Nur ein Symbol?

Immer wieder begegne ich Menschen, die sagen, dieses oder jenes (darunter auch das Brot und der Wein beim Abendmahl) sei nur ein Symbol. Als wäre das eine minderwertige Wirklichkeit, ein bloßes Hinweisschild, ein austauschbarer Begriff, eine leblose Abstraktion. Wenn aber in Teheran oder Gaza Israelfahnen verbrannt werden, wenn Neonazis aufmarschieren und den Arm zu Hitlergruß erheben, wenn um Kruzifixe in Schulen oder auf dem Cover von Titanic gestritten wird, oder wenn wir – um mal vom Politischen ins Private zu wechseln – beim Schwimmen im Meer den Ehering verlieren, dann wird ganz schnell deutlich, dass Symbole einen Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern auch schaffen und prägen. Deswegen kommt man für den Hitlergruß richtigerweise in den Knast. Deswegen lieben wir Brautkleider und Taufkerzen.

Symbole ordnen unsere Wirklichkeit. Unsichtbares – eben die Beziehungen zwischen Personen und/oder Gegenständen – wird sichtbar. Betrachte dich einen Augenblick im Spiegel: Wie viele Schriftzüge oder Zeichen von Marken sind auf Kleidung, Schuhen, Uhr oder Brille zu erkennen? Die allgegenwärtigen Firmenlogos tragen zur „Corporate Identity“ bei. Sie zeigen, dass wir zu bestimmten Gruppen dazugehören oder eben nicht. Sie verraten, wer wir sein wollen, wofür wir sind und wogegen wir protestieren. Und schließlich: Münzen und Geldscheine haben in der Regel keinen hohen Materialwert, aber das nehmen wir kaum noch mehr wahr. Der grüne Schein ist 100 Euro wert, und wehe, wenn ich ihn verliere. Also – wirklich nur ein Symbol, Tinte auf Papier, bloß eine Konvention?

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Darwins Vorurteile

Ausgerechnet die erste Pastorin der Vereinigten Staaten hat sich konstruktiv-kritisch mit Darwins Thesen auseinandergesetzt, wie Michael Blume auf Chronologs schreibt. Antoinette Brown Blackwell (1825-1921). Die engagierte Kämpferin für die Rechte von Sklaven und Frauen war vom Gedanken der Evolution angetan, aber entsetzt von Darwins (Blume gibt eine ausführliche Kostprobe) „wissenschaftlicher“ Begründung männlicher Dominanz und Überlegenheit.

In ihrer Kritik an der Einseitigkeit von Darwins Theorie, zum Beispiel der Rolle von Kampf und Wettbewerb, war sie ihrer Zeit weit voraus. Um so ärgerlicher, dass ihr wissenschaftlicher Beitrag bis heute weitgehend totgeschwiegen wurde. Ich finde, Michael Blumes Anstoß zur Wiederentdeckung einer großen Denkerin hat viele Leser verdient!

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Der entkirchlichte Messias?

David Fitch befasst sich respektvoll und kritisch mit Frost und Hirschs missionalem Ansatz (dass der zwischendurch auch als „emergent“ etikettiert wird, wird Alan vielleicht nicht so ganz schmecken). Bei allem Guten, das die beiden mit ihrer Kritik an institutionellen Komm-Strukturen und leidenschaftloser, subkultureller Kokon-Existenz in die Diskussion eingebracht haben, bleiben für ihn auch ein paar ernste Probleme. Sie betreffen den Kirchenbegriff.

Bei ihrer Kritik an verzerrten Jesusbildern und dem Versuch der Rückkehr zu einem (be)rein(igt)en Jesus, der nicht schon Produkt kirchlicher und kultureller Entstellungen ist, setzen sie – so Fitch – stillschweigend voraus, dass man Jesus ohne Kirche begegnen kann, die in der Regel eher als Hindernis erscheint. Problematisch ist das deshalb, weil ohne das – klar: unvollkommene – Christuszeugnis der Kirche und ihren (sicher ab und an diskussionswürdigen) Schriftgebrauch über die Jahrhunderte Jesus heute gar kein Thema mehr wäre.

