Leitung einer missionalen Gemeinde (4): Die Kultur einer Gemeinde

Ich komme zum vierten Kapitel von The Missional Leader: Equipping Your Church to Reach a Changing World

Im westlichen Denken dominiert noch immer ein mechanistisches Weltbild. Wenn man nur die „Mechanik“ und die zugrundeliegenden Gesetze verstanden hat, kann man präzise voraussagen, wie sich ein Objekt verhalten wird. Mit solchen und ähnlichen Prämissen wird auch das Thema des Wandels in einer Gemeinde oft angegangen. Die Autoren setzen dagegen:

Erstens kann man eine Gemeinde nicht über Strukturen und Programme verändern, sondern man muss ihre Kultur verändern: Das Selbstbild, die Werte und ungeschriebenen Gesetze, die den Umgang der einzelnen mit einander regeln und die Gemeinschaft prägen. Zweitens geschieht dies nicht, indem man die Kultur ständig thematisiert, sondern indem man mit einander über die Schrift ins Gespräch kommt und deren Bedeutung für das tägliche Leben am Ort thematisiert. Drittens sind dazu viele winzig kleine Schritte erforderlich und keine große Vision, die von oben verkündet und an der alles ausgerichtet wird.

Ein paar Faktoren bestimmen die Kultur unserer Gemeinden schon längst: Dazu zählt, um mit Ulrich Beck zu sprechen, die Risikogesellschaft. Frühere Sicherheiten verschwinden, Wirtschafts- und Sozialsysteme versagen ebenso wie traditionelle Lebensformen und -strukturen, der Orientierungsverlust verursacht Ängste. Zugleich ist – so Zygmunt Bauman – der öffentliche Diskurs vom Rückzug in und auf das Private geprägt. Kommunikation ist in Zeitalter der Talkshows weitgehend narzisstisch geworden, so dass selbst die Bibel als Selbsthilferatgeber zur Therapie der jeweils eigenen Probleme angesehen wird und der Gottesdienst mit Musik und Predigt nur noch dazu dient, die eigene Stimmung wieder ins Lot zu bringen. Dagegen können Menschen die Kräfte, die ihnen Orientierung und Sicherheit genommen haben, gar nicht richtig benennen.

Um wieder sprachfähig zu werden, brauchen Menschen eine Geschichte, die über ihre persönlichen Bedürfnisse hinausreicht. Zumal unsere Kultur aus kurzfristig zusammengeklebten Fragmenten vergangener Geschichten auch keine gemeinsame Perspektive mehr ermöglicht. Geschichten sind für die Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit entscheidend, sie sind das dramatische Repertoire, mit dem wir uns ausdrücken können. Missionale Gemeinde entsteht, wenn eine bestimmte Geschichte den gemeinsamen Rahmen von Denken und Erleben prägt:

Die biblische Geschichte konfrontiert; sie stellt unsere Konstruktionen in Frage, dekonstruiert unsere Welt, und bietet uns die Möglichkeit, eine andere Lebensweise anzunehmen.

Im Erzählen unserer Geschichte und im Benennen der Dinge und Erfahrungen wirken wir mit an der Erschaffung unserer Welt – es ist ein kreativer Akt. Im Hören auf die Schrift und im Sprechen der Liturgie entsteht die Gemeinde als soziale Wirklichkeit. Wir sind in Geschichten und Traditionen hineingeboren, die schon am Laufen sind. Wenn die uns symbolische Sprache aber verloren geht, verlieren wir mit der Fähigkeit, die Realitäten des Lebens zu benennen, auch die Orientierung. Dann wird eine Gemeinde zur Zuflucht von Individuen, die sich nach Trost und Sicherheit sehnen, statt die Realität der Gottesherrschaft zu bezeugen.

Veränderungsprozesse in der Kultur der Gemeinde berühren auch die symbolische Welt der einzelnen. Gott begegnet uns nicht in der idealen Welt unserer Ideen und Prinzipien, sondern in der Realität unserer Welt als einem Ort der Bedrängnis und Ängste. Daher geht es zunächst darum, dass diese Dinge zur Sprache kommen in einer Gemeinde, und dass sie zu Gott in Beziehung gesetzt werden. Dazu müssen einige Hürden überwunden werden, vor allem das unwillkürliche Schweigen, das verhindert, dass wir bestimmte Gefühle thematisieren oder bestimmte Ansichten in Frage stellen. Zu dieser Offenheit gehört ein geschützter Rahmen, und den schenkt die Praxis der Gastfreundschaft:

In einer gastfreundlichen Umgebung können wir wahrhaftig sein über unsere Ängste und das verwirrende Leben in einer fremden Welt, wo sich die Bedeutung der Kirche verdunkelt hat und die Sprache, die wir gebrauchen, unsere Erfahrungen nicht mehr wiedergibt. Gastfreundschaft und Partizipation laden uns ein an einen Ort, wo wir wieder neu anfangen zu entdecken, dass die Geschichte des Einen in unserer Mitte uns auf einen anderen Weg ruft.

