Wahrheitsfindung im Internet-Zeitalter

Kürzlich erfuhr ich zum ersten Mal, dass die Existenz des HIV-Virus umstritten sei. Alles nur eine Lüge der Pharmakonzerne, um ihre teuren und schädlichen Produkte unters ahnungslose Volk zu bringen? Als medizinischer bzw. molekularbiologischer Laie habe ich nur die Wahl, wem ich glauben will, nicht ob ich etwas davon glaube.

Das wiederum ist nichts Besonderes: Die Erderwärmung wird – ebenfalls von einer Minderheit – bestritten, die jedoch behauptet, von der Medienmacht der Mehrheit (zumindest außerhalb des Einflussbereichs von George W. Bush) mundtot gemacht zu werden, ebenso wie die AIDS-Dissidenten oder die Holocaust-Leugner. Die Auflistung allein zeigt schon, dass ich dazu neige, diese Position als eine weitere absurde Verschwörungstheorie einzustufen. Während ich mir beim Holocaust relativ sicher bin (und der Mondlandung, denn die habe ich ja selbst im Fernsehen gesehen als kleiner Junge…), kann ich mich bei AIDS irren. Oder beim Klima. Derzeit halte ich es für unwahrscheinlich, weil ich nicht so ganz sehen kann, wie eine solche umfassende Manipulation hätte geschehen können.

Zu Weihnachten wird wieder eine Illustrierte mit einem Jesus-Artikel aufwarten, der unter Berufung auf eine seit 50 Jahren überholte Theorie behauptet, nun sei der Beweis erbracht, dass damals alles ganz anders war, als wir immer glaubten. Das Ganze beleuchtet die Schwierigkeit der Wahrheitsfindung im pluralistischen Internet-Zeitalter: In jeder wissenschaftlichen Disziplin gibt es zu jedem beliebigen Thema mehr als eine Meinung. Das ist erst einmal eine gute Sache, denn die Alternative wäre totalitärer Meinungsterror. Aber es stellt mich vor die Frage, an welchen Kriterien ich „Wahrheit“ nun erkenne, wenn ich die jeweils behaupteten „Fakten“ nicht kenne (bzw. es gar keine reinen, objektiven, absoluten und eindeutigen Fakten gibt). Es gibt schlicht keine Autorität, die in diesem Meinungsstreit entscheidet.

Oder vielleicht doch? Wird die Meinungsbörse Internet heimlich von Google und seinen Konkurrenten (aber wer sagt, dass es nicht Komplizen sind?) so manipuliert, dass in der vermeintlichen Vielfalt die tatsächliche Wahrheit als einzige doch unterschlagen wurde? Dann wäre die Suche reine Zeitverschwendung. Umgekehrt kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass im Zweifel die Mehrheit Recht hat. Man darf nur nicht daran zweifeln, dass die Meinung der Mehrheit irgendwo tatsächlich erkennbar abgebildet ist. Wer glaubt schließlich noch Statistiken, die er nicht selber gefälscht hat?

Trotzdem: Jeder glaubt irgendwas – auch der, der meint, niemandem glauben zu können. AIDS und der Holocaust sind ja kein rein logisches Problem. Ich muss mir also neben den Argumenten auch die Vertreter der jeweiligen Positionen ansehen und mich fragen, wen ich warum für glaubwürdig halte. Da spielt dann neben der Ratio auch die Intuition eine Rolle, ebenso wie der Austausch mit anderen Menschen. Trotzdem – kein Wunder, dass viele Menschen resignieren und nur noch die subjektive Wahrheit des eigenen Erlebens für wichtig halten. Verheerend dagegen, wenn die Skepsis dazu führt, dass wir nicht entschlossen auf die tatsächlich vorhandenen Probleme reagieren.

Zu allem Unglück gibt es christliche Subkulturen, die eine gewisse Außenseiter- und Verfolgungsmentalität pflegen und daher eine psychologische Affinität zu Dissidenten aller Art entwickelt haben. Früher war es der Solidarisierungsreflex mit Antikommunisten aller Art, der sie in die Arme der rechten Diktatoren von Hitler bis Pinochet trieb. Aber die Protagonisten der Weltverschwörung sind austauschbar. Von Al Gore über den Ökumenischen Rat bis zur Europäischen Kommission (z.B. beim Thema Gender Mainstream) ist alles möglich.

Radikale Skepsis und Leichtgläubigkeit sind dabei keine Gegensätze mehr, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Denn um so skeptisch sein zu können, muss man ja der felsenfesten Überzeugung sein, dass man getäuscht oder belogen wird. Dazwischen liegt ein vorsichtiges Tasten und Abwägen und die anstrengende Bereitschaft, den eigenen Standpunkt immer wieder einmal auf die unvermeidlichen Fehler zu überprüfen. Anders geht es wohl nicht…

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3 Antworten auf „Wahrheitsfindung im Internet-Zeitalter“

  1. Dem kann ich nur zustimmen. Ich persönlich finde es überflüssig, sich mit Verschwörungstheorien ernsthaft zu beschäftigen und Zeit und Geld da zu investieren. Ich meine, da draußen gehen Menschen verloren, die von Jesu Liebe nichts wissen.

    Ich denke, auch da ist es wichtig, dass wir bereit sind, unsere Prioritäten und Standpunkte zu prüfen und gegebenenfalls zu überdenken.

  2. Die Antwort findet sich vielleicht in einem neueren Blog-Beitrag – Wissenschaft ist immer nur der aktuelle Stand des Irrtums….

    Ich stehe auch immer wieder mit großen Augen vor scheinbar unbegreiflichen Zusammenhängen, die ich meinen Söhnen erklären soll – wo kommen plötzlich 700.000.000.000.000 US$ zur Bankenrettung her? Sind Autos Verursacher der Klimakatastrophe? Gibt es überhaupt eine Klimakatastrophe?

    Mein Vater pflegte in solchen Fällen den passenden Brockhaus-Band aus dem Regal zu holen; heute muß in solchen Fällen meist die Wikipedia herhalten – und da schließt sich dann wieder der Kreis zum aktuellen Stand des Irrtums.
    Ein befreundeter indischer Ingenieur, der in Kalifornien lebt, erzählte mir kürzlich, wie er seiner Tochter klarmachte, daß der Verweis in einer Hausarbeit auf die Wikipedia überhaupt nichts wert sei – im Internet-Zeitalter, in dem jeder beliebig schön gestaltete, aber grottenfalsche Information verbreiten könne, sei ohne Zweit-Recherche, bei der auch auf den Hintergrund des Autors geachtet würde, nicht mehr auszukommen. Manchmal muß man sich auch solche Offensichtlichkeiten wieder in´s Gedächtnis rufen, wenn man einmal mehr von Medienberichten zu einem beliebigen Sachverhalt überflutet wird.

    Das Allheilmittel gegen Krebs gab es doch auch 1974 schon ebenso wie (um mal spöttisch zu werden) die Röntgenbrille, mit der man Passanten „ausziehen“ kann, im Kleinanzeigenteil der Fernsehzeitung zu kaufen. Jetzt gibt´s die letztere – brandneue – Errungenschaft für´s Mobiltelefon, und wieder fallen die Kinder darauf rein. Ob wir damals auf die Mondlandung auch hereingefallen sind?

    Seit ich in den USA mal eine Apollo-Kapsel gesehen habe, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher wie damals, als ich wie Du spätnachts auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher atemlos Neill Armstrongs Schritte auf dem Mond gesehen habe…

    Grüße
    Chris

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