu schreibt in 2.Korinther 1,20: „Er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat.“ Als dieses Kind der Verheißung kann man ihn mit dem Evangelisten Johannes auch als das göttliche Wort verstehen.

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Am Puls der Zeit

Die letzten zwei Tage habe ich beim IGW Christologie unterrichtet. In Olten, das ist ein größerer Bahnhof mit angeschlossener Kleinstadt, in deren engen Straßen abends derzeit junge Typen mit Gelfrisur – natürlich unter meinem Zimmerfenster – mit ihren fahrbaren Untersätzen dröhnend eine Art „Need for Speed“ mit echtem Benzin spielen.

Stichwort Krawall: Wir sind in den Kurs eingestiegen, indem wir aus dem Spiegel von vorletzter Woche die Titelstory über Jesus („die rohe Botschaft“ – Frost/Hirsch oder McManus wären begeistert!) gelesen und etwas analysiert haben. Der Autor hat sich unter anderem bei Gerd Theissen und Nick Page schlau gemacht. Wer den jüdischen Kolorit des Jesusbildes bei N.T.Wright kennt, erlebt wenig Überraschungen, aber für andere Leser mag der gar nicht lammfromme Jesus (zwischendurch aktualisierend als „Wutbürger“ bezeichnet) mit nicht nur potenziell gewaltbereiten Anhängern durchaus neu sein.

Dabei erscheint ein Standardmotiv, das wir seit 200 Jahren kennen: Das Jesusbild ist im Laufe der Geschichte kirchlich übermalt worden, nun geht es darum, das Original zu rekonstruieren. Der wiederentdeckte Jesus ist hier diesseitiger und politischer als oft angenommen, er ist jüdischer (was die ersten beiden Begriffe einschließt, sie aber mit einer religiös-apokalyptischen Erwartung verbindet) und weniger romfreundlich, er stirbt den Tod eines Aufrührers, nicht den eines „Opfers“ im kultischen Sinn oder in der Logik der Satisfaktionstheorie.

Von der radikalen Skepsis, die solche Beiträge oft kennzeichnet („Hat es Jesus überhaupt je gegeben?“), diesmal keine Spur. Ich fand das ganz erfreulich. Und solche Formulierungen wie „Missionar mit heißem Atem“ würden der ein oder anderen Gemeindepredigt auch gut tun.

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Inhalt und Verpackung

Das sind zwei Begriffe, die immer wieder auftauchen, wenn es um die christliche Botschaft geht. Gerade in theologisch eher konservativen Kreisen spricht man davon, dass es einen unantastbaren, ewig (im Sinne von zeitlos oder kontextunabhängig) gültigen Inhalt gibt, aber hier und da werden Zugeständnisse an die Form gemacht, die darf dann „moderner“ werden, oder was auch immer, so lange das missionarisch „funktioniert“.

Das Problem ist: Es geht nicht. Es geht genauso wenig, wie man einen Satz aus dem Deutschen verlustfrei in eine fiktive „Universalsprache“ übersetzen kann und von da in jede beliebige andere. Das Evangelium gibt es nur kontextualisiert, in einer ganz bestimmten, konkreten Sprache und Kultur, aus der es nicht rückstandsfrei herausgelöst werden kann.

Es kann also auch nur tastend, allmählich und nicht über Nacht, in der Spannung von Versuch und Irrtum in eine neue Kultur und „Sprache“ übertragen werden. Mit der „Verpackung“ ändert sich nun zwangsläufig das Gesamtpaket. Trotzdem gibt es sachgemäße und unsachgemäße Übersetzungen. Beurteilen kann das aber nur der, der „zweisprachig“ ist. Wir müssen also zurückfragen, was das biblische Evangelium in seiner jüdisch-hellenistischen Ursprungskultur ursprünglich bedeutet hat und auf welche ihrer Themen es wie antwortet. Und wir müssen unsere Zeit gut genug kennen und verstehen, um es in ihren Begriffen und auf ihre Fragen bezogen wieder neu zu sagen.

