Einige haben heute darüber gepredigt, andere haben zugehört. Falls Ihr (und alle anderen) noch mögt, hier meine Predigt aus St. Leonhard heute morgen – vielleicht ist ein inspirierender Gedanke dabei.
Liebe – Liebe hat so gut wie immer Konjunktur. Zumindest wird pausenlos von ihr geredet. Ganz besonders gern tut es die Werbung:
- „Wir lieben Bayern, wir lieben die Hits“, flötet die Radiomoderatorin eines Privatsenders.
- „Wir lieben Lebensmittel“, beteuert eine Supermarktkette (noch lieber verkauft man sie aber)
- „Echte Liebe“ tönt die Marketingabteilung eines börsennotierten Fußballvereins
- Und unsere Stars „lieben“ natürlich ihre Fans, denen sie ihren Ruhm und Reichtum verdanken.
Wenn von Liebe die Rede ist, dann meistens deshalb, weil uns jemand etwas verkaufen will. Irgendwann hören wir uns dann selber Sätze sagen wie „Ich liebe Himbeereis“. Spätestens da stellt sich die Frage: „Ist die Liebe noch zu retten?“
Man müsste ein neues Wort erfinden können, um Liebe von diesen Missverständlichkeiten zu befreien: Als ob es da nur um ein unwiderstehliches Produkt ginge oder eine besonders attraktive Person, einen besonderen Reiz, der meinen Appetit weckt und mich dazu bringt, einen Gegenstand oder ein Erlebnis unbedingt haben zu wollen.
Genau das haben die ersten Christen getan: Sie fanden ein neues Wort für die Liebe. Liebe, die nicht darin besteht, im Anderen mein eigenes Spiegelbild zu erkennen und nicht darin, dass sinnliche Reize meinen Pulsschlag beschleunigen und den Hormonhaushalt in Schwung bringen. Diese „Ich brauch dich“-Liebe ist flüchtig, oberflächlich und passiv: Etwas triggert mich von außen und ich reagiere darauf aus einem inneren Mangel. Entfällt der Reiz, ist auch die „Liebe“ am Ende.
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Johannes war der Meinung: Wer die Liebe verstehen will, muss bei Gott anfangen:
Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.
Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe. (1. Joh 4,16b-21)
Vierzehn Mal kommt das Wort Liebe/lieben in diesen neun Sätzen vor. Und alles gipfelt in der Feststellung: Gott ist die Liebe. Der Satz ist so einfach wie verblüffend. Denn die Götter der antiken Volksfrömmigkeit hatten ihre Günstlinge und ihre Affären, aber sie behandelten Menschen wie Spielfiguren. Der Gott der Philosophen hingegen war zwar ein faszinierendes Wesen, aber er selbst stand der Welt recht leidenschaftslos gegenüber.
Ganz anders der Gott der Christen: Er erschafft eine Welt und Menschen darin, die ihm von Anfang an Ärger machen. Aber Gott ist offenbar der Meinung „Ich bereue diese Liebe nicht“. Er sucht sich aus allen Völkern das unattraktivste aus – Israel. Er kommt in einer Krippe zu Welt, lebt im ärmeren Teil des Landes, teilt die Nöte und Sorgen einfacher Leute. Er lässt sich beschimpfen, schlagen und umbringen. Und statt die Menschen, die ihm all das antun, zu vernichten, vergibt er ihnen.
Martin Luther hat daraus den Schluss gezogen: Gottes Liebe findet das Liebenswerte nicht vor, sondern sie bringt es hervor („Amor dei non invenit sed creat suum diligibile“). Auch wenn es oft eine schmerzhafte Geburt ist. Anders gesagt: Dass er mich liebt, liegt an ihm, nicht an mir. Und weil das so ist, wird es sich auch nicht ändern – egal, wie gut oder schlecht, dumm oder schlau, fair oder unfair ich mich verhalte. Paulus schreibt „sind wir untreu, so ist er doch treu, denn er kann sich nicht verleugnen“. In Jesus ist diese Liebe verbürgt, garantiert – mit Brief und Siegel. Wir haben keinen Anspruch darauf, haben sie uns nicht verdient, dafür können wir sie auch nicht verspielen.