Eine unmittelbare Beziehung des einzelnen Christen zu Christus, wie Frost und Hirsch das postulieren, hält Fitch zu Recht für eine Fiktion. Beim Lesen erinnerte mich das an Kant, der den Ausgang des Menschen nicht von falschen Jesusbildern, sondern aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit propagierte und – wie sein Zeitgenosse Johann Georg Hamann anmerkte – sich damit selbst zum Vormund aufschwang, der sagen konnte, was richtig ist. Derselbe Idealismus und derselbe hohe Anspruch des völligen Neubeginns spiegelt sich in der Formel wider, dass aus der Christologie die Missiologie und aus de Missiologie die Ekklesiologie hergeleitet werden müsse. Auch die geht in der Praxis nicht auf, weil die Christen, die sich wie Mike und Alan auf den missionalen Weg machen, ja keine unbeschriebenen Blätter sind, sondern alle möglichen kirchlichen Traditionen im Gepäck haben. Unbewusst, vielleicht, aber das Neue entsteht eben doch großteils in Anknüpfung an und Abgrenzung gegen das Vorhandene. Wie bei Hase und Igel: Die Kirche ist immer schon da. Oder wie Fitch sagt: Missiologie ist Ekklesiologie und umgekehrt.

Und das ist auch der zweite Kritikpunkt: Dass nämlich die Kirche als eine Größe von geschichtlicher Kontinuität in diesem Konzept verloren zu gehen droht. Bei allem Gestaltwechsel der Inkarnationen, Inkulturationen oder Kontextualisierungen ist es eben doch so, dass die ganz konkrete Praxis der Schriftauslegung, Gemeinschaft, der Taufe und Mahlfeier durch alle Zeiten erstreckt und alle Christen prägt und verbindet. Kirche entsteht nicht als creatio ex nihilo voraussetzungslos in jedem Augenblick der Geschichte neu auf der grünen Wiese, sondern sie entsteht aus dem Alten, das Gottes Geist immer wieder neu belebt wie die Totengebeine bei Ezechiel und das müde „Fleisch“ aus Joel 3. Wenn aber Kirche keine geschichtliche, konkrete Gemeinschaft von Menschen mehr ist, so Fitch, dann verblasst sie ganz schnell zum Konzept und zur Ideologie.

Fitch macht seine Kritik zwar an Frost und Hirsch fest, es gibt aber sicher noch mehr postmoderne Denker, denen sein Rat gut täte. Bei aller Bedeutung dieses Umbruchs ziehen sich eben auch viele Linien durch. Ich bin auch dafür, dass Kirche sich neu erfindet. Nur die Idee, geschichtslos auf den Nullpunkt zurückgehen zu können, ist gar nicht neu, sondern typisch modern. Und sie bringt die Beziehungen zu denen, die das „Alte“ schätzen, leider ziemlich oft auf Null.

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Kind müsste man sein!

Leonard John Matthews: The dove from Noah's ark (flick'r.com / creative commons 2.0)

Jemand fragte neulich, wie eine so schwierige Geschichte wie die Sintflut im Kindergottesdienst und Reliunterricht so eine Rolle spielen kann. Kaum ein Kindergottesdienstraum, in dem kein Regenbogen irgendwo hängt. Dabei wirft dieses Kapitel für den erwachsenen Leser ja bei Licht betrachtet schwerwiegende Fragen an Gottes Charakter und sein Handeln in der Welt auf: Waren die Menschen alle so schlecht? Gab es da keine Unterschiede? Ist gewaltsames Auslöschen eine Lösung? Wie kann es sein, dass Gott bereut, Menschen geschaffen zu haben? Ist es hinterher tatsächlich besser geworden oder war die drastische Aktion ungefähr so clever wie manche militärische Intervention der letzten Jahre, die nichts als die berüchtigten Kollateralschäden verursachte? Und mal ganz pragmatisch: Wo kam das Futter her für die monatelange Reise – und das Wasser? Wie passte das alles auf ein Schiff und wer hat die Kängurus in Australien ausgeladen?