Immer wieder wird ja auch gesagt, wie hätten „kein Theoriedefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit“. Da steckt im Grunde ein ähnlich unbefriedigender Dualismus drin wie der von Form/Verpackung und Inhalt. Und oft genug die Weigerung, gründlicher nachzudenken und radikaler zu fragen, als man das bisher getan hat. Anders gesagt: Eine Theologie, die den Horizont ihrer Zeit verfehlt, ist auch nicht mehr „richtig“. Selbst dann, wenn sie Sätze wiederholt, die vor 500 oder 1500 Jahren durchaus „richtig“ waren.

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Kühne Aussage

Für meine Osterpredigt habe ich in Ulrich Kühns Christologie gelesen und dabei folgenden (bei Barth entlehnten) Hinweis entdeckt, der in diese Woche nicht nur wegen Ostern, sondern auch des Erscheinens der deutschen Ausgabe von Love Wins passt:

Die eschatologische Bedeutung der Auferstehung Christi könnte … in der Tat darin gesehen werden, dass er als der, der auf seinem Erdenweg die bedingungslose Barmherzigkeit Gottes zu den Menschen gebracht hat, das verurteilende Endgericht Gottes zu einem Gnadengericht wandelt. Dass dabei der Umfang des Kreises der »sich mit der Menschenwelt als solcher (nach der Lehre der Apokatastasis) endlich und zuletzt decken müsse und werde, das ist ein Satz, den man unter Respektierung der Freiheit der göttlichen Gnade nicht wagen kann … Wiederum ist aber in dankbarer Erkenntnis der Gnade der göttlichen Freiheit auch der andere Satz nicht zu wagen, dass es zu jener letzten Eröffnung und Erweiterung des Kreises der Erwählung und Berufung auf keinen Fall kommen könne und werde.

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Das Erweckungsrätsel

Erweckungsbewegungen – ich habe mich in den letzten Wochen unter anderem noch einmal mit Pietismus, Great Awakening, Erweckungsbewegung und der Pfingstbewegung befasst – sind ein spannendes Phänomen. Mann kann ihren Ausbruch nicht vorhersagen (was viele bedauern), man kann sie auch nicht „machen“ (das bedauern noch mehr). Auch die Erklärungen gehen auseinander: Zwar kann man auf bestimmte (Fehl-?)entwicklungen der Kirchen verweisen (die starre Orthodoxie, der flache Rationalismus) und auf günstige Winde aus der jeweiligen Gegenwartskultur (die Romantik zum Beispiel), oder auf große Persönlichkeiten (wie Zinzendorf oder Wesley), die so etwas begünstigen. Aber ist damit schon alles gesagt?

Liest man nämlich die Berichte der „Betroffenen“, dann ist dort oft vom souveränen Wirken Gottes die Rede. Nun kann es zwar auch die typische Rhetorik solcher Bewegungen sein, die Rolle des Heiligen Geistes möglichst stark hervorzuheben, aber ganz lässt sich der Aspekt wohl doch nicht auflösen. Und so stellt sich dabei auch eine theologische Frage: Wenn es so ist, dass es offenbar Zeiten gibt, in denen der Geist Gottes mächtiger wirkt als in anderen, wäre das nicht ein Hinweis darauf, dass Glaube tatsächlich ein unverfügbares Geschenk ist und der menschliche Anteil beim Zum-Glauben-finden eher gering?

Wie aber lässt sich das mit der Ansicht versöhnen, dass Glaube und Unglaube als menschliche Antwort auf Gottes Gnade über ewiges Leben (und ewige Verdammnis) entscheiden? Läge so gesehen nicht die Schlussfolgerung nahe, dass vielleicht jeder Mensch eine faire Chance hatte, aber manche eben doch eine deutlich fairere Chance als andere? Wie sollen wir das verstehen und einordnen, dass manche Menschen nach eigener Darstellung von Gott geradezu überwältigt werden, während andere jahrelang suchen und auf ein Zeichen hoffen, ohne eines zu bekommen? Und über die verständliche Verschlossenheit von Menschen, denen von einfachen Christen oder gar Klerikern schlimmes Unrecht widerfahren ist, haben wir dann noch gar nicht geredet…

