Postilberale Theologie (3): Glauben lernen

Religiöswerden bedeutet, so verstanden, sich eine bestimmte „Sprache“ anzueignen und die Welt in ihrer Begrifflichkeit und ihren Kategorien zu interpretieren. Eine Religion ist damit ein „verbum externum“ und nicht der Ausdruck eines vorgängigen „verbum internum“, das eher dem geistlichen Vermögen zum Hören entspricht, aber eben die „Grammatik“ schon als gegeben voraussetzt. Oder noch anders gesagt: Man lernt das Evangelium nicht im eigenen Seelengrund kennen, man kann es sich nicht selber sagen, es kommt immer von außen, vermittelt, durch andere, in Gemeinschaft.

Wir haben es hier mit einem hylomorphen Modell zu tun, das heißt, die Form hat Vorrang vor der Substanz, die es nicht ungeformt gibt – das ist eher aristotelisch gedacht, aber auch hebräisch-konkret. Der Gegensatz dazu ist das idealistische Modell: die Erfahrung, der immaterielle Geist ist vor aller sichtbaren Gestalt da, das Allgemeine vor dem Besonderen.

In der Betonung der externen Dimension (Code/Syntax) ist das sprachlich-kulturelle Verstehen dem Propositionalismus nahe, ohne dessen intellektualistische Tendenz (Betonung des Inhalts des Gesagten) zu übernehmen.

Religion kann nicht auf kognitivistische (oder voluntaristische) Weise vorrangig als Angelegenheit der bewusst freien Wahl und Befolgung explizit gewusster Sachverhalte oder Direktiven betrachtet werden. Religiöswerden heißt vielmehr – nicht weniger als sprachlich oder kulturell kompetent zu werden – die Internalisierung eines Bestandes an Fertigkeiten durch Übung und Ausbildung. (S. 60)

Lernen ist komplexer und unaufdringlicher, als man erklären kann. Nicht das Wissen über Religion oder Kenntnis der Inhalte, sondern wie man auf eine bestimmte Art religiös ist, ist das Entscheidende. Lehraussagen und Verhaltensnormen können (!) auf diesem Weg hilfreich sein, aber Gebet, Ritus und Vorbild sind in der Regel wichtiger: es geht um das „gewusst wie“.

Zugleich bleibt Raum für die expressiven Aspekte. Symbole sind aber nicht äußerliche „Dekoration“ des harten Kerns der Glaubenssätze (das argwöhnt der propositionale Kognitivismus), sondern sie vermitteln das Grundmuster der Religion, also das Eigentliche effektiv. Die Richtung – und hier trifft sich Lindbeck mit vielen emergenten Denkern – geht von außen nach innen: Von einer neuen Praxis zu einem neuen Empfinden und Verstehen.

Etwa so: Man lernt zu beten, indem man Gebete nach- und mitspricht, und egal wie unbeholfen das geschieht und wie beschränkt man den Inhalt versteht, es ist echtes Beten von Anfang an. Von daher gewinnen aktuelle Begrifflichkeiten wie belonging before believing eine ganz neue Plausibilität.

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Postliberale Theologie (2): Der sprachlich-kulturelle Ansatz

Lindbeck kehrt das Verhältnis von Innen und Außen, Individuellem und Sozialem, Form und Substanz gegenüber dem expressivistischen Ansatz der liberalen Theologie um: Religion ist nicht der äußere Ausdruck einer zunächst und wesentlich innerlichen Erfahrung, das ist eine idealistische Vorstellung. Sie wird besser beschrieben als ein sprachliches und kulturelles Grundgerüst, das Leben und Denken formt und damit auch bestimmte Erfahrungen erst ermöglicht.

„Sie ist in erster Linie nicht ein Feld von Glaubenssätzen über das Wahre und Gute (obwohl es diese einschließen kann) oder ein symbolischer Ausdruck grundsätzlicher Haltungen, Gefühle und Empfindungen (obwohl diese hervorgerufen werden können). Vielmehr: sie gleicht einem Idiom, das die Beschreibung von Realität, die Formulierung von Glaubenssätzen und das Ausdrücken innerer Haltungen, Gefühle und Empfindungen ermöglicht. Gleich einer Kultur oder Sprache, ist sie ein gemeinschaftliches Phänomen, das viel eher die jeweilige Subjektivität einzelner prägt, als dass sie in erster Linie eine Manifestation dieser Subjektivität wäre. Dieses Grundgerüst besteht aus einem Vokabular diskursiver und nichtdiskursiver Symbole in Verbindung mit einer bestimmten Logik und Grammatik.“ (S. 56f.)

