Wahrheitsfanatiker

Bonhoeffer (Ethik, S. 388) kannte unsere Medienlandschaft noch nicht, aber sie hätte ihm wohl kaum überrascht:

Es ist der Zyniker, der unter dem Anspruch, überall und jederzeit und jedem Menschen in gleicher Weise “die Wahrheit zu sagen”, nur ein totes Götzenbild der Wahrheit zur Schau stellt. Indem er sich den Nimbus des Wahrheitsfanatikers gibt, der auf menschliche Schwachheiten keine Rücksicht nehmen kann, zerstört er die lebendige Wahrheit zwischen den Menschen. Er verletzt die Scham, entheiligt das Geheimnis, bricht das Vertrauen, verrät die Gemeinschaft, in der er lebt, und lächelt hochmütig über das Trümmerfeld, das er angerichtet hat, über menschliche Schwäche, die “die Wahrheit nicht ertragen kann”. Er sagt, die Wahrheit sei zerstörerisch und fordere ihre Opfer, und er fühlt sich wie ein Gott über den schwachen Kreaturen, und weiß nicht, dass er dem Satan dient.

Technorati Tags: , ,

Share

Alles nicht so einfach?

Unter dem Titel Die Diana-Politik setzt sich der SZ-Autor Tobias Kniebe, zehn Jahre nach deren tödlichen Unfall, mit Prinzessin Diana als einer Pop-Ikone des glamourösen Gutmenschentums auseinander. Sein Fazit: Politik ist schwerer geworden, weil wir so gerne alles einfach hätten, und unsere Stars diese Illusion perfekt bedienen:

Wenn es ein Problem mit dieser neuen Politik der Prominenz gibt, die man in memoriam auch Diana-Politik nennen könnte, hier ist es: Sie kann Themen ins Bewusstsein rücken, Aufmerksamkeit schaffen, öffentlichen Druck erzeugen – aber die Kräfte, die sie entfesselt, sind leider nicht geeignet, mit irgendeiner Form von Komplexität umzugehen. Während gleichzeitig die Weltprobleme, die sie zu lösen vorgibt, erschreckend komplex sind.

Dianas Vermächtnis ist auch der Triumph der großen Vereinfacher, die den Kampf um das kostbare Gut unserer Aufmerksamkeit längst für sich entschieden haben. Die wenigsten aktuellen Entscheidungsträger glauben wirklich, dass es für irgendetwas einfache Lösungen gibt. Aber je öfter sie dafür bestraft werden, dass sie keine schnellen Antworten wissen, desto unmöglicher wird es für das kollektives Bewusstsein, Komplexität auszuhalten.

Es findet eine Art öffentlicher Bewusstseinsspaltung statt (und ganz ehrlich habe ich mich dabei auch gefragt, wie schlau es ist, dass Christen begeistert die Bono-Karte spielen und sich dabei vielleicht – immer noch oder schon wieder – die moralische Überlegenheit heraushängen lassen), denn:

Für die schmutzigen Jobs, die wir insgeheim erledigt wissen wollen (Verteidigung unseres Wohlstands, Abschottung unserer Grenzen, Terrorbekämpfung) nehmen wir die gewählten Regierungen in die Pflicht. Für die Darstellung unserer besseren Seiten, wie Großmut, Mitgefühl und globaler Verantwortung, suchen wir uns Stellvertreterfiguren jenseits der Politik.

Technorati Tags: , , ,

Share

Aus dem Nähkästchen

Man ahnt die Diskussionen und Spannungen im Hintergrund, wenn Joe Hays und Rob Bell in einem zweistündigen Podcast (manches wiederholt sich nach einer guten Stunde, da es mehrere Q&A Sessions hintereinander sind) vom 6. Mai Fragen zur Entwicklung der Mars Hill Gemeinde beantworten. Simon, Toby und Tobias denken über Christsein nach, das die Gesellschaft verändert, und was die theologischen und geistlichen Voraussetzungen dafür sind. Marlin schreibt, dass wir missionale Geschichten brauchen. Das hier ist eine, die in ihrer Ehrlichkeit Mut macht.