Nun kann man mit Mt 20,15 natürlich antworten: „Bist du neidisch, weil ich gütig bin?“ oder auf die Undurchschaubarkeit dieser Zusammenhänge verweisen. Man kann auch ein Argument für die doppelte Prädestination draus stricken. Oder sagen, Erweckungen und geistliche Aufbrüche werden ja nur deswegen „notwendig“, weil die Kirche ihrem eigentlichen Auftrag, nämlich hinsichtlich des Heilserwerbs Chancengleichheit herzustellen, nicht nachkommt.

An beiden Argumenten ist etwas dran, aber … vielleicht ist es ja wirklich so, wie Rob Bell verhalten andeutet: Die Tatsache, dass wir machmal herzlich wenig dafür können, dass wir zum Glauben gefunden haben oder besser noch gefunden wurden, sollte uns etwas vorsichtiger machen, allen Menschen, denen es anders geht, ihr Nicht-Glauben-Können als Schuld oder Versagen anzurechnen und sie damit auch gleich noch auf dem Weg ins „Höllenfeuer“ zu sehen. Vielleicht (darüber hat George Lindbeck schon spekuliert) gibt es ja doch zwischen hier und dem Ende der Geschichte, beziehungsweise nach dem Tod oder im Tod, eine ähnlich überwältigende Begegnung mit Gott, wie sie aus vielen Erweckungen bezeugt wird. Eine „Fair-weckung“ sozusagen.

Nun höre ich sofort den Einwand, so eine Vorstellung würde jeglichen missionarischen Eifer und Ernst untergraben. Bei manchen mag das der Fall sein. Umgekehrt ließe sich fragen: Wer entlastet eigentlich die, die längst tun, was in ihrer Macht steht, aber merken, dass sie zu wenige sind und nicht überall sein können? Und könnte es nicht sein, dass der Alarmismus, den die Vorstellung ständiger Lebensgefahr mit sich bringt, auch dazu führt, dass manche Christen abstumpfen oder blockiert sind?

Die Diskussion über Love Wins hat nun auch das Magazin Time erreicht. Der Themenkreis wird uns also noch eine Weile beschäftigen.

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Plötzlich Pfingstler?

Seit ein paar Tagen liegt Christentum 2.0 von Yan Suarsana auf meinem Schreibtisch, der Untertitel lautet „Pfingstbewegung und Globalisierung“. Der Autor ist Assistent am Lehrstuhl für Reformationsgeschichte und neuere Kirchengeschichte in Heidelberg, und im Unterschied zu vielen anekdotenhaften oder (selbst innerhalb der verschiedenen Flügel des Pentekostalismus) sehr divergierenden Darstellungen behandelt er sein Thema auch methodisch sehr durchdacht.

Im ersten Teil geht es um die Frage, wie die Pfingstbewegung definiert und beschrieben werden kann. Suarsana verwirft frühere Ansätze, die versucht haben, bestimmte theologische Konzepte oder Phänomene zum entscheidenden Kriterium dafür zu machen, wer dazu gehört und wer nicht. Vor allem die Theologie ist fluider und kurzlebiger als in anderen Kirchen und Konfessionen, ähnlich die Organisationsformen. Eine essentialistische Beschreibung in dem Sinne, dass es einen stabilen, gleichbleibenden Wesenskern gibt, aus dem heraus sich alles entfaltet, wird der Dynamik und Vielfalt nicht gerecht

Er zieht den Vorschlag von Michael Bergunder vor, der den Pentekostalismus als „internationales diskursives Netzwerk“ beschreibt, „die das inhaltliche Konzept Pfingstbewegung unentwegt untereinander verhandeln“. Dazu kommt noch einen diachrone Vernetzung, die einen Bezug auf die Anfänge der Pfingstbewegung herstellt (die nicht nur in der „Azusa Street“ liegen, sondern in den Revivalism des 19. Jahrhunderts zurück reichen), in dem Sinne, dass das heutige Netzwerk sich aus Vorläufern entwickelt hat, die eine in diese Anfangszeit zurückreichende Kette bilden. In dieser Offenheit und Fluidität entspricht die Pfingstbewegung dem, was Suarsana mit Roswith Gerloff als „Religionen in Bewegung“ bezeichnet – transkulturelle Gebilde, die sich ständig verändern. Bestimmte Praktiken und Phänomene sind dann kein klares Kriterium, sondern nur noch ein Indiz für eine mögliche Zugehörigkeit zu dieser Bewegung.