Und genau deswegen müssen wir bei Gott anfangen, wenn wir die Liebe verstehen wollen: Gott ist unkaputtbare Liebe. Liebe ist nicht etwas, das Gott (wie manche Menschen) heute tut und morgen wieder lässt. Würde Gott aufhören zu lieben, dann würde er auch aufhören, Gott zu sein. Nach allem, was geschehen ist, als Gott in die Welt kam, ist ein liebloser Gott nicht mehr vorstellbar – das schreibt uns Johannes hinter die Ohren.
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Wenn ich anfange, Gott so zu sehen, dann befreit mich das von meiner Furcht. Nicht unbedingt von der Furcht vor großen Höhen, vor Spinnen, vor Terror oder Katastrophen; aber von der Furcht, dass der eine, von dessen Wohlwollen mein Leben und Glück abhängt, mir gegenüber launisch oder gleichgültig sein könnte; dass er sich von mir abwendet, wenn ich ihn vor den Kopf stoße; dass er mich bestraft, wenn ich seinen Erwartungen nicht entspreche.
Der Dirigent Ben Zander vom Boston Philharmonic Orchestra sollte am Konservatorium unterrichten. Statt mit schlechten Noten zu drohen, verkündete er in der ersten Stunde, jeder Studierende werde eine Eins bekommen. Die einzige Bedingung dafür war, dass ihm jeder zu Kursbeginn schreiben sollte, was für ein Mensch er am Ende des Kurses sein möchte. Von da ab waren alle angstfrei bei der Sache und Zander stellte fest, dass er mit den Menschen arbeitete, die in den Briefen beschrieben waren. Er stellte keine Erwartung auf, der sie zu entsprechen hatten. Stattdessen gab er ihnen den Raum zu entdecken, welche Möglichkeiten in ihnen steckten.
Die Liebe Gottes schafft ein Klima, in dem sich das Liebenswerte in uns Menschen hervorwagt und gedeihen kann. Ein Klima, in dem niemand fürchten muss, dass er bedroht, bloßgestellt oder beurteilt wird. Wir alle wissen, dass wir unter Angst und Druck mehr Fehler machen. Und dass wir, wenn Strafe droht, diese Fehler auch noch verleugnen und vertuschen, und damit immer noch mehr Unheil anrichten.
Freilich, Gott rettet uns nicht immer vor den Folgen unseres eigenen Tuns. Aber indem er auf Drohungen und Forderungen verzichtet, schenkt er uns genau diesen angstfreien Raum, in dem wir radikal ehrlich sein können vor uns selbst und anderen. Und mit dieser Ehrlichkeit vor mir selbst beginnt jede positive Veränderung. Wer die Liebe verstehen will, muss bei Gott anfangen. Wen sie erfasst, der verliert seine Furcht. Und mit der Furcht vor Gottes Strafe und Zorn schwinden allmählich auch die anderen Ängste: Angst vor der Ablehnung anderer Menschen, Angst vor dem eigenen Versagen, Angst vor den vielen Gefahren und Risiken, denen wir in dieser Welt ausgesetzt sind. Denn selbst wenn uns schlimme Dinge zustoßen – sie trennen uns nicht von der Liebe Gottes in Christus.