In dieser Session spricht Rob über seine persönliche Entwicklung, seinen Umzug vom Mittelklasse-Stadtrand in die heruntergekommene Innenstadt, und warum er den Dienst an Armen und Randgruppen für die entscheidende Möglichkeit hält, das Christentum wieder gesellschaftlich relevant werden zu lassen. Oder wie man über partei- (und kirchen!) politische Gräben hinweg trotzdem gesellschaftlich (und damit auch politisch) engagiert sein kann.

Die nächste Predigtreihe für Juli macht neugierig; sie heißt: God is Green. Passt gut zum Motto von Mars Hill: Wir schließen uns Gott an in der Wiederherstellung aller Dinge, indem wir uns ganz einer Revolution der Liebe verschreiben. Wir sehnen uns danach, unseren Nächsten und unserer Welt Hoffnung und Gerechtigkeit zu bringen.

Technorati Tags: , , ,

Share

Jugendgrammatik

Beim Thema Jugendsprache wird ja immer wieder auf alle möglichen neuen Begriffe hingewiesen, die der normale “Erwachsene” nicht kennt. Nun habe ich in Tischgesprächen zuhause entdeckt, dass sich auch die Grammatik ändert:

Es heißt jetzt nicht mehr “das war ein saudummer Spruch” sondern “das war sau der dumme Spruch”. Im Sinne der paradoxen Intervention über ich nun die Redefigur und mache schon sau die großen Fortschritte dabei. Ich ernte sau die überraschten – oder genervten – Blicke, wenn ich sau die komischen Sachen sage.

So mancher Saudi Araber wäre begeistert…

Apropos Kinder und Paradox – Paul Watzlawick, der am 31. März dieses Jahres starb, definierte Reife so:

Die Fähigkeit, das Richtige auch dann zu tun, wenn die Eltern es empfehlen.

Technorati Tags: , ,

Share

Zeit und/oder Ewigkeit?

N.T. Wright spricht beim Calvin Institute über “Space, Time, Matter, and New Creation” (der Tipp kam von Tobias). Neben vielen anderen interessanten Details sagt er dort, dass er nicht an eine “zeitlose Ewigkeit” glaubt. Gott hat die Zeit geschaffen, und zwar nicht, um sie wieder aufzuheben. Wir hatten die Diskussion ja neulich schon mal kurz.

Gleichzeitig kann uns in der linearen Zeit die Zukunft quasi entgegen kommen und die Vergangenheit zu uns aufschließen: In den Sakramenten etwa begegnet uns Gott, und mit ihm wird Vergangenes (“das Kreuz”) und Zukünftiges (die neue Schöpfung) plötzlich gegenwärtig und kann unser Hier und Jetzt verändern. Auch wenn man sich an den Gedanken gewöhnen muss – das sind nicht bloß Spitzfindigkeiten.

Dscf0162

Technorati Tags: , , ,

Share

Glaube und positive Energie

Marcel Brenninkmeijer hat sich beim Familienbetrieb C&A ausgeklinkt und investiert in Ökostrom. Sein Leben ist dadurch sinnvoller und seine Tätigkeit interessanter geworden, erzählt er dem Spiegel:

Mit Menschen zusammenzuarbeiten, die pure Geschäftsleute sind, macht mir wenig Spaß. Man hat auf Dauer nur Erfolg, wenn man Idealismus mit bodenständigem Denken verbindet. In der Cleantech-Branche gibt es diese Art Mensch zum Glück ziemlich oft.

Es geht um mehr als nur Profit, und manchmal muss eine Investition seiner Firma Good Energies auch gar keinen Gewinn abwerfen. Das hat nicht nur am Rande mit seiner christlichen Überzeugung zu tun – auch eine Art positive Energie:

Wenn man Katholik ist wie ich, dann versucht man die Welt nicht schlechter zu hinterlassen, als man sie vorgefunden hat. Die Bewahrung der Schöpfung ist selbstverständlich für mich. Ich könnte nicht wie im Moment am Limit arbeiten, wenn ich nicht das Gefühl hätte, etwas Gutes zu tun.