So betrachtet ist man also also auch Pfingstler, wenn man etwa zu einem „Kreis Charismatischer Leiter“ gehört (wo das „das inhaltliche Konzept Pfingstbewegung“ verhandelt wird), ohne dort (als „Postcharismatiker“ etwa) notwendigerweise die – ohnehin uneinheitlichen – politischen und theologischen Ansichten der anderen Mitglieder zwingend zu teilen.

Ok. „Religion in Bewegung“ und „diskursives Netzwerk“ klingt erst einmal interessant. Muss ich mir nochmal überlegen…

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Mehr als Namen und Daten

Im Moment befasse ich mich gelegentlich mit dem Thema Kirchengeschichte und stelle dabei fest: Viele haben eine Abneigung gegen jede Art von Geschichte, weil man da so viele Ereignisse lernen und wissen muss und so viele Jahreszahlen dabei sind. In den exegetischen Fächern lernt man Sprachen und Methoden und kann damit dann selbständig arbeiten an einem doch recht überschaubaren Textmaterial. Systematiker klären, wie wir heute stimmig von Gott reden können, dabei die Verbindung zu den Schriften halten und von den Vätern und Müttern lernen. Und praktische Theologie ist fein, weil man sie sofort anwenden kann. Wozu aber tut man sich den unübersichtlichen Wust von 2000 Jahren Kirchengeschichte an? Welchen Sinn hat es, den Erfolgen und Niederlagen, den Fortschritten, Irrwegen und Sackgassen früherer Generationen nachzuspüren?

Sting sang in den Achtzigern in „History will Teach us Nothing“ davon, dass man sich von der Geschichte befreien muss, weil sie eine Geschichte der Unterdrückung ist und Menschen gefangen hält:

If we seek solace in the prisons of the distant past

Security in human systems we’re told will always always last

Emotions are the sail and blind faith is the mast

Without a breath of real freedom we’re getting nowhere fast

Die Lehrbücher, die ich hier im Regal stehen habe, geben auf solche Fragen seltsamerweise keine Antwort. Wenn man mit Leuten über ihr (Des)Interesse an Kirchengeschichte spricht, stellt man fest:

  • Da gibt es einerseits den erbaulichen Ansatz. Wir identifizieren die Helden (je nach Gusto eher erwecklich-fromm, intellektuell souverän oder sozialrevolutionär) und erzählen anekdotenhaft von ihren großen Taten, um ihnen dann nach Möglichkeit nachzueifern. Meistens reduzieren wir die Kirchengeschichte dann auf Frömmigkeits- und/oder Missionsgeschichte oder betreiben sie als Hagiographie.
  • Dann gibt es den dogmatischen Ansatz: Wir suchen nach denen, die das, was wir heute glauben, auch schon gesagt und getan haben. Die bekommen gute Noten und werden zu Gewährsleuten der reinen Lehre und/oder rechten Praxis, die anderen bekommen schlechte.
  • Wir suchen die „große Linie“. Zum Beispiel die Verfallsidee: Am Anfang war alles perfekt, im Lauf der Jahrhunderte ging es mit den Christen bergab. Oder den Triumphalismus, dann steigt die Linie an, statt abzufallen – alles wird besser. Oder die Kombination aus beidem: Es ging lange bergab, aber nun steht der triumphale Schluss bevor. Leider muss man für die meisten Theorien, die mit Kurven und Linien operieren, die Fakten kräftig hinbiegen. Lässt sich aber machen. Der Punkt bei dieser Betrachtungsweise ist, dass wir eine Tendenz ermitteln wollen, die sich in die Zukunft verlängern lässt – eine Art historische Kaffeesatzleserei also.