„Furcht ist nicht in der Liebe“ – Eine Braut war vor ihrer Hochzeit schrecklich nervös und unsicher. Ihre Freundinnen wollten sie mit diesem Bibelwort trösten. Doch statt (wie es richtig gewesen wäre) 1. Johannes 4,18 auf die Karte zu schreiben, schrieben Sie nur Johannes 4,18. Die Adressatin schlug ihre Bibel auf und las zu ihrer Verblüffung: „Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“
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Nicht vom Mann, aber vom „Bruder“ schreibt Johannes gegen Ende: Unsere Aufgabe ist es, „in der Liebe zu bleiben“. Sie ist uns geschenkt, aber dieses Geschenk muss man kultivieren. Behalten wir sie für uns, geht sie kaputt. Die Frage, ob ich noch in der Liebe bin oder nicht, lässt sich ganz einfach beantworten. Jesus hat im Gleichnis vom armen Lazarus dieselbe Schlussfolgerung gezogen: Das Verhältnis zu meinen Mitmenschen ist das entscheidende Kriterium dafür, wie es um mein Verhältnis zu Gott bestellt ist. Wer gegenüber dem Armen dicht macht, macht auch Gott gegenüber dicht. Er sperrt die Liebe selbst aus.
Brüder – Geschwister – kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Dafür bleiben sie – anders als manche Freunde – auch ein Leben lang Geschwister. Familien sind Schicksalsgemeinschaften. Die ersten Christen waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen: Arme und Reiche, Gebildete und Ungebildete, aus allen möglichen Ecken des römischen Weltreichs, das ähnlich groß und vielfältig wie die heutige EU war. Auch die Kirche war eine Schicksalsgemeinschaft. Einheit und Harmonie mussten immer wieder ausgehandelt und erkämpft werden. Und in letzter Zeit hat Papst Franziskus wiederholt davon gesprochen, dass auch Muslime und Christen „Brüder“ sind. Bruderliebe ist also keine „Nächstenliebe light“, die nur für Gleichgesinnte gilt.
In der Liebe zu bleiben heißt, sie zu verschenken. So etwas geht nur, wenn ich lerne, mich freiwillig zurückzunehmen. Der polnische Nobelpreisträger Czeslaw Milosz beschrieb diese Haltung so:
Liebe bedeutet, sich so sehen zu lernen
wie man Dinge aus der Ferne sieht.
Denn du bist nur ein Ding unter anderen
und wer so sieht, heilt sein Herz
ohne es zu wissen, von allerlei Krankheiten.
Ein Vogel und ein Baum nennen ihn „Freund“
Ich bin geliebt, so wie ich bin. Nicht weniger, aber auch nicht mehr als alle anderen Geschöpfe. Ich bin nicht der Nabel der Welt. Diese heilsame Erkenntnis, dass Gottes Liebe genauso auch allen anderen gilt, verändert den Blick. Der reiche Mann hielt seinen Reichtum für eine Errungenschaft, die er verteidigen musste. Und sich selbst für etwas besseres. Heute würde er die Tür versperren, Elektrozäune bauen, Videokameras installieren und Sicherheitspersonal patrouillieren lassen, um Lazarus nicht zu Gesicht zu bekommen. Denn dass Gott diesen kranken Typen liebt – ihn wegen seines harten Lebens erst recht liebt – kam ihm gar nicht in den Sinn. Gott aber schenkt dem Unansehnlichen Ansehen, sagt Jesus.
Wenn Gott mir trotz meiner Unansehnlichkeit sein Ansehen schenkt, dann kann ich offen, frei und mutig aus der Wäsche schauen.
Gottes Liebe, die das Liebenswerte nicht schon vorfindet, sondern es hervorbringt, beteiligt mich an dieser Heilung und Verwandlung der Welt. Der unansehnliche Lazarus hat heute viele Gesichter: Arme, chronisch Kranke, Einsame, Verlierer, Chancenlose, Entwurzelte. Aus jedem von ihnen blickt mich Christus an und fragt: Siehst Du mich?
Und wenn ich diesem Blick nicht ausweiche, sehe ich in dem anderen auch mich selbst: Unsicher, bedürftig, verletzlich und zugleich voller Möglichkeiten, die noch nicht ausgeschöpft sind.
Die Liebe muss nicht gerettet werden. In solchen Begegnungen rettet sie uns.