Technorati Tags: , ,

Share

Mittsommersonntag

Tags über zog die warme Sommersonne süßen, schweren Duft aus den Wiesen und der Wind hauchte ihn über den Weg. Am Abend schob er dann von Westen taubenblaue Schäfchenwolken über den Himmel, der im Nordosten noch orange und lila funkelt und dem Abendstern seinen gewohnten Auftritt schwer machte. Der Mond steht halb voll und leicht benebelt im Süden und spiegelt sich im Rotweinglas.

Das Gras beginnt, nach Tau zu riechen. Aus den Gärten steigen tollpatschige braungepanzerte Flugkünstler auf, die trunken gegen Bäume und Hauswände brummen. Ein Geschwader Schwalben dreht schrill tönend Kreise über den Dächern und sinkt dabei allmählich tiefer herab. Die Straße hinter den Häusern wird ruhiger, die letzten Kinderstimmen sind verstummt. Der Horizont zieht meinen Blick an, die Gedankenzüge fahren nur noch Schrittempo. Im Hinterkopf der flüchtige Gedanke an kürzere Tage, ein bisschen Wehmut unter dem Gefühl von Heimat. Ich bin in einer Juninacht geboren – und nie so lebendig wie jetzt.

Technorati Tags:

Share

Vorsicht vor Intellektuellen

… ist zumindest dann geboten, wenn man Ehrlichkeit erwartet. Dass dies laut Readers Digest Wertekanon in Deutschland nach wie vor der wichtigste Wert ist, geht auf das Konto der einfachen Leute:

Je höher der Bildungsgrad der Befragten ist, desto seltener wählten sie Ehrlichkeit als den wichtigsten Wert. So setzten 46 Prozent der Befragten mit Volksschulabschluss und 37 Prozent derjenigen mit einer Lehre die Ehrlichkeit auf Platz eins, aber nur 30 Prozent der Menschen mit Abitur oder Hochschulabschluss.

 Images Flyer 2007-07

Technorati Tags: , ,

Share

Die drei “R” in “Terror”

Die Politikwissenschaftlerin Louise Richardson, als Katholikin in Nordirland aufgewachsen und nun Harvard-Dozentin und Leiterin des Radcliffe Institute for Advanced Study, ist in Interviews und Planspielen der Logik von Terroristen verschiedenster Couleur auf den Grund gegangen, berichtet die FAZ. Sie unterscheiden sich praktisch kaum von normalen Menschen in Denken und Erscheinung: Sie sind weder verrückt noch amoralisch. Daher ist es auch nicht immer klug, das Gespräch mit ihnen kategorisch abzulehnen.

Im Gegensatz zu friedlichen Revolutionären äußern ihre Führer aber nur schwammige, unpräzise Zukunftsvisionen. So sind es schließlich drei Faktoren, die Terroristen kennzeichnen: Rache für ein vermeintliches oder tatsächlich erlittenes Unrecht zu nehmen, durch den unbeugsamen Kampf schließlich Ruhm zu erlangen, notfalls auch erst postum, und den Gegner zu einer Reaktion zu zwingen – irgendeiner Reaktion, möglichst drastisch natürlich. Wenn die USA oder “der Westen” ihnen wie im Fall von Al Qaida militärisch den Krieg erklärt, dann bekommen sie, was sie wollten.

Richardson hält weitere Anschläge vor allem in Europa für extrem wahrscheinlich. Aber sie ist auch überzeugt davon, dass wir die Kraft haben, den Terror zu überwinden. Christen können sicher einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, Angst zu überwinden, gewaltfrei zu leben, und für Versöhnung zwischen Opfern und Tätern zu arbeiten. Und vor allem: Bessere Zukunftsvisionen zu entwickeln und zu verbreiten.

Ein Interview mit Richardson gibt es – auf Englisch – hier als mp3.

Technorati Tags: , , , ,

Share

Hübsch und dünn

Nein, hier geht es nicht um Supermodels: Diese Woche flatterten mir die Prospekte mehrerer christlicher Verlage ins Haus. Ich blätterte eine Weile darin und war etwas erschlagen vom Übergewicht der Tu-Dir-Mal-Was-Gutes-Geschenkartikelchen, bunter Bildbändchen mit eingestreuten erbaulichen Textschnipseln und der frommen Romane mit Romantik-Cover. Ach ja, Selbsthilfeliteratur – vor allem im Partnerschaftsbereich – gehört auch zum Grundbestand.