Auf alle diese Fragen antwortet die Geschichte leider nicht. Vielleicht muss man das also genau umgekehrt sehen: Nur Kinder können die Geschichte verstehen. Sie gehen mit denselben Annahmen heran wie bei den geliebten Märchen:

  • Ihre Welt ist überschaubar
  • Ihre Moral ist schwarzweiß
  • Sie zweifeln nie daran, dass sie auf der richtigen Seite stehen

Ich vermute mal, dass die Leute, die diese Geschichten aufgeschrieben haben, auch nicht sehr viel anders tickten als unsere Kinder. Dass „wir“ zur Familie gehören und nichts zu befürchten haben, steht schon fest. Noah ist der Prototyp des Gerechten – vorher wenigstens. Von den anderen kennen wir keine Namen und Geschichten, sie haben keine Gesichter, sie haben so betrachtet nie richtig existiert. Wichtig ist allerdings, dass eine ganze Familie dabei ist: Eltern und Kinder. In einer Welt, wo es nur Gute und Böse gibt, zählen sich Kinder instinktiv zu den Guten. Naiv, aber in diesem Fall völlig richtig.

Dass immer nur ein Paar Tiere gerettet wird, ist kein Problem. Kinder kennen nur einen oder zwei Tiger, den aus dem Zoo in der Nähe oder aus ihrem Bilderbuch, und natürlich ist es der, der an Bord ist. Also stellt sich die Frage nach den vielen anderen Tieren gar nicht so. Kinder leben (normalerweise) in einer umsorgten Umgebung. Natürlich ist immer etwas zu Essen da – es schmeckt halt vielleicht nicht immer.

Wichtig ist auch, dass ein gerechter Gott hier energisch Ordnung schafft, weil er uns (das ist hier sehr eng definiert) liebt, und dass er sich am Ende auf diese geduldige Liebe festlegt. Die zahlenmäßige Relation zwischen Opfern der (verdienten) Katastrophe und Geretteten wird gar nicht reflektiert. Und ich denke, sie soll auch gar nicht reflektiert werden, denn die Botschaft ist, dass wir alle Nachkommen Noahs sind und alle dazugehören und dass das die entscheidende Sache ist.

Wir können solche Texte wieder kindlich lesen lernen, auch als verantwortliche Erwachsene. Wenn wir sie nur so lesen könnten, wäre das kindisch. Aber sich von der Perspektive der Kinder anregen und helfen zu lassen, heißt, ein Stück Lebensweisheit zu gewinnen.

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Geistlicher Hör- und Sehtipp zum Wochenende

Das ist wirklich beachtlich: Rainer Wälde hat mit seiner Reise zum Leben über keltische Spiritualität und die irischen Mönche nicht nur den World Media Award in Gold gewonnen, er hat es diese Woche auch ins Mittagsmagazin des ZDF geschafft. Bei Minute 43 geht es los. Herzlichen Glückwunsch, Rainer!

Das Interesse christlicher Medien, allen voran eine bekannte Nachrichtenagentur aus seiner hessischen Heimat, war bislang äußerst bescheiden. Aber vielleicht steckt ja der Heilige Geist dahinter, dass andere das Thema nun aufgreifen?

Das Wirken des Geistes in der Welt heute war auch das Thema einer hochkarätig besetzten Konferenz in London vor ein paar Wochen. Wer möchte, kann sich nun die Mitschnitte der Konferenz The Holy Spirit in the World Today am St. Paul’s Theological Centre/St. Mellitus College anhören. Neben Jürgen Moltmann, Miroslav Volf, David Ford und Rowan Williams gibt es auch Praktiker wie Ken Costa und Sandy Millar von HTB zu hören.

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Homosexualität: Trägt das Schöpfungsargument?