Es besteht also eine Verbindung kognitiver und verhaltensmäßiger Dimensionen, von Lehrsätzen und Riten bis hin zu bestimmten Formen von Gemeinschaftsbildung. Denn erst das passende Symbolsystem ermöglicht bestimmte Gedanken und Verknüpfungen. Christliche und buddhistische Mystiker mögen manchmal ähnliche Beschreibungen verwenden, aber der Kontext ihrer Erfahrungen ist verschieden, die Erfahrungen selbst damit auch, bis auf das, was an Grundstimmungen oder -empfindungen eben ganz allgemein menschlich ist. Die prägende Wirkung einer Religion kann so, sagt Lindbeck auch bei Menschen anhalten, die ihr gar nicht mehr explizit angehören – eine Beobachtung, die für den westlichen (jüdisch-christlichen) wie auch den islamischen Kontext belegt ist.

Lindbeck greift damit unter anderem Wittgensteins Sprachspiel-Theorie auf und kommt zu interessanten Anwendungen. Dazu dann mehr im nächsten Post.

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Lesslie Newbigins 100. Geburtstag

Heute wäre Lesslie Newbigin 100 geworden, Sivin Kit hat mich darauf aufmerksam gemacht. Er ist für mich einer der großen emergenten Vordenker, auch wenn das damals noch gar keine theologische Kategorie war.

Hier zur Feier des Tages ein Zitat aus „The Gsopel in a Pluralist Society“:

Unter allen Menschen gibt es eine Sehnsucht nach Einheit, denn Einheit bietet die Verheißung des Friedens. Das Problem ist, dass wir Einheit zu unseren Bedingungen wollen, und es sind unsere rivalisierenden Programme der Einheit, die uns zerreißen. Wie Augustin sagte: alle Kriege werden um des Friedens willen ausgetragen. Die Weltgeschichte könnte man als eine Abfolge von Bestrebungen erzählen, die der Welt Einheit bringen sollten, und natürlich lautet die Bezeichnung dieser Bestrebungen “Imperialismus”. Das christliche Evangelium ist manchmal zum Instrument eines Imperialismus gemacht worden, und davon müssen wir uns abwenden. Aber im Kern ist es die Verweigerung gegenüber jeglichem Imperialismus, denn in seinem Zentrum steht das Kreuz, das alle Imperialismen demütigt und uns einlädt, die Mitte menschlicher Einheit in dem zu finden, der zu Nichts gemacht wurde, damit alle eins seien.

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Jetzt gehts los

Die Tische sind gedeckt, die ersten Macbooks (und ein paar andere Rechner) werden aufgeklappt, alte Bekannte fallen sich in die Arme und neue Bekanntschaften werden geschlossen. Das Emergent Forum startet in ein paar Minuten. Hundert Leute und das alles ohne Stars und große Redner. Ich bin vielleicht gespannt auf die nächsten beiden Tage!

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Doch nicht alles relativ

Im neulich schon erwähnten kleinen Aufsatzband Die Reformation. Potentiale der Freiheit hat Michael Welker einen Aufsatz mit dem Titel Sola Scriptura geschrieben, der unter anderem auch auf den Pluralismus eingeht, der ein wesentliches Merkmal der Postmoderne ist und zugleich alle möglichen Ängste auslöst. Welker beschreibt das so:

Angesichts dieser diffusen Pluralität fürchten die einen mit Recht das drohende Chaos, den Relativismus, den Verfall von Gemeinsamkeit und sozialer Konnektivität. Andere machen sich weiche und meist illusorische Vorstellungen von der unendlichen Fülle der Entfaltungsmöglichkeiten, die diese Pluralität biete. Wieder andere rufen nach autoritären Gegensteuerungen gegen dieses Chaos, oder sie setzen auf liberale Integrationsformeln, etwa: wir brauchen dieses oder jenes Minimum an Gemeinsamkeit, um aus dem Schlamassel herauszukommen. Alle diese Sichtweisen haben eins gemeinsam: Vom Pluralismus haben sie nichts kapiert.

Der Pluralismus bringt nicht einfach Bindungslosigkeit, Relativismus, Individualismus mit sich, obwohl diese Erscheinungen auch in pluralistischen Umgebungen auftreten. Der Pluralismus bildet und pflegt vielmehr multisystemische Formen, die sehr wohl hohe Bindekräfte entwickeln, aber eben nicht die gesellschaftseinheitliche, kultureinheitliche Bindekraft versprechen können.

Die Zivilgesellschaft ist für Welker ein Beispiel, wie verschiedene Gruppen und Zusammenschlüsse auf die gesellschaftlichen Systeme wie Politik, Bildung, Recht, Wirtschaft etc. Einfluss nehmen. Nur gibt es das eine Prinzip eben nicht mehr, das alles so organisiert und zusammenhält, wie der Modernismus es gerne gehabt hätte. Welker zieht von hier aus eine Linie zum Pluralismus des biblischen Kanons. In der Vielstimmigkeit der Überlieferung sieht er daher kein Problem, sondern einen Reichtum.