Ich widerstehe der großen Versuchung, mich hier über einzelne Titel lustig zu machen. Nun kenne ich ja auch ein paar Verlagsleute, die darüber klagen, dass Christen immer weniger lesen. Genauer: Christen lesen fast nichts, während Christinnen wenigstens ab und zu mal ein Buch kaufen. Aber auch dann bitte nichts Anstrengendes. Die Wellness-Mentalität hat voll durchgeschlagen, was sich unübersehbar in der Gestaltung der Prospekte und Cover (lindgrün und lattemacchiatobraun) widerspiegelt.
Vielleicht überzeichne ich das Problem hier, aber ich bin doch etwas beunruhigt wegen der anscheinend wachsenden Tendenz, Gott vorwiegend zum Faktor des eigenen Wohlgefühls zu machen. Wo soll das eigentlich noch hin führen? Zumindest scheinen die Verlage ihre Kunden (wohl aufgrund der Verkaufszahlen) so einzuschätzen – auch wenn sie pragmatisch denken und die leichte Kost nutzen, um Geld zu verdienen, weil die gehaltvolleren Sachen, die sie nach wie vor auch anbieten, wirtschaftlich riskant sind. Und genau die werde ich auch weiterhin kaufen und verschenken. Jetzt erst recht. 🙂

Technorati Tags: ,

Share

Besuch aus Armenien

Dscf2507Heute morgen war Petros Malakyan aus Armenien ein paar Stunden hier. Wir haben uns über Alpha kennen gelernt, in London vor zwei Jahren. Petros hat nach dem Erdbeben von 1988, wo er seine Frau aus den Trümmern retten konnte, aber sonst alles verlor, Armenien verlassen und bei Verwandten in Kalifornien gelebt. Dort hat er am Fuller Seminary Theologie studiert und ging Ende der 90er Jahre – mit zwei in den Staaten geborenen Kindern – zurück in die Heimat.

Als Evangelikaler (sein Vater wuchs in einem Waisenhaus in Griechenland auf, das von einer dänischen Baptistin geleitet wurde) entschloss er sich, der orthodoxen apostolischen Kirche Armeniens beizutreten. 90% der Bevölkerung gehören ihr an, und die Armenier als erste christliche Nation der Welt hatten unter allen möglichen Invasoren zu leiden; zuletzt unter dem Völkermord von 1915 in der heutigen Türkei, der 1,5 Millionen Armenier das Leben kostete und nach dem nur 10% des ursprünglichen Siedlungsgebietes übrig blieb. Die Armenier sind ein Volk, das unter Leiden und Fremdherrschaft seine christliche Identität behauptet und bewahrt hat. Zwei Drittel von ihnen leben in der Diaspora – praktisch überall auf der Welt. So gesehen sind sie den Juden ein bisschen ähnlich. Und den keltischen Christen, wenn man die Kunst und Ornamentik betrachtet.

Petros ist inzwischen von seiner Kirche zum Subdiakon geweiht. Er trainiert junge Leiterinnen und Leiter. Zusammen mit einem Erzbischof seiner Kirche hat er einen Alpha-Kurs für Behinderte durchgeführt und seine Mitarbeiterin Iveta arbeitet erfolgreich unter armenischen Künstlern. Zu dem Sonntagsschulen auf den Dörfern kommen bis zu 500 Kinder. Nominelles Christentum hat seine vielfältigen Probleme, aber dafür gibt es keine Kluft zwischen Kirche, Gesellschaft und Kultur bei ihnen – das ist noch richtige Volkskirche. Hier wie da arbeiten wir allerdings auf vielfältige Weise daran, dass Menschen im Glauben wachsen.