Uli Eggers stellt in seinem einleitenden Artikel zum „Dossier Homosexualität“ im aktuellen Heft von „Aufatmen“ die entscheidende Frage: „Sind wir im wissenschaftlichen und theologischen Gespräch auf Stand und kennen die Argumente anderer Christen, die unsere Sicht nicht teilen? Haben wir tragende Antworten, die auch noch für unsere Kinder nachvollziehbar sind?“ Ich fühle mich zwar in keiner Hinsicht als Fachmann, fand gleichwohl, die Argumente anders Denkender hätten ruhig ausführlicher dargestellt werden können. Um diese selbst zu referieren, muss ich mich erst noch weiter einlesen, daher hier einstweilen ein weiterer prüfender Blick auf die Argumentation des Dossiers selbst.

Ich habe mich letzte Woche mit der Frage befasst, welche Gültigkeit die Vorschriften aus Levitikus 18-20 für uns heute haben und bin dabei auf größere Schwierigkeiten in der Anwendung gestoßen (zur jüdischen Auslegung des Gesetzes habe ich übrigens heute diesen Bericht in der taz gefunden). Anstatt nun weiter ins Neue Testament zu gehen, möchte ich zurück ins Buch Genesis. Denn beim Lesen in den Beiträgen des Dossiers hatte ich das Empfinden, dass der tiefere, eigentliche Grund für die negative Sicht von Homosexualität darin liegt, wie die Schöpfungsgeschichte hier verstanden wird. Was Paulus dann in Römer 1 und 1. Korinther 6 schreibt, kommt nur noch erschwerend dazu.

1. Die These und ihre Implikationen

Die Logik, und ich hoffe, dass ich das nun skizziere, aber nicht karikiere, ist folgende: Gott hat die Menschen als Mann und Frau geschaffen und sie dazu bestimmt, sein Ebenbild zu sein. Markus Hofmann schreibt in seinem Beitrag (S. 51) unter Verweis auf Johannes Paul II, die Gemeinschaft von Mann und Frau sei „die höchste Offenbarung des ebenbildlichen Seins und Existierens des Menschen, die Gott von Anfang an gemeint hat.“ Und Christoph Raedel (S. 61): „Die Gottebenbildlichkeit des Menschen verwirklicht sich im Aufeinander-Bezogen-Sein des männlichen und weiblichen Geschlechts.“

Mann- und Frausein wird hier komplementär verstanden. Männer als Männer (und Männer unter Männern) beziehungsweise Frauen als Frauen (und Frauen unter Frauen) sind also nur eine eingeschränkte Form von Ebenbild. Um Gott vollkommen widerzuspiegeln müssen Mann und Frau zusammenkommen – die (so verstanden ja buchstäblich „heilige“) Familie. Und was würde diese These schöner belegen als die Tatsache, dass zur Zeugung neuen Lebens Vater und Mutter gebraucht werden?

Das ist auf den ersten Blick ein sehr ansprechender Gedanke, weil er mit der Komplementarität auch die Parität der Geschlechter zu betonen scheint: Männer und Frauen brauchen einander, Kinder brauchen zur gesunden Entwicklung auch beide Bezugspersonen. Allzu patriarchalische Thesen lassen sich damit widerlegen, eheliche Treue wird dagegen geadelt.

Die unvermeidliche Konsequenz im Blick auf Homosexualität lautet dann freilich, dass dieses Verhalten (das von der Neigung konsequent unterschieden wird) das Bild Gottes im Menschen verdunkelt oder entstellt. Das wird gegebenenfalls dadurch leicht relativiert, indem man hinzufügt, das sei auch nicht schlimmer als andere Dinge wie … – und dann kann man beliebige andere Tat- und Unterlassungssünden einsetzen, an die wir uns ein bisschen zu sehr gewöhnt haben. Es bleiben also aus dieser Sicht nur die schon beschriebenen zwei legitimen (Aus-)Wege: Eine Veränderung der Neigung bzw. sexuellen Orientierung (und damit die Rückkehr zum biblischen Urbild) oder ein enthaltsames Leben als Single.