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Reformation und Emergenz

Ausgerechnet auf der IAA – im Testosteronnebel, der PS-Protze und Designstudien dort umgibt – kam ich gestern dazu, den Aufsatz meines Doktovaters Berndt Hamm über „Die Emergenz der Reformation“ zu lesen. Phyllis Tickle hatte – freilich weniger wissenschaftlich – diese Linie ja auch verfolgt. Ich kann das kleine Büchlein Die Reformation: Potentiale der Freiheit nur wärmstens empfehlen.

Hamm geht als Experte für Spätmittelalter und Reformation an das Thema Emergenz heran. In der Darstellung der Reformation gab und gibt es zwei gleichmaßen reduktionistische Grundansätze: Einerseits die Betonung des organisch-evolutionären Charakters und der Kontinuität zwischen den Luthers Erkenntnissen bzw. den Ereignissen des frühen 16. Jahrhunderts auf der einen Seite und den spannungsreichen Polaritäten spätmittelalterlicher Kultur, Frömmigkeit, Kirchenpolitik und Reformansätzen auf der anderen Seite – den prozesshaften Aspekt dieser „Transformation“. Andere betonen umso steiler den Bruch, die Diskontinuität, das Neue und (vor allem dann, wenn sie sich selbst mit dem reformatorischen Erbe identifizieren) das unbestreitbare Wirken Gottes durch Geistesgrößen und Ausnahmegestalten wie eben Luther im klaren Gegensatz zu allen menschlich-immanenten Anteilen. Zugleich wendet er sich gegen Foucaults Gedanken der seriellen Geschichtsschreibung, die einseitig Kontingenz und Diskontinuität betont.

Die Refomation als ein emergentes Geschehen zu betrachten, erlaubt es, diese Gegensätze zusammenzubringen: Einerseits war alles schon irgendwie vorhanden und vorbereitet und keiner der Reformatoren fügte der Gemengelage seiner Zeit etwas entscheidend Neues, nie Dagewesenes (oder schreibt man man „Niedagewesenes“ bzw. „nie da Gewesenes“?) hinzu. Andererseits ergab sich eben doch eine ganz neue Situation durch systemsprengende Innovation, die eben nicht im Voraus schon ableitbar oder vorauszusehen gewesen wäre:

Die Geschichte der Reformation ist eine Vernetzung und Wechselwirkung zwischen sich überlagernden Kontinuitäten von unterschiedlicher Dauer und interagierenden Sprüngen und Ereignisketten von unterschiedlicher Reichweite. Der Blick auf die modernen Emergenztheorien zeigt, dass diese Verlaufsstruktur völlig selbstverständlich und bei allen Neukonfigurationen komplexer Systeme regelhaft ist. Insofern ist die Reformation in ihrer Entstehung und ihrem Ablauf erklärbar, auch wenn sich die kontingenten Innovationssprünge selbst der Erklärbarkeit entziehen. (S. 24)

Ich fände es schade, den Begriff „emerging church“ aufzugeben (die Diskussion lief ja vor einigen Monaten ziemlich heiß), weil er entweder durch ein paar Radikale (bei Hamm wäre das Foucaults atomisierende Theorie) oder aber das Sperrfeuer der konservativen Reaktion, die in jeder Relativierung ihrer Grundsätze schon die Auflösung in die totale Gleichgültigkeit zu erkennen glaubt, angeblich verbrannt ist.

Zugleich ist es wichtig, dass man selbst für den Fall, dass heute wie damals eine (so sieht Hamm das frühe 16. Jahrhundert) „emergente Gesamtlage“ besteht, nicht einmal ansatzweise den Anspruch zu erheben, schon sagen zu können, was nun kommt. In allem Reden von einer neuen (je nach Zählung: zweiten oder dritten) Reformation liegt diese tiefe Zwiespalt, dass man die Grundsituation möglicherweise richtig erspürt, aber dann der Versuchung erliegt, ihren Ausgang nicht abzuwarten und sich aus den aktuellen Tendenzen willkürlich eine als den „Schlüssel“ herauszupicken, und sie per Projektion in die Zukunft zu verlängern. Ich wurde neulich genau das gefragt: Ob es meiner Meinung nach eine „Big Idea“ gäbe, an der die Zukunft der Kirche hängt. Mir fiel keine ein, und der Fragesteller hat sich auf diese Antwort hin auch nicht mehr gemeldet. Ich halte es da lieber mit dem provokativen Statement (während ich dies tippe, ahne ich schon die Kommentare) von Tom Peters: „In diesen stürmische Zeiten hat niemand eine Chance, der nicht gründlich verwirrt ist.“

Vielleicht war die IAA ja doch der perfekte Ort: Eine Industrie – und mit ihr eine ganze Gesellschaft – im Wandel. Verheißungsvolle Neuansätze und die geballte Macht alter Vorstellungen, Konzepte und Gewohnheiten. Ernst gemeinte Vorsätze und bloße Lippenbekenntnisse zu nachhaltiger Mobilität und das dumpfe Gefühl: was auch immer kommt, es wird ganz anders sein müssen und doch aus dem entstanden sein, was heute existiert.