Sie wünschen sich sehr den Kontakt zu Christen hier bei uns. Es gibt eine ganze Reihe materieller Bedürfnisse, da das Durchschnittseinkommen junger Leute oft unter 100 $ im Monat liegt und sie davon kaum gemeindliche Infrastruktur wie robuste Kleinbusse ohne elektronischen Schnickschnack oder einfache Hütten für Freizeiten und Trainingswochenenden finanzieren können. Ich fände es toll, wenn wir ihnen dabei helfen könnten und zugleich vielleicht auch etwas von ihrem unverwüstlichen und leidensfähigen Glauben lernen. Hat jemand Interesse? Ich kann den Kontakt gern vermitteln.

Technorati Tags: , ,

Share

Glaube vs. Versicherungen (4): Beispiele tragender Gemeinschaft

Erst einmal danke für alle ehrlichen Kommentare an dieser Stelle. Ich taste mich noch vorwärts. Während ich dies schreibe, erfahre ich von Stephan, dass es bei The Simple Way gebrannt hat. Wenn das Leben gerecht wäre, bin ich versucht zu sagen, dann hätte das irgendwelche Egoisten getroffen. Andererseits haben wir die Chance, Solidarität mal praktisch werden zu lassen. Zum Beispiel durch eine online-Spende.

In unserer Runde am Montag merkte ein Teilnehmer an, das Experiment der Gütergemeinschaft in der Urgemeinde habe sich ja auch nicht durchgesetzt (ob die Tatsache, dass Paulus später sammeln musste, damit etwas zu tun hat, bezweifle ich, aber es darf hier ruhig offen bleiben).

Die andere Seite ist die, dass das Christentum seinen Siegeszug im römischen Weltreich nicht zuletzt auch dem nachhaltigen Eindruck verdankt, den das Engagement für die Armen hinterließ – die Armen in der Gemeinde und viele Arme darüber hinaus. Der Römer Lukian schreibt über die Christen:

Ihr erster Gesetzgeber hat ihnen die Überzeugung beigebracht, dass sie alle untereinander Brüder seien; sie entwickeln eine unglaubliche Rührigkeit, sobald sich etwas ereignet, was ihre gemeinschaftlichen Interessen berührt; nichts ist ihnen alsdann zu teuer.

Und der Kirchenvater Tertullian kann mit breiter Brust sagen:

Die Sorge für die Hilflosen, die wir üben, unsere Liebestätigkeit, ist bei unseren Gegnern zu einem Merkmal für uns geworden (…): ,Sieh nur‘, sagen sie, ,wie sie sich untereinander lieben‘ – sie selber hassen sich nämlich untereinander -, und wie einer für den anderen zu sterben bereit ist‘; sie selbst wären eher bereit, sich gegenseitig umzubringen.

Die Erweckungsbewegungen im 19. Jahrhundert brachten neue Antworten auf die soziale Frage hervor, und auch wenn heute Diakonissen rein optisch wie ein leichter Anachronismus wirken – das war eben die damalige Version eines neuen Mönchtums. Sie nahmen sich der Waisen, Behinderten, Kranken und Benachteiligten an. Oft waren es einzelne Pioniertypen, die ihre Gemeinden mobilisierten und Geld auftrieben, um der Not des Industrieproletariats zu begegnen.

Heute haben wir das Problem, dass Diakonie und Werke sich an manchen Stellen so weit von den Gemeinden entfernt haben, dass sie (auch zum Leidwesen vieler ihrer Mitarbeiter) zu spezialisierten und professionalisierten kirchlichen Sozialkonzernen zu werden drohen und an vielen Stellen aufgrund der Zuschüsse staatlichen Richtlinien unterworfen und damit nicht sehr flexibel sind. Andererseits wäre dort für die Gemeinden eine Menge an Kompetenz und Fachwissen abrufbar, mit dem man eine gemeindebezogene “Solidargemeinschaft” aufbauen könnte.

Zum Schluss also folgende naive Frage: Wenn wir alle – oder viele von uns – das Geld, das wir für Versicherungen ausgeben, die wir nicht unbedingt brauchen und zu denen wir nicht verpflichtet sind, in einen Topf einzahlen, für dessen Verwendung es klare Statuten und kompetente Entscheider gibt, käme ein beachtlicher Betrag zusammen. Wenn diese Mittel sich verbinden würden mit dem Willen vieler Gemeindeglieder, sich für einander und andere Menschen in konkreter Nächstenliebe einzusetzen, dann wäre schon viel möglich. Unsere Versicherungen verdienen doch prächtig an uns, obwohl sie von vielen “Kunden” betrogen werden. Das Geld kann dann in andere Dinge gesteckt werden als in deren Glaspaläste. Zum Beispiel in ethische und ökologische Fonds und in neue Jobs.