2. Die Aporien dieser These

Aus zwei Gründen erscheint mir diese Argumentation unbefriedigend:

Erstens wird uns im Neuen Testament unisono Christus als „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ vor Augen gestellt. Wäre die Komplementaritätslogik im Blick auf Genesis 1 richtig, hätte Gott dann nicht als Ehepaar in die Welt kommen müssen?

Dass die katholische Theologie, die hier Maria immer noch ins Spiel bringen (oder sich zumindest gut sichtbar an der Seitenlinie der Gotteslehre warmlaufen lassen) kann, den Gedanken der Komplementarität nicht ganz aufgibt, mag diese Spannung noch lindern. Ebenbildlichkeit ist aber streng christologisch zu verstehen. Als Evangelischer hat man nun die Wahl, ob man sagt, Gott ist eben doch eher männlich – und dann greift man vielleicht auf das antike Paradigma vom Mann als dem aktiven und der Frau als dem passiven Part zurück und sagt, im Blick auf Gott (etwa als actus purus) sind wir ja alle passiv, „weiblich“, die „Braut“ aus der Offenbarung des Johannes und dem Brief an die Epheser (was – noch weiter gedacht – sofort die Frage aufwirft, ob solche Redeweisen von Braut, Hochzeit, ehelicher Liebe und Treue am Ende gar implizieren, dass zwischen Gott und Menschheit ein solch komplementäres Verhältnis besteht, in dem einer – problematisch wird der Gedanke im Blick auf Gott – ohne den anderen nicht „vollständig“ ist).

Oder – und das läge mir jetzt viel näher – man sagt eben, Gott steht jenseits all dessen, was menschliche Geschlechtlichkeit ausmacht. Er ist auch mehr als nur die komplementäre Einheit der Unterschiede (als ginge es um eine Art Yin und Yang). Der Gott, der sich in Christus offenbart, kann sich in einem Mann genauso wie in einer Frau widerspiegeln und natürlich erst recht in seiner Kirche aus vielen Männern und vielen Frauen – aber diese Unterscheidung erscheint nie allein, sondern sie wird (etwa in Galater 3,28) durch soziale (Sklaven/Freie) und ethnische (Juden/Griechen) Kategorien eingerahmt, die damals in der Regel ebenfalls durch qua Geburt galten. Was wiederum zeigt, dass es sich hier um Geschlechterrollen handelt und diese nicht als biologisches, sondern als kulturelles Phänomen begriffen werden. Die körperlichen Unterschiede bleiben ja bestehen.

So würde sich zweitens auch leichter erklären, warum Jesus im Blick auf die kommende Welt (oder die „Ewigkeit“) die Ehe relativiert und – das wird in diesem Zusammenhang oft vergessen – natürlich nicht zur Flucht aus der Ehe oder Untreue ermuntert, aber die damals so mächtigen Familienbande zugunsten der Nachfolge relativiert und zölibatäres Leben als gleichwertige Option der Lebensgestaltung unter Gottes Verheißung verstanden wird.

Es spricht also alles dafür, dass Gott sich auch für Jesus im einzelnen Menschen wie auch in der Gesamtheit des Gottesvolkes widerspiegelt, Ehe und Familie dagegen keine eigene, darüber hinaus gehende „Offenbarungsqualität“ besitzen. Sonst wäre ja zu erwarten, dass sich dieses Element verstärkt, wenn Gottes Herrschaft in ihrer ganzen Fülle kommt. Zudem wäre die oben erwähnte Aufforderung zum zölibatären Leben ja auch nur eine sehr unbefriedigende Lösung für den Fall, dass heterosexuelles Empfinden fehlt. Die geforderte Ergänzung bleibt ja in jedem Fall aus. Und selbst wenn es so wäre – ergibt sich daraus denn zwingend der Schluss, dass eine Partnerschaft unter Männern oder unter Frauen, anders als der bewusste Verzicht, das Ideal der Ergänzung noch viel umfassender untergräbt oder verfehlt?