In allen drei Fällen hat das etwas einseitig Zweckhaftes, das zur selektiven Wahrnehmung verleitet:

  • Wir wollen keine Fragen gestellt, sondern Antworten geliefert bekommen. Ob für unser persönliches Glaubensleben oder für aktuelle kirchliche Entscheidungen.
  • Wir wollen eine klare Ordnung und so bestätigt bekommen, dass wir im Recht sind. Vielleicht muss man die Kirchengeschichte wie die Schrift aber auch „gegen sich selbst“ lesen lernen?
  • Wir wollen Gott auf die Schliche kommen, etwa indem wir genau benennen können, wo er in der Geschichte am Werk war und wo nicht, möglichst in Reinkultur und ohne lästige menschliche Zusätze. Leider sind die Kriterien dafür, wo Gott am Werk ist und wo nicht, schon immer umstritten gewesen.

Der Dichter Steve Turner hat die Gegenposition zu Sting einmal so formuliert:

History repeats itself.

Has to.

No one listens.

Die Geschichte hätte uns also etwas zu sagen. Aber was – und wie? Kirchengeschichte ist ja keine Geschichtstheologie, die der Geschichte des Christentums Offenbarungsqualitäten zuschreibt und den roten Faden oder die Essenz göttlichen Wirkens aus dem ambivalenten menschlichen Geschehen herausdestillieren könnte. Die Beschäftigung mit ihr wird in dem Moment potenziell sinnvoll, wo wir

  • offen und bereit sind, Fremdes und Komplexes erst einmal möglichst urteilsfrei zu verstehen – also tatsächlich zuzuhören.
  • fähig sind, mit Ambivalenzen – eigenen und fremden – umzugehen, statt immer gleich „Eindeutigkeiten“ zu suchen.
  • uns selbst und unsere Überzeugungen in Frage stellen und relativieren lassen durch die „geschichtliche Ökumene“, der wir begegnen.

Unsere Kirchen und Gemeinden – auch die vergleichsweise „neuen“, die oft gar nicht so neu sind, wie sie glauben – sind sämtlich historisch gewachsene Gebilde. Um sie zu verstehen, müssen wir uns mit ihrer Geschichte befassen. Um sie leiten und verändern zu können, auch. Was eigene Leistungen und Erkenntnisse angeht, kann der Blick in die Geschichte einen zumindest sehr bescheiden werden lassen, manchmal auch dankbar. Insofern lohnt sich das geduldige Zuhören am Ende vielleicht doch.

Wer tiefer bohren möchte, kann hier bei Friedrich Wilhelm Marquardt (†2002) weiterlesen – ich habe es eben entdeckt.

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In Bellde auf Deutsch

Immer wieder fragen Leute, wann Rob Bells heiß diskutiertes neues Buch Love Wins denn auf Deutsch erscheint. Genau am 28. April, morgen in drei Wochen also, beim Brunnen-Verlag – mit einem kleinen Vorwort aus meiner Feder. Da kann man es inzwischen auch schon vorbestellen.

Der Titel „Das letzte Wort hat die Liebe“ klingt zwar leicht nach Deutschem Schlager, ein Verkaufshit könnte es hier zumindest auch werden.

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Ausgelassene Christen

Ich bereite mich gerade darauf vor, mit einer Gruppe beim IGW in Karlsruhe drei Tage in die Kirchengeschichte der letzten dreieinhalb Jahrhunderte abzutauchen. So ein Unternehmen muss zwangsläufig eine Auswahl treffen und genau das tun auch die Lehrbücher wie das von Wallmann (da habe ich aber noch eine alte Auflage, womöglich hat sich das inzwischen geändert) oder Hauschild. Dennoch finde ich es erstaunlich, wie man über das 20. Jahrhundert schreiben kann, ohne ausführlicher auf die Pfingstbewegung einzugehen.