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Leitung einer missionalen Gemeinde (7): Eine Frage des Charakters

Die missionale Reise in fremdes Terrain stellt für Roxburgh und Romanuk neue Anforderungen an die verantwortlichen Persönlichkeiten. Die Autoren schildern einige Beispiele, bleiben jedoch in ihrer Ausführung der Begriffe eher allgemein, ich begnüge mich hier mit der Aufzählung und mache es kurz:

  • Persönliche Reife (Präsenz, Authentizität, Selbstwahrnehmung)
  • Konfliktfähigkeit
  • Mut

Alles zusammen konstituiert den Faktor Glaubwürdigkeit. Der ist unerlässlich, will man verunsicherte Menschen mitnehmen auf einen Weg mit einem ungewissen Ziel.

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Leitung einer missionalen Gemeinde (6): Bereit für Veränderungen?

Ich komme zum sechsten Kapitel von The Missional Leader: Equipping Your Church to Reach a Changing World:

Die Erwartungen, die eine Gemeinde an ihre LeiterInnen richtet, wachsen in der reaktiven Zone drastisch an. Zum Glück sind Dinge gefragt, die man tatsächlich lernen kann – eine realistische Selbsteinschätzung und ehrliches Feedback vorausgesetzt. Dazu gehören unter anderem

  • Menschen dazu zu verhelfen, sich ernst zu nehmen und der eigenen Intuition zu vertrauen
  • in einer Gemeinde die guten Gewohnheiten des Betens, des Lesens der Schrift, des Schweigens und der Gastfreundschaft zu pflegen, aus denen das missionale Leben dann wachsen kann
  • ein gründliches Verständnis des komplexen sozialen Umfelds einer Gemeinde zu entwickeln und zu vermitteln

Zugleich bleibt die Frage, wohin die Entwicklung eigentlich gehen soll. Das eigentliche Ziel ist es, Gott zu kennen, allerdings darf das nun nicht verkürzt verstanden werden:

Gott zu kennen bedeutet auch, an einem Leben Anteil zu haben, das sich mit einer echten Berufung erfüllt ist, und das zu tun, was uns im Leben aufgetragen ist. Nur indem wir an Gottes Leben teilhaben, können wir unser telos ausleben und in unser Werk und unsere Bestimmung hineinfinden. (S. 117)

Leiten bedeutet, diese Identität einer christlichen Gemeinde im Blick zu behalten und an erste Stelle zu setzen. Denn die Bibel erzählt davon, wie Gott mitten in der Welt eine alternative Gemeinschaft formt. Zur Zeit des Kirchenvaters Tertullian war es üblich, dass neue Christen diesen alternativen Lebensstil sehr gründlich und konkret einüben mussten. Seit der konstantinischen Wende waren die Bischöfe weniger mit der Vermittlung eines konkreten Lebensstils und der Bildung einer Kontrastgesellschaft befasst, sondern beaufsichtigten Theologie und öffentlichen Kultus.

Das Verständnis der Menschwerdung Gottes hielt die alte Kirche davon ab, die konkrete, politische und praktische Christusnachfolge gering zu achten und dem typisch modernen Zwiespalt zwischen innerer Frömmigkeit und einem praktischen Atheismus in der Methodik des Gemeindeaufbaus zu erliegen, der sich unkritisch an der Struktur und Funktionsweise von Behörden oder Unternehmen orientiert.

Christus nachzufolgen bedeutet nicht in erster Linie, ein anderes Bild von sich selbst zu gewinnen, sondern sich einer andersartigen Gemeinschaft mit anderen Verhaltensweisen anzuschließen. Wir sehen in der Apostelgeschichte, wie sich Gemeinschaft gerade nicht durch strategische Organisationsentwicklung bildet und ausbreitet, sondern wie der Geist Gottes solche Pläne und Vorstellungen immer wieder über den Haufen wirft. Die Zukunft der Gemeinde wächst aus ihren praktischen, konkreten Lebensvollzügen und entzieht sich jeder Systematisierung und schematischen Konzeptionalisierung.

