Sich selbst über den Weg trauen

Der wunderbare Parker Palmer wird in seinen Büchern nicht müde, zu betonen, dass wir die entscheidenden Fragen im Leben nur aus uns selbst heraus beantworten können. Andere können uns dabei begleiten, aber uns die Aufgabe nicht abnehmen:

Sobald wir den Definitionen anderer davon, wer wir sind, erliegen, verlieren wir das Gespür für unser wahres Selbst und unser rechtes Verhältnis zur Welt. Es spielt keine Rolle, ob uns diese Projektionen zum Helden oder zum Trottel stilisieren: Wenn wir zulassen, dass uns andere benennen, verlieren wir den Bezug zu unserer eigenen Wahrheit und untergraben unsere Kapazität, mit anderen in lebensförderlicher Weise zusammen etwas zu schaffen. (A Hidden Wholeness, S. 102)

Diese Schwächung der Seele und die Unsicherheit im Blick auf das eigene Selbst ist für Palmer auch ein wesentlicher Faktor in den Krisen der Gegenwart. Er widerspricht den Moralisten, die exzessiven Individualismus und narzisstische Selbstverwirklichung als Ursache beklagen, und da ist er dann bemerkenswert aktuell, wie ich finde:

… ich bin zu vielen Menschen begegnet, die an einem leeren Selbst leiden. Sie haben da, wo ihre Identität sein sollte, ein Loch ohne Boden – eine innere Leere, die sie mit Erfolg im Wettbewerb zu füllen versuchen, mit Konsumismus, Sexismus, Rassismus oder irgendetwas, das ihnen die Illusion gibt, besser zu sein als andere. Wir eignen uns solche Haltungen und Praktiken nicht an, weil wir uns für überlegen halten, sondern weil wir gar kein Gefühl für uns selbst haben. Andere herabzusetzen wird ein Weg zur Identität, ein Weg, den wir nicht beschreiten müssten, wenn wir wüssten, wer wir sind.

Die Moralisten scheinen zu glauben, wir befinden uns in einem Teufelskreis, in dem wachsender Individualismus und die ihm innewohnende Egozentrik den Niedergang des Gemeinwesens verursachen – und der Niedergang des Gemeinwesens den Individualismus und die Egozentrik anwachsen lässt. Die Wirklichkeit ist eine ganz andere, denke ich: In dem Maß, wie Gemeinwesen von verschiedenen politischen und ökonomischen Kräften auseinandergerissen wird, leiden immer mehr Menschen an dem Leeren-Selbst-Syndrom. (A Hidden Wholeness. The Journey Toward An Undivided Life, S. 38)

Palmer orientiert sich an der Tradition der Quäker, aus der er zwei Grundsätze ableitet: Menschen haben einen „inneren Lehrer“, auf den sie hören müssen; sie können sich die entscheidenden Antworten nur selbst geben. Dazu aber brauchen sie die Gemeinschaft mit anderen, deren respektvolle Nähe und behutsame, offene, von Wertungen und Urteilen freie Fragen sie immer wieder auf die Stimme des inneren Lehrers zurück verweisen. Der Wahrheit über mich selbst kann ich mich im Dialog mit anderen besser nähern. Ohne die Fragen der anderen laufe ich nämlich Gefahr, in meinen Illusionen Kreise zu drehen.

(Falls jetzt jemand nach christlicher Selbstverleugnung fragen möchte: Auch die setzt voraus, sich selbst erst einmal wirklich zu kennen und zu hören. Und dann die Stimme des Ego zu ignorieren und sich dem wahren Selbst, dem göttlichen Funken oder dem neuen, aus dem Geist geborenen Menschen zuzuwenden.)

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3 Antworten auf „Sich selbst über den Weg trauen“