Der Religionssoziologe Peter L. Berger bezeichnet sie in diesem Interview als die explosivste religiöse Bewegung in jüngerer Zeit und weist darauf hin, dass sie gerade in vielen ärmeren Ländern auch einen erheblichen Beitrag zum sozialen Wandel geleistet hat – etwa in der gesellschaftlichen Stellung der Frau und der Demokratisierung. Und während der übrige Protestantismus bei uns nach langem und tiefem Schlaf sich zaghaft mit der Möglichkeit befasst, dass er womöglich nur noch ein oder zwei soziale Milieus erreicht, haben die Pfingstler der Welt wie kaum eine andere Kirche gezeigt, dass es auch ganz anders geht.

In Deutschland (das mag der Grund der Auslassung in den o.g. Werken sein) hat die Pfingstbewegung dagegen nur eine geringe Rolle gespielt. Peter Zimmerling beschreibt ihre wesentliche Wirkung dahingehend, dass sich die großen Kirchen und die Gemeinschaftsbewegung nach 1906 gegenüber fast allem schroff abgrenzten, was irgendwie geistbewegt wirkte. Man fragt sich unwillkürlich, ob das nicht mindestens so sehr ein soziokulturelles Problem des evangelischen Bildungsbürgertums war (Stichwort „Ekelschranken“) wie eine Reaktion auf vermeintliche oder tatsächliche Übertreibungen.

Wer sich nun aktuell ein Bild machen möchte, kann diese ausführliche und interessante Studie des Pew Forums zur Hand nehmen. In den USA, so ist dort zu lesen, beträgt der Bevölkerungsanteil der „Renewalists“ (als klassische Pfingstkirchen und charismatische Gemeinden/Gemeinschaften) 23%, in Brasilien 49%, in Kenia 56% und in Guatemala sogar 60%. Immerhin noch 36% sind es in Südafrika, wo Frank Chikane als Nachfolger von Desmond Tutu von 1987 bis 1994 Generalsekretär des südafrikanischen Kirchenrats war.

Wie auch immer man zur (inzwischen ja sehr vielschichtigen) Pfingstbewegung steht – ihre Geschichte muss erzählt werden!

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Allah (6)

Koranverbrennungen christlicher Fanatiker und Mordanschläge ihrer muslimischen Geistesverwandten zeigen auch diese Woche, dass ein Miteinander von Christen und Muslimen auf beiden Seiten nicht nur Freunde findet. Miroslav Volf, Mitautor der Yale Response auf das „Common Word“ geht in Kapitel 8 und 9 von Allah. A Christian Response der Frage nach, was Christen und Muslime jeweils unter Liebe verstehen. Eine Erklärung für die Beobachtung, dass im Koran seltener von Gottes Liebe und mehr von seiner Barmherzigkeit und Güte die Rede ist, liegt möglicherweise am Vorverständnis von Liebe im Sinne der (bzw. in Analogie zur) platonischen Philosophie: Dort wird Liebe als Bedürftigkeit verstanden – ohne den anderen fehlt mir etwas. Dieser Gedanke lässt sich auf Gott aber nur mit großen Schwierigkeiten übertragen. Wir sagen wohl, dass Gott uns Menschen gewollt hat und will, aber nicht, dass er uns braucht. Gottes Hinwendung zu uns und seine Großzügigkeit gegenüber seinen Geschöpfen ist aber durchaus ein vertrauter Gedanke für Muslime, wie Volf zeigt. Auf diese Weise sprechen also auch sie von dem, was Christen als die Liebe Gottes bezeichnen.

Dann betrachtet Volf den Zusammenhang zwischen Gottes Liebe und seiner Gerechtigkeit. Das Klischee, auf der einen Seite herrsche das Bild eines strengen Gesetzgebers und auf der anderen Seite ein möglicherweise etwas harmloser oder sentimentaler „lieber“ Gott, geht nicht auf. Christen wie Muslime glauben an den inneren Zusammenhang von Liebe und Gerechtigkeit. Und obwohl dieser auf beiden Seiten Anlass zu vielen Diskussionen gegeben hat, lässt sich doch auch sagen, dass hier wie dort der Gedanke dominiert, dass Gottes Gerechtigkeit ein Aspekt seiner Liebe ist, und nicht umgekehrt.