Und wenn das mit den weniger wichtigen Versicherungen klappt, dann geht es vielleicht eines Tages auch mit der Gesundheit und der Rente. Denn wer weiß, wie lange das noch akzeptabel funktioniert…?

Technorati Tags: ,

Share

Tödlicher Machtrausch

Die Zeit beleuchtet den Hintergrund des Doppelmords im mecklenburgischen Tessin und zeichnet ein behutsames, aber gerade deshalb um so erschreckenderes Portrait des Haupttäters Felix D., für dessen Eltern im Januar 2007 eine Welt zusammenbricht:

Felix. Der intelligente Junge, der erfolgreiche Gymnasiast, der wohlerzogene Sohn, der jedermann höflich grüßte. Er war keiner von jenen Tunichtguten, die ihren Eltern schlaflose Nächte bereiten. (…) Nie hatte die Polizei Felix irgendwo aufgreifen und nachts nach Hause bringen müssen, nie war er laut oder hinter Mädchen her gewesen, nie hatte er gepöbelt oder sich geprügelt. Er trank nicht, er klaute nicht, ging selten auf Partys. Rauschgift, Motorradgangs oder andere jugendliche Verirrungen, mit denen viele Eltern über Jahre zu kämpfen haben, blieben den D.s erspart. Ihr Felix war anders: verlässlich, vernünftig, verantwortungsvoll. Ein guter Bursche, ein zuversichtlicher Ausblick in die Zukunft. Jedenfalls bis zum 13. Januar 2007 – da nämlich lagen gegen 22 Uhr zwei blutüberströmte Leichen im Backsteinhaus Dorfstraße 22. Niedergemetzelt mit Küchenmessern. Von Felix, dem Musterknaben.

Wer den langen Artikel zu Ende lesen will (was ich sehr empfehle!), klickt hier.

Technorati Tags: ,

Share

Glaube vs. Versicherungen (3): rückhaltlos vertrauen?

Gott garantiert uns kein Leben ohne Leid. Bei allem Vertrauen wäre das eine irrige Erwartung, dass Unfälle, Krankheiten oder Verbrechen immer nur die anderen treffen. Unsere Versicherungen können Leid nicht verhindern, aber die Folgen etwas lindern – so lange es um finanzielle Folgen geht. Wir brauchen sie, weil unser Beziehungsnetz im hoch individualisierten Westen das in der Regel nicht mehr leistet.

Die Suche nach einer Alternative zu kommerziellen Versicherungen (die, das hatte ich beim letzten Post vergessen, unser Geld möglichst gewinnbringend, aber eben nicht immer möglichst segensreich im Sinne von Mitmenschen und Schöpfung anlegen) stößt uns auf die Frage, wie belastbar und tragfähig Beziehungen unter Christen sind – ob sie uns menschlich wie materiell so viel Halt geben, dass wir aus anderen Versicherungen guten Gewissens aussteigen können. Aber welche Gemeinde hat einen Topf für unerwartete Nöte und Schicksalsschläge, und wo wäre Kranke, Alte und Behinderte über viele Jahre gut aufgehoben? Und schränkt die Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft, wenn es sie denn gäbe, unsere Mobilität nicht gravierend ein, weil es uns an einen Ort dauerhaft bindet?

Gibt es Vorbilder? Shane Claiborne berichtet in Ich muss verrückt sein, so zu leben. Kompromisslose Experimente in Sachen Nächstenliebe davon, dass sie bei The Simple Way ein Art Geldpool statt der üblichen (aber in den USA nicht sebstverständlichen) Krankenversicherung eingerichtet haben. Das wäre zum Beispiel so ein Schritt. Aber wem wird eigentlich nicht mulmig dabei, sich anderen so rückhaltlos anzuvertrauen, dass man am Ende tatsächlich auf sie angewiesen wäre?

Technorati Tags: , , ,

Share