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6 Antworten auf „Leitung einer missionalen Gemeinde (4): Die Kultur einer Gemeinde“

  1. Ich finds immer noch sehr interessant. Wie ist das Buch denn geschrieben – liest sich das gut? Würdest du es zum Kauf empfehlen oder hat man die Grundgedanken schon mit deinen Posts hier mitbekommen und viel mehr gibt es nicht zuentdecken?

    1. Also, ich habe das natürlich sehr kondensiert und vor allem die gelegentlichen Beispiele weggelassen. Die sind schon ab und an recht erhellend. Das Buch ist gut lesbar, manches könnte man auch etwas straffer formulieren, aber das längere Lesen nimmt einen in den Prozess gut mit rein.

  2. Das so zu lesen ist wie eine einzige Ermutigung, dass wir alle miteinander auf einem sehr guten Weg sind 😉

    Wo ich allerdings widersprechen würde, sind, sofern ich sie richtig verstanden habe, die Schlussfolgerungen in dem 2. Absatz: Ich frage mich, warum so Vieles immer als Entweder-Oder formuliert werden muss, als ein „bisher wurde fälschlicherweise angenommen, dass … wir wissen neuerdings: so ist es richtig“. Das fällt mir immer wieder bei neueren Büchern auf: Die Sache mit dem Kind und dem Bad … Kultur braucht Struktur und Programme, wenn sie nicht zur Selbstbeschäftigung verkommen möchte; Kultur muss expliziert werden um sie anhand der Schrift kritische zu hinterfragen und zu korrigieren und ohne eine Vision wohin etwas gehen soll, fehlt auch den einzelnen kleinen Schritten die Rationale. Für mich ergibt sich aus unserer „großen Geschichte“ auch die Vision für die Gemeinde.

    1. Das hast Du m.E. missverstanden, Michael. Eine funktionierende Kultur (in der performativen Zone) wird passende Programme hervorbringen, aber um sie zu verändern (und darum geht es in diesem Kapitel) taugt eben gerade kein Programm im klassischen Sinn, sondern es muss ein offener Raum geschaffen werden, in dem man sich der Realität stellt, die eigenen Fragen und Ratlosigkeit zur Sprache bringen und gemeinsam nach Lösungen suchen kann. Sonst hat man altes Denken in neuen Programmen, die sich über kurz oder lang dann doch totlaufen…

  3. Danke für diese Zusammenfassung. Ich befasse mich zwar nicht mit dem Grundthema „Missionale Gemeinde“, aber mich beschäftigt schon länger die Frage, ob und inwieweit die Kultur unserer Gemeinden den Glauben nicht manchmal mehr prägt als wir meinen. Und vielleicht sogar mehr als es die Schrift tut …
    Kultur bedeutet hier für mich sogar eher die „interne“ Kultur, sozusagen der gemeindliche und/oder der jeweilige denominationelle Stallgeruch denn die Kultur der Welt um uns rum.

    Nicht so gut klar komme ich mit der Frage, inwieweit Risikogesellschaft für den oben beschriebenen Prozess gut oder schlecht ist. Eigentlich leben wir ja in manchem bewusst gegen gesellschaftliche Trends (jedenfalls hoffe ich das). Insofern mag eine gewisse Beharrlichkeit (z.B. im Bereich traditionelle Familie) leicht verwechselbar erscheinen mit „sich gegen Veränderungen stemmen“. Aber sicher, Peter, wirst Du für mich diesen Knoten gern auflösen …

  4. Ha, auflösen 🙂

    Ich denke, das Kulturproblem ist ein doppeltes: Wir sind alle mehr Kinder unserer modernen Konsumkultur, als wir gemeinhin annehmen, und dann kommt – Thema Stallgeruch – noch eine kirchliche Subkultur dazu.

    Risikogesellschaft: Theoretisch könnten diese Risiken glaubensfördernd sein (auf wen außer Gott sollte man sich noch verlassen?), praktisch gelingt das den allerwenigsten Christen, die den Verlust bisheriger Sicherheiten noch nicht verdaut haben bzw. ihn dadurch kompensieren wollen, dass sie Gemeinde als Hort der Stabilität und Zuflucht betrachten. Und wenn dann dort auch noch von Veränderung geredet wird, dann bricht die Panik aus. Traditionelle Familie (darüber wird in Gemeinden auch kaum geredet) steht heute unter einem ganz immensem Druck (unbedingt mal Beck dazu lesen!), der in der Regel unbewusst bleibt und deshalb auch unbewältigt, und zwar auch bei denen, die sie prinzipiell bejahen (vgl. die Scheidungsraten unter US-Evangelikalen).

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