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Wenn Dasselbe nicht mehr Dasselbe ist, obwohl man Dasselbe sagt

Ich kann hier immer nur Schnipsel aus George Lindbecks Gedanken zu Theologie, Sprache und Kultur wiedergeben und lebe ganz gut damit, manches erst auf Nachfrage präzisieren zu können, also gehen wir doch fröhlich in eine neue Runde. Lindbeck formuliert eine Alternative zu Relativismus einerseits und der Reaktion des protestantischen Fundamentalismus bzw. katholischen Traditionalismus andererseits. Letztere bringen kirchliche Lehraussagen (die man vom Relativismus bedroht sieht) insgesamt in Misskredit durch den Hang zu einer gewissen Sturheit. Sie übersehen, so Lindbeck (und er beschreibt damit auch einen Kernpunkt der Auseinandersetzung um Emerging Church), nämlich Folgendes:

Die Bedeutung von Riten und Äußerungen hängt vom Kontext ab. Die alten Formen in neuen Situationen wiederzugeben, lässt oftmals die ursprüngliche Bedeutung, den ursprünglichen Geist verlorengehen. Gerade so wie der einzige Weg, Eltern, Ehepartner, Kinder und Nachbarn zu lieben der ist, dass man sich jedem gegenüber auf unterschiedliche Weise verhält, gerade so ist oft der einzige Weg, dieselbe Botschaft zu übermitteln, sie verschieden zu verkündigen. (S. 119f.)

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Leitung einer missionalen Gemeinde (5): Das „Missional Change Model“

Für alle, die erst hier einsteigen, der Link zu den Kapiteln 1, 2, 3 und 4 aus The Missional Leader: Equipping Your Church to Reach a Changing World

Missionale Veränderungsprozesse in Situationen abrupten, nichtlinearen Wandels haben drei Schwierigkeiten: Wir wissen erstens noch nicht genau, wo das angestrebte Ziel liegt, zweitens werden wir auf dem Weg dahin Fehler machen, drittens bewegt sich das Ziel auch noch. Das „Missional Change Model“ soll dem gerecht werden und besteht aus fünf Schritten/Stufen/Phasen:

  1. Bewusstes Wahrnehmen: Oft ahnt eine Gemeinde schon längst, dass etwas nicht mehr stimmt. Dennoch fällt es den meisten schwer, was hinter den Gefühlen von Verwirrung und Beunruhigung steckt. Anstatt nun neue, allgemein verbindliche Ziele auszurufen und so „Klarheit“ zu schaffen, muss ein Raum geschaffen und müssen Begriffe gefunden werden, die das zur Sprache bringen.
  2. Verstehen: Denken und Fühlen muss zusammenfinden. In der Regel setzt das voraus, dass man beginnt, andere Fragen zu stellen. Woraus bestehen die Veränderungen, die wir erleben? Was hat sich in unserem Umfeld verändert? Welche gewohnten Denkmuster helfen nicht mehr weiter?
  3. Bewerten: Jetzt erst (nach 6-12 Monaten) kommt die Zeit, die Haltungen, Werte und Aktivitäten daraufhin zu überprüfen, ob sie den Veränderungen der Gemeinde und ihres Kontextes gerecht werden, warum manche Veränderungen so schwer fallen, wo man von anderen lernen und mit ihnen zusammenarbeiten könnte, und wo Strukturen und Prozesse überarbeitet werden müssen und vieles mehr. Das Gemeindeleben geht vorläufig ohne dramatische Veränderungen weiter, aber es werden sehr bewusst
  4. Experimente unternommen: Eine Gemeinde, die lange in der Performativen Zone war, wird sich vielen groß angelegten Veränderungen widersetzen, weil man sich das Neue so schlecht vorstellen kann. In den Köpfen dominiert immer noch das Bild dessen, was früher war und ja auch bis eben noch (scheinbar) gut funktionierte. Wenn an einem Auto immer wieder derselbe Defekt auftritt, kann es nötig sein, die Gewohnheiten der verschiedenen Autofahrer in der Familie zu untersuchen, statt immer wieder in die Werkstatt zu fahren. Kleine Experimente verhindern, dass Neues pauschal abgelehnt wird und schaffen Raum für Neues Denken und Verhalten. Dem scheinbar so bedrohlichen Chaos des Experimentierens wird begrenzt Raum gegeben.
  5. Sich Festlegen: Je länge die Experimente andauern und je besser sie verlaufen, desto mehr wird es tatsächlich vorstellbar, dass die Gemeinde anders leben könnte.

Die Offenheit für Neues ist unterschiedlich groß: Wenn man den Veränderungsprozess in Phase 1 mit 50% der Gemeindeglieder beginnt, werden nach rund 18 Monaten etwa 10% an diesen Punkt gelangt sein. Wenn die ersten 10% („innovators“) dann die nächsten 15% („responders“) mit auf die Reise nehmen, sind es nach 3 Jahren etwa 25%. Dann setzt allmählich eine Eigendynamik ein und in den nächsten 18 Monaten wird sich gut die Hälfte auf den neuen Kurs einlassen. Am Ende (und damit muss man auch rechnen) werden noch 10-25% übrig bleiben (oder eben nicht bleiben…), die das Neue nach wie vor ablehnen.

