Wer die postmoderne These vom Tod der Metaerzählungen als überholt betrachtet, wird von der FAZ eines besseren belehrt. Es gibt dieses Sterben noch immer, und zugleich kommen wir nicht ohne Geschichten aus:
Jeder, der mit Kindern lebt, weiß, dass Geschichten nicht erzählt werden, um Informationen zu transportieren. Das behaupten wir nur unter Erwachsenen: dass ein Text oder eine Rede dazu da ist, etwas Neues über die Welt zu sagen. Aufklärung ist aber nur eine Funktion von Geschichten. Eine andere ist der Trost, das Bändigen der unbekannt nahenden Zukunft, damit man sich einen Reim macht auf die Dinge des Lebens. (…) Gesellschaften sind manchmal wie Kinder, liegen zusammengekauert in der Embryonalstellung, den Blick auf das orangene Glühlämpchen in der Steckdose gerichtet – und wollen eine Stimme hören.
Diesmal ist es die neoliberale Story, die zusammengebrochen ist, und zugleich stellt sich die Frage, aus welchen Geschichten die neue Welt ihre Gestalt gewinnt. Es ist schon erstaunlich, wie viele religiöse Untertöne sich in die Kommentare zur globalen Finanzmarktapokalypse mischen. Und es ist wirklich eine Apokalypse: Ein krankes System wird enthüllt, demaskiert, Irrtümer und Fehler bloßgelegt. Hier für alle die Kurzversion dessen, was keiner mehr glauben kann:
Die Gier, von der so viel die Rede ist, war eine Gier danach, die Geschichte vom wahnsinnigen Wachstum des Geldes immer weiter erzählt zu bekommen, wie bei Harry Potter sollte immer noch ein beruhigend schwerer Band kommen von der großen neoliberalen Erzählung über Geld und Magie. In dieser Geschichte ist das Geld wie Red Bull, es verleiht Flügel: Vergiss deine bescheidene Herkunft, die engen Leute da, als Investmentbanker blickst du aus hellen Höhen auf die ganze Welt hinunter. Was dich belastet, was dich da unten hält, wo es nach Weichspüler riecht – das nennen wir Kosten.
Die Vergangenheit, die Gepflogenheiten, die örtlichen Gegebenheiten, das kannst du in Kosten verwandeln – und loswerden. Geld ist der Rohstoff der ultimativen Verwandlung, macht alles, und vor allem dich, zu glänzender Flüssigkeit, wie in „Terminator II“, du erstehst neu, unbesiegbar. Der Staat will das eindämmen, er hindert die Tüchtigen. Er hat keine Chance: Geld ist unser Zaubertrank. Alle Menschen werden fit.
Und ganz am Schluss fragt der Autor dann:
Neue Sachen passieren: Geld fließt von unten nach oben, Banken werden verstaatlicht, als habe man hierzulande die Weisheit von Hugo Chavez erkannt. Nur die passende Geschichte ist noch nicht gefunden. Besser wäre es, wir hätten einen ganzen Reigen davon zur Verfügung. Der neue Tag ist fern, wir brauchen etwas, das tausendundeine Nacht dauern kann. Was soll denn vorkommen in unserer Geschichte, fragt man manchmal die Kinder, und dann muss man etwas dichten, aus einer Katze, einem Feuerwehrauto und einem Baby. Was macht uns glücklich?
Dies ist die Stunde der Literatur: Unsere wichtigsten Papiere sind heute die Bücher.
Guter Artikel.
Aber inwiefern bestreitet er die These vom Tod der Metaerzählungen? Eher spiegelt sich doch hier auch die Sehnsucht nach einer solchen neuen Geschichte, die es aber nicht mehr gibt. Dass Geschichten an sich wichtig sind und immer gewesen sind, bestreitet ja auch nicht, wer vom Tod der Metaerzählungen spricht, oder?
Da habe ich mich missverständlich ausgedrückt, Simon – vielleicht ist es mit der Korrektur oben jetzt besser. Der Artikel bestätigt beides, wie Du sagst: Die Sehnsucht nach Geschichten und den Verlust der einen, universalen Geschichte, die allen Halt und Identifikation bietet. Die neoliberale Story ist nur die letzte, die dieses Schicksal erleidet. Die einzige war sie nie, aber vielleicht die einflussreichste der letzten Jahre.