3. Ein Blick in die Urgeschichte

In der Regel wird die biblische Urgeschichte heute als Antwort Israels auf altorientalische Schöpfungsmythen wie das Gilgamesch-Epos verstanden, die deren Projektionen entlarven und die Götterwelt entzaubern (die interessanterweise aus männlichen und weiblichen Göttern besteht, die einander begehren, betrügen oder bekriegen). Mein Eindruck ist, dass Homosexualität hier gar nicht in den Blick kommt, auch nicht in Abgrenzung gegen das Heidentum. Vielleicht aber sehen wir eine Distanzierung vom sexualisierten Gottesbild der Nachbarvölker. Die erste biblische Erzählung hat einen sehr universalen Horizont, die zweite spiegelt die Lebenswelt des Ackerbauern wider. Sowohl in Genesis 1 als auch in Kapitel 2 treffen wir auf die grundlegende Dualität der Geschlechter. Im ersten Kapitel wird festgehalten, dass die Menschheit aus Mann und Frau besteht:

Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.

Geschlechtlichkeit als biologische Gegebenheit ist etwas, das wir Menschen mit den Tieren (die ja im Kapitel 7 auch paarweise in die Arche kommen) gemeinsam haben, aber eben nicht mit Gott. In puncto Ebenbildlichkeit steht der Mensch hier nämlich im Singular. Will man aus diesen Sätzen eine Kritik homosexueller Beziehungen ableiten, dann müsste man aus Sicht von Gen 1 wohl das Argument der fehlenden Fruchtbarkeit anführen. Nur ist es heute ja so, dass wir zwar das Leid unwillentlicher Kinderlosigkeit achten, es aber nicht mehr als einen lebensmindernden Fluch begreifen. Die meisten Christen haben zudem einen pragmatischen Umgang mit Empfängnisverhütung gefunden.

In Genesis 2,20-24 wird etwas mehr über Mann und Frau gesagt, der Text wird ja bei jeder Trauung vorgelesen:

Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht. (21) Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. (22) Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. (23) Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen. (24) Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.

Der Aspekt Fruchtbarkeit wird hier gar nicht thematisiert, sondern die Frage des passenden Gegenübers. Interessanterweise wird „passend“ hier ausdrücklich im Sinne von „Ähnlichkeit“ verstanden und nicht im Sinne komplementärer Differenz – denken wir nur an Luthers Übersetzung „Männin“. Beim Mann/Menschen dagegen wird das Bedürfnis nach einer intimen Bindung hervorgehoben. Intimität ist im Vergleich zur Sexualität der tiefere, umfassendere und dauerhaftere Antrieb im Menschen. Wir müssen also Sexualität von Intimität her denken, nicht umgekehrt – von der Sehnsucht also, sich einem Gegenüber in der Tiefe zu offenbaren und mitzuteilen, sich zu verschenken und von einem anderen beschenken zu lassen. Das hat nun für mein Empfinden weder etwas spezifisch Männliches noch typisch Weibliches, sondern Männer und Frauen sind sich darin ja gerade gleich.

Dass hier nur von Mann und Frau die Rede ist, kann man nun entweder deskriptiv verstehen – Menschen gibt es nun einmal als Männer und Frauen und der statistische „Normalfall“ (wer wollte das bestreiten?) bleibt natürlich die heterosexuelle Paarbeziehung – oder aber präskriptiv als Ordnung, als das einzig gewollte und erwünschte Muster. Das aber, so scheint mir, ist eine Entscheidung des Auslegers und wohl auch seines kulturell geprägten Vorverständnisses.