Für Leiter ist dieser Prozess ungemein anstrengend. Das regelmäßige Gebet und das offene Gespräch müssen tiefsitzende Gewohnheiten sein, wenn man nicht den Boden unter den Füßen verlieren will. Zudem geben Roxburgh und Romanuk noch diese Ratschläge:

  1. Eine Bestandsaufnahme des eigenen Wissens
  2. Ein 360 Grad Feedback zu Stärken und Schwächen als Leiter
  3. Zuhören
  4. Neue Schlüsselthemen und -gebiete erschließen
  5. Einen persönlichen Aktionsplan zur Weiterentwicklung
  6. Sich Einlassen

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Leitung einer missionalen Gemeinde (4): Die Kultur einer Gemeinde

Ich komme zum vierten Kapitel von The Missional Leader: Equipping Your Church to Reach a Changing World

Im westlichen Denken dominiert noch immer ein mechanistisches Weltbild. Wenn man nur die „Mechanik“ und die zugrundeliegenden Gesetze verstanden hat, kann man präzise voraussagen, wie sich ein Objekt verhalten wird. Mit solchen und ähnlichen Prämissen wird auch das Thema des Wandels in einer Gemeinde oft angegangen. Die Autoren setzen dagegen:

Erstens kann man eine Gemeinde nicht über Strukturen und Programme verändern, sondern man muss ihre Kultur verändern: Das Selbstbild, die Werte und ungeschriebenen Gesetze, die den Umgang der einzelnen mit einander regeln und die Gemeinschaft prägen. Zweitens geschieht dies nicht, indem man die Kultur ständig thematisiert, sondern indem man mit einander über die Schrift ins Gespräch kommt und deren Bedeutung für das tägliche Leben am Ort thematisiert. Drittens sind dazu viele winzig kleine Schritte erforderlich und keine große Vision, die von oben verkündet und an der alles ausgerichtet wird.

Ein paar Faktoren bestimmen die Kultur unserer Gemeinden schon längst: Dazu zählt, um mit Ulrich Beck zu sprechen, die Risikogesellschaft. Frühere Sicherheiten verschwinden, Wirtschafts- und Sozialsysteme versagen ebenso wie traditionelle Lebensformen und -strukturen, der Orientierungsverlust verursacht Ängste. Zugleich ist – so Zygmunt Bauman – der öffentliche Diskurs vom Rückzug in und auf das Private geprägt. Kommunikation ist in Zeitalter der Talkshows weitgehend narzisstisch geworden, so dass selbst die Bibel als Selbsthilferatgeber zur Therapie der jeweils eigenen Probleme angesehen wird und der Gottesdienst mit Musik und Predigt nur noch dazu dient, die eigene Stimmung wieder ins Lot zu bringen. Dagegen können Menschen die Kräfte, die ihnen Orientierung und Sicherheit genommen haben, gar nicht richtig benennen.

Um wieder sprachfähig zu werden, brauchen Menschen eine Geschichte, die über ihre persönlichen Bedürfnisse hinausreicht. Zumal unsere Kultur aus kurzfristig zusammengeklebten Fragmenten vergangener Geschichten auch keine gemeinsame Perspektive mehr ermöglicht. Geschichten sind für die Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit entscheidend, sie sind das dramatische Repertoire, mit dem wir uns ausdrücken können. Missionale Gemeinde entsteht, wenn eine bestimmte Geschichte den gemeinsamen Rahmen von Denken und Erleben prägt:

Die biblische Geschichte konfrontiert; sie stellt unsere Konstruktionen in Frage, dekonstruiert unsere Welt, und bietet uns die Möglichkeit, eine andere Lebensweise anzunehmen.

Im Erzählen unserer Geschichte und im Benennen der Dinge und Erfahrungen wirken wir mit an der Erschaffung unserer Welt – es ist ein kreativer Akt. Im Hören auf die Schrift und im Sprechen der Liturgie entsteht die Gemeinde als soziale Wirklichkeit. Wir sind in Geschichten und Traditionen hineingeboren, die schon am Laufen sind. Wenn die uns symbolische Sprache aber verloren geht, verlieren wir mit der Fähigkeit, die Realitäten des Lebens zu benennen, auch die Orientierung. Dann wird eine Gemeinde zur Zuflucht von Individuen, die sich nach Trost und Sicherheit sehnen, statt die Realität der Gottesherrschaft zu bezeugen.