  1. Peter, mir gefällt erst einmal die Idee sehr gut, nicht „den Individualismus“ zu verteufeln oder nur zu moralisieren. Über den Zusammenhang zwischen einer inneren Leere und der Verführbarkeit für Lebensentwürfe, die Fülle versprechen, müsste man auch noch weiter nachdenken.
    Auch die therapeutische Absicht hinter den Zitaten finde ich toll – sokratisch quasi.
    Lediglich die Idee eines „wahren Selbst“ oder eines „inneren Lehrers“ möchte ich so nicht mitgehen – auch wenn diese Annahme in der Praxis bestimmt hilfreich ist. Würden wir wirklich von einer inneren Instanz ausgehen, die jetzt das eine, wahre Selbst bildet? Für Zizek zB ist ja diese Leere, die innere Unruhe und Getriebenheit (was er Todestrieb nennt) die letzte Wahrheit des Selbst. Andere Denker betonen immer wieder, dass wir letztlich uns selbst auch entzogen sind: das Wollknäuel an Prägungen, Ängsten, Lüsten und Begehren lässt sich nicht final entschlüsseln und wenn wir mal „aus der Haut fahren“ erschrecken oder überraschen wir uns selbst auch mal gerne. Christlich könnte man noch einen anderen Weg gehen: das was mit der Tradition des Namens verbunden ist. Wenn der Grundsatz #1 für eine christliche Anthropologie ist: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein“ dann sind liegt die „Wahrheit“ unserer Selbst – unsere Singularität, unsere Unvertretbarkeit und Unentschlüsselbarkeit – außerhalb unserer Selbst in der „coram deo“-Relation. Bonhoeffers „Wer bin ich?“ – Gedicht finde ich da interessant. „Wer ich auch bin, Du weißt es“. Kierkegaard hat ja immer wieder damit gerungen, vor Gott ein Einzelner zu werden, anstatt nur ein Einzelfall, der seine persönlichen Merkmale in eine Facebook Maske eintragen kann und so vergleichbar wird. Coram deo erfährt man sich als „sich selbst gegeben“, was sowohl eine gewisse Fremdheit (ich habe mich nicht selbst gemacht), als auch Relation („was hast Du, was Dir nicht gegeben ist? Und wenn es Dir gegeben wurde warum verhältst Du Dich als sei es Dein Eigentum?“) als auch eine Freiheit von allen anderen „Anrufungsstrukturen“ („sei spontan! Sei ein guter Konsument und Arbeiter! Sei ein guter Staatsbürger! Sei ein braver Christ! Sei ein guter Vater! Sei ganz Du selbst! Sei attraktiv für andere! etc.). Hier ist wieder meine Grudnunterscheidung: ist das Selbst Gabe oder Eigentum? Wenn es Eigentum (zB in Form eines wahren Kernselbst) ist, dann bin ich immer damit beschäftigt, Zäune aufzubauen, um mich vor Kontaminierung zu schützen. Liegt mein Geheimnis außerhalb meiner Selbst, dann kann ich mich frei – das heißt ohne Unterwerfung oder allergische Reaktion – mit allen anderen Anrufungstrukturen auseinandersetzen.
    Letzter Punkt: Was mich noch beschäftigt ist die Frage des Zwiegespräches mit sich selbst. Ich glaub beten wird in den Psalmen als Zwiegespräch der Seele mit sich selbst vor Gott dargestellt nicht als einfaches Gespräch mit Gott. „Was betrübst Du Dich meine Seele und bist so unruhig in mir, harre auf Gott!“. Vielleicht ist das eine Praxis um Einzelner zu werden, der dann frei für andere zum Nächsten werden kann.
    Alles unfertige Brainstorming Ideen…..

    1. Ich denke, dieses „coram Deo“ und „sich selbst gegeben“ trifft ziemlich gut, was Palmer meint. Das wahre Selbst (oder eben: die Seele) ist nichts, dessen ich mich irgendwie bemächtigen kann, es hat tatsächlich etwas Unverfügbares und Transzendentes, daher ist es für ihn auch entscheidend, immer wieder neu zu lauschen, was von dort an Wegweisung kommt. Also gerade kein Eigentum, sondern eine Gabe. Aber eine, die ich nicht ignorieren kann, ohne mir (und damit meist auch anderen) Schaden zuzufügen.

      Für die anderen Aspekte arbeitet er (wie Richard Rohr und C.G. Jung) mit dem Begriff des „Ego“. Das ist das „Selbst“ (oder der Anteil in uns), das sich in Konkurrenz und Ab-/Ausgrenzung behaupten will.

  2. Ich habe bis jetzt noch nie etwas von Parker Palmer gehört und bedanke mich sehr für den Hinweis. Die Zusammenfassung nach dem Zitat bringt sehr prägnant auf den Punkt, was wir wir bei unseren wöchentlichen Kommunitätsabenden zu praktizieren versuchen.

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