Ach ja, in den Kommentaren bitte wieder beim Thema bleiben und Diffamierungen aller Art meiden…

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Heiße Eisen und gute Argumente

Ich habe in den letzten Wochen mit ein paar Leuten über das „Dossier Homosexualität“ in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Aufatmen gesprochen. Die Autoren der verschiedenen Beiträge sind alle miteinander der Auffassung, dass Homosexualität an sich in der Bibel als falsch bewertet wird und für Christen, die das ernst nehmen, daher zwei Optionen bestehen: Enthaltsamkeit oder das Ringen um eine Veränderung der sexuellen Orientierung, das sie – im Gegensatz zur derzeit landläufigen Meinung – für möglich halten.

Egal welche Position man vertritt, es kommt in dieser Frage auf saubere Argumentation an. Missverständnisse und Verurteilungen gab es von allen Seiten schon reichlich. Jüngst erst bezeichnete der konservativ-reformierte John Piper einen Tornado in Minneapolis als Gottes Antwort auf die zeitgleiche Öffnung der in unmittelbarer Nähe tagenden US-Lutheraner für Pastoren, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben. Das Beweisfoto einer abgeknickten Kirchturmspitze liefert er gleich mit.

Nun sind mir beim Lesen des Beitrags über „Homosexualität in der Bibel“ ein paar Fragen gekommen, die ich hier zur Diskussion stellen will. Theologische Argumente sind meteorologischen sicher vorzuziehen. Vorab aber die Bitte an alle, die unten dann kommentieren, sachlich bei den angeschnittenen Fragen zu bleiben und im Ton alle Polemik zu vermeiden, davon gibt es anderswo mehr als genug. Ich beschränke mich in diesem Post auf die Auslegung von Leviticus 18,22 („Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.“ – ähnlich Lev. 20,13)

Im ersten Argumentationsgang wird die Frage abgewiesen, ob Homosexualität hier als mutwillige Tat oder als eine Neigung und Empfinden verstanden wird, das allen willentlichen Entscheidungen vorausgeht. Dazu verweist der Autor Christoph Raedel auf Jesu Verbot der Ehescheidung, aus dem er mit Pannenberg die Norm für alles geschlechtliche Verhalten ableitet. Sprich: Es gibt die Ehe von Mann und Frau und alles andere ist Sünde. Der Punkt ist insofern aufschlussreich, als der Verweis auf die „Schöpfungsordnung“ das implizite Grundargument in dieser Frage darstellt. Jesus, der zu Homosexualität nichts gesagt hat, wird auf diese Weise in das Argument eingebunden. Betrachtet man den Kontext von Mk 10,2-9, dann liegt die Aussageabsicht aber an einer ganz anderen Stelle, nämlich dem Schutz der Frauen vor den Launen ihrer Männer und der jüdischen Scheidungspraxis, in der zwar Männer ihre Frauen verlassen konnten, aber nicht umgekehrt. Es hat also eine gewisse emanzipatorische Funktion. Der Gegensatz (das war es in diesem Fall) Mann/Frau ist von daher vorgegeben. Ob man daraus ableiten kann, dass Jesus hier implizit auch homosexuelle Partnerschaften verurteilt, scheint mir eher fraglich.

Im zweiten Schritt weist Raedel eine Orientierung an der Frage der „Mannesehre“ ab. Denn in Lev 18 werden tatsächlich nur Männer angesprochen. Er verhandelt sämtliches Verhalten (hier werden sexuelle Beziehungen zu verschiedenen Graden von Angehörigen untersagt, aber zwischendurch auch Verkehr mit der eigenen Frau während der Regelblutung, Sex mit Tieren und das Opfern von Kindern für den „Moloch“) unter dem Stichwort „Grenzverletzung“. In diesem Fall eben die Verletzung der „Geschlechterzuordnung“. Damit sind wir wieder beim Schöpfungsargument und müssten uns also mit Genesis 1-2 befassen. Etwas unglücklich scheint mir, dass an dieser Stelle die Parallelität zum Inzest und zur Sodomie betont wird.