In den Hadithen findet sich analog zur goldenen Regel der Satz, dass nur der wahrhaft glaubt, der für seinen Nächsten das Gute genauso anstrebt, wie für sich selbst. Auch in diesem Punkt gibt es also eine Übereinstimmung. Volf fährt fort mit einer Betrachtung von al-Ghazalis Ninety-Nine Beautiful Names of God, das aus der mystischen Tradition des Islam schöpft. Was er dort über Gottes Barmherzigkeit, Vergebung und Liebe zur Schönheit entdeckt, unterstreicht sein Fazit:

There are affinities in the way Christianity and Islam understand the fine texture of goodness and love. Similarities in their understanding of God are the reason why these affinities exist.

Den Unterschieden geht Volf in Kapitel 9 nach und findet sie an vier Punkten:

  1. Während Christen sagen können „Gott ist Liebe“, sind Muslime hier in der Regel zurückhaltender. Für sie ist Liebe zweifellos eine sehr wichtige Eigenschaft Gottes, aber sie charakterisiert sein Wesen nicht genauso umfassend wie das im Christentum geschieht.
  2. Gottes Liebe, hier zitiert Volf wieder al-Kahzali, bezieht sich letzten Endes wieder auf ihn selbst zurück: Indem Gott einen anderen liebt, liebt er sich selbst, die Existenz des Anderen (d.h. seiner Schöpfung bzw. des Menschen) ist daher sekundär. Für Christen ist die Liebe zum anderen konstitutiv und Anderssein schon im trinitarischen Wesen Gottes verankert.
  3. Während Gott in beiden Traditionen das Unrecht ablehnt, unterscheiden Christen stärker zwischen Tat und Täter (bzw.Sünde und Sünder) und sehen Gottes Liebe nicht als reaktiv, sonder als kreativ an. Sie entsteht nicht dadurch, dass ihr etwas Liebenswertes begegnet – so sagt es Luther in der Heidelberger Disputation –, sondern sie erschafft das, was ihr gefällt zuallererst (Amor dei non invenit sed creat suum diligibile. Amor hominis fit a suo diligibili). Im Koran kann zwar davon die Rede sein, dass Gottes Barmherzigkeit Menschen wieder zurückführt zu einem gerechten Leben in seiner Liebe, aber der Gedanke der Liebe Gottes zu den Gottlosen findet sich dort so nicht. Gott liebt die Gerechten – der Gedanke, dass man sich diese Liebe durch Wohlverhalten nicht verdienen muss (und Gott beleidigen würde, wenn man es doch versuchte), kommt so nicht vor.
  4. Das Gebot der Feindesliebe hat für Christen einen anderen Stellenwert. Zwar ist die Mehrheit der Christen trotz gewaltloser Anfänge im Neuen Testament seit Augustinus davon überzeugt, dass es einen gerechten Krieg geben kann (vgl. aktuell in Libyen), während der Islam seinen Ursprung in einer Gemeinschaft hatte, die sich kriegerischen Feinden gegenübersah, ähnlich wie das alte Israel. Das Common Word spricht davon, dass Muslime sich gegenüber Nichtmuslimen freundlich und friedlich verhalten sollen, so lange diese friedlich sind. Christen gehen aber mit dem Gebot zur Feindesliebe noch einen Schritt weiter: Es geht nicht nur darum, nichts gegen den anderen zu haben, sondern selbst dann noch für ihn zu sein, wenn er sich unfreundlich verhält.

Erstaunlicher als die Unterschiede findet Volf die Gemeinsamkeiten. Das liegt daran, dass seine Fragestellung nicht die nach dem ewigen Heil ist, sondern nach dem friedlichen Zusammenleben. Teil IV des Buches ist diesem Thema gewidmet.

(Hier geht es zu Teil 1, Teil 2, Teil 3Teil 4 und 5 dieser Reihe. Wer unten kommentieren möchte, kann sich dort über den bisherigen Verlauf der Diskussion und ihre Grenzen orientieren)

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