Veränderungsprozesse in der Kultur der Gemeinde berühren auch die symbolische Welt der einzelnen. Gott begegnet uns nicht in der idealen Welt unserer Ideen und Prinzipien, sondern in der Realität unserer Welt als einem Ort der Bedrängnis und Ängste. Daher geht es zunächst darum, dass diese Dinge zur Sprache kommen in einer Gemeinde, und dass sie zu Gott in Beziehung gesetzt werden. Dazu müssen einige Hürden überwunden werden, vor allem das unwillkürliche Schweigen, das verhindert, dass wir bestimmte Gefühle thematisieren oder bestimmte Ansichten in Frage stellen. Zu dieser Offenheit gehört ein geschützter Rahmen, und den schenkt die Praxis der Gastfreundschaft:

In einer gastfreundlichen Umgebung können wir wahrhaftig sein über unsere Ängste und das verwirrende Leben in einer fremden Welt, wo sich die Bedeutung der Kirche verdunkelt hat und die Sprache, die wir gebrauchen, unsere Erfahrungen nicht mehr wiedergibt. Gastfreundschaft und Partizipation laden uns ein an einen Ort, wo wir wieder neu anfangen zu entdecken, dass die Geschichte des Einen in unserer Mitte uns auf einen anderen Weg ruft.

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Leitung einer missionalen Gemeinde (3): Drei Zonen

Im dritten Kapitel von The Missional Leader: Equipping Your Church to Reach a Changing World stellen die Autoren ein dreistufiges Phasenmodell vor, das ihre Erfahrungen mit missionalen Veränderungsprozessen veranschaulicht. Es gibt eine grüne, kreative Zone, eine blaue, stetige Zone und eine rote, krisenhafte. Sie alle können, ja müssen in verschiedenen Richtungen durchlaufen werden, wenn tatsächlich etwas anders werden soll.

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In der „emergenten“ Zone ist die Kultur einer Gemeinde von Innovation und Kreativität im Verhältnis zu ihrem Umfeld geprägt. Man lässt sich auf neue Dinge ein und wagt Experimente. Was einzelnen nicht gelingen kann, schaffen Grüppchen: Sie entdecken eine missionale Praxis und sind Gottes Zeugen in einer sich verändernden Umgebung. Aus diesem Zusammenwirken vieler in einem adaptiven System entsteht Emergenz. Sie ist nicht die Voraussetzung, sondern die Folge dieser Interaktionen, wie die Autoren von Surfing the Edge of Chaos erläutern. Immer wieder ist es die Begegnung mit der Schrift auf der einen und dem Kontext auf der anderen Seite, die die Entwicklung prägt und vorantreibt.

In der performativen Zone hat sich eine funktionierende Kultur entwickelt, die nun reproduziert werden kann. Es gibt klare Verfahrensweisen, umfassende Planung wird möglich und nötig, Spezialisierung setzt ein, Techniken und Methoden werden verfeinert, es entstehen Hierarchien und formalisierte Komitees, man legt Wert auf Effizienz. Das alles geht so lange gut, wie sich die Verhältnisse stabil entwickeln. Ist das nicht mehr der Fall, geht die Reise in den roten Bereich.

In der Reaktiven Zone wird die Organisation zunehmend von Verunsicherung, Verwirrung, Konflikten und Ängsten ergriffen. Die Verantwortlichen werden von der Entwicklung überrascht und reagieren, indem sie trotz schwindender Resourcen härter arbeiten, die Regeln energischer einklagen. Man versucht durch die Besinnung auf bisherige Erfolgsrezepte Stabilität zu schaffen. Irgendwann kommt der Punkt, wo diese Hoffnung sich zerschlägt.

Gemeindeglieder machen den Verantwortlichen Vorwürfe. Mitarbeiter ziehen sich zurück auf ihre Interessen oder Teilbereiche und ringen um deren Budget und Anerkennung. Es entstehen Parteiungen um zweitrangige Fragestellungen. Man versucht, die Kontrolle durch Regelwerke zurückzuerlangen. Unter dem Druck der Umstände legen Leiter ihre Verantwortung nieder. In der unteren Hälfte der reaktiven Zone begegnen wir der konfusen Gemeinde – seit den 90er Jahren ist das immer häufiger der Fall.

Eine große Versuchung für Leiter ist es, sich in BHAG zu flüchten: Big, hairy, audacious goals (große, haarige, gewagte Ziele). Man gibt neue, große Visionen aus, die die (auseinander?) driftende Gemeinde zusammenschweißen sollen. So hofft man auf eine Wiederholung der ansteigenden Kurve aus der oberen Hälfte der blauen Zone.

Stattdessen geht es zurück in die untere Hälfte der performativen Zone. Zu Beginn stehen Forderungen nach radikaler Aktion und mutiger Innovation und das Bemühen, etwas von der Tradition zu bewahren, die die Gemeinde bis dahin geprägt hat, gegenüber. Diese Polarität darf nicht durch einen Bruch zwischen Siegern und Verlierern „gelöst“ werden, sondern man muss lernen, sie auszuhalten. Das geht nur, indem man beharrlich das Gespräch sucht und lernt, einander zuzuhören. Es ist eine Phase der Verwundbarkeit, aber Symbole wie Wort, Sakrament und Gottesdienst können die fehlende Stabilität ersetzen. Es ist wichtig, dass das gelingt, damit eine Bewegung in die Experimentierfreudigkeit der emergenten Zone wieder möglich wird.

Nicht die äußere Veränderung, sondern die Unfähigkeit zur Bewältigung des Übergangs (d.h. sich auf die veränderten äußeren Verhältnisse einzustellen) stellt in der Diskontinuität des abrupten Wandels die eigentliche Herausforderung dar. Missionale Leitung bedeutet, sich in allen Phasen dieses Modells zurechtzufinden. Aktuell am gefragtesten sind Orientierung in den Prozessen der emergenten Zone. Denn früher oder später steht jede Organisation vor dieser Herausforderung.

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Weiblich, bissig, (relativ) jung sucht…

Anfang September ist Nadja Bolz-Weber in Deutschland unterwegs. Die Kombination von Kollar und Tatoos, derbem Humor und bewusst lutherischer Theologie macht die Pastorin der ELCA zu einer spannenden Gesprächspartnerin – längst nicht nur für Landeskirchler.

200907281245.jpgSie hat in Denver, Colorado, wo sie mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt, die Gemeinde House for all Sinners and Saints gegründet, wo es unter anderem ein B.Y.O.B. (Bring Your Own Brain) Bible Study gibt.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte Nadia Bolz-Weber ihr Buch Salvation on the Small Screen? 24 Hours of Christian Television, ein theologischer und soziologischer Kommentar der amerikanischen Medienlandschaft, basierend auf einem Selbstversuch, sich 24 Stunden dem TV-Programm des Bibelsenders Trinity Broadcasting auszusetzen. Die Auswertung des Buches geschieht auf hinreißende Art und Weise mit einem kritischen Blick und wachem Verstand aber auch mit einer gehörigen Portion Humor und komödiantischem Können.

Nadja bloggt als Sarcastic Lutheran und schreibt Beiträge für Jim Wallis‘ Blog God’s Politics.

Wer sie im Zeitraum vom 1. bis 5. September gerne für eine Lesung aus ihrem Buch, eine Predigt oder einen Vortrag (etwa über Gemeindegründungen in der lutherischen Kirche) einladen möchte, kann sich bei Sandra Bils melden (Mail und Telefonnummer auf Anfrage gern von mir),  die Nadja begleitet und auch übersetzt.

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Frühling mit Frost!

Die Tage mit Michael Frost waren ein echtes Highlight. Demnächst wird einiges von der Konferenz in Aarau online zu hören sein, aber wer es noch einrichten kann, sollte diese Woche in Essen vorbeischauen.

Michael sprach über missionale Gemeinde und fragte, was geschieht, wenn man nicht mehr wie bisher den Gottesdienst zum organisierenden Faktor des Gemeindelebens macht, sondern die gemeinsame Sendung. Und dann die anderen Grundfunktionen von Kirche – es sind vier: Gottesdienst (worship), Gemeinschaft (community), geistliche „Bildung“ (formation), Sendung (mission) – um die Sendung herum gruppiert.

Das führt direkt zu Fragestellungen wie: Zu wem sind wir gesandt? Wer geht mit mir? Wo begegnen wir diesen Menschen? Wie könnte/müsste/würde die universale Herrschaft Gottes bei diesen Menschen konkret aussehen?

Mike vermittelt diese Dinge authentisch, lebhaft und leidenschaftlich. Wer Alan Hirschs Ausführungen manchmal als etwas abstrakt und schematisch empfand, findet bei Mike einen gesunden Pragmatismus, der gleichwohl theologisch gründlich reflektiert ist. Sehr wohltuend war auch, dass Michael nicht die „ich-bin-missional-aber-nicht-emergent“-Karte gespielt hat. Ich denke, in Aarau ist bei vielen der Funke übergesprungen. Vielleicht kommt nun der missionale Frühling für Deutschland und die Schweiz. Hoffentlich dauerhaft!

Peter_Michael_III.jpg (Vielen Dank für das Foto an Mike Bischoff)

PS: Wer nicht nach Essen kann, kann jetzt – ganz neu – auf Deutsch Der wilde Messias: Mission und Kirche von Jesus neu gestaltet lesen.

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