Drittens sei das zentrale für die Verurteilung von homosexuellem Verhalten nicht in der Unfruchtbarkeit (Kinderlosigkeit war ein großer Makel im alten Orient) zu suchen, meint Raedel, sondern in der Verletzung der Rollenordnung. Hier wird wieder auf Inzest verwiesen und das Verbot der Kinder- bzw. Menschenopfer, in denen auch die Rollen verletzt werden.

Viertens sei hier nicht nur von Kultprostitution die Rede, so dass nichtkultische sexuelle Beziehungen davon unbenommen blieben, obwohl dies, wie Raedel zugesteht, die häufigste Form gewesen sei, in der Israel homosexuellen Verkehr kennengelernt habe. Es sei nicht von ritueller, sondern moralischer Verunreinigung die Rede, daher könne auch keine kultische Sühne durch Reinigung und ggf. Opfer erfolgen, sondern der Tod sei die einzig mögliche Konsequenz. Das steht auch so in Lev 18, gilt aber eben auch für den Mann, der seiner Frau während ihrer Tage zu nahe kommt! Ich hätte mir hier noch eine Aussage dazu gewünscht, ob und in welchen Fällen Raedel die Todesstrafe heute für angemessen hält. Das ist doch eine recht happige Drohung, die auch im heutigen Judentum nicht mehr so wörtlich genommen wird. Es ist mit Sicherheit aber ein Text, mit dem über Jahrhunderte harte Ausgrenzung gerechtfertigt wurde und der immense Ängste hervorgerufen hat und bis heute noch hervorruft – und wenn Raedel ein paar Absätze weiter (unnötig, wie ich finde) mit dem Neutestamentler Richard Hays Homosexualität als „Sakrament der Antireligion“ bezeichnet, werden all diese Ängste durch die steile Aussage schlagartig wach und apokalyptische Horrorvisionen gesellen sich noch dazu.

Aber zurück zu Levitikus 18. Meine Anfragen zu den Punkten 2-4 sind nun folgende:

  • Generell haben Christen das alttestamentliche Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) nicht mehr als verbindlich angesehen, nur ist Lev 18 eben die wichtigste Aussage zu irgendeiner Form von Homosexualität in der jüdischen Bibel. Die Frage ist, ob man sich diesen einen Punkt aus dem Kontext herauspicken darf und den Rest – angefangen beim Strafmaß – dann doch ignorieren – zum Beispiel, indem man sich den Bart stutzt (Lev 19,27)?
  • Eine Tendenz dieser Aussagereihe (und von Raedels Insistieren auf der Behandlung dieses Textes) ist, dass wer Homosexualität nicht für ein Gräuel hält, damit auch anderen Dingen wie sexuellem Missbrauch von Kindern Tür und Tor öffnet. Nur argumentieren die wenigsten von uns beim Thema Kindesmissbrauch mit Lev 18, sondern mit dem offenkundigen Schaden, den dieses Verhalten anrichtet. Und Kinderopfer sind durch das Verbot des Tötens, das Jesus unmissverständlich verschärft hat, wie auch durch die Tatsache, dass das Christentum überhaupt keine blutigen Opfer mehr zulässt, auch problemlos ohne Lev 18 zu begründen. Müssten wir hier nicht doch eher fragen, welcher offenkundige Schaden denn entsteht – für die Betroffenen wie die Allgemeinheit?
  • Drittens würde ich mit Miroslav Volf unterscheiden zwischen Geschlechtlichkeit, die biologisch im männlichen und weiblichen Körper (Chromosomen, Geschlechtsorgane, Hormonhaushalt) begründet ist, und den kulturell bedingten Geschlechterrollen (im Englischen „gender“). Das eine ist da, das andere machen wir daraus. Wenn nun Raedel von der Verletzung der Rollen und Geschlechterordnung spricht, meint er Letzteres, erklärt es zugleich aber – und da wird es eben schwierig – wie Ersteres für unveränderbar. Freilich haben sich unsere Vorstellungen von Mann- und Frausein und die Deutung der anatomischen Unterschiede längst gewaltig geändert. In der alten Welt etwa galt der Mann beim Geschlechtsakt als der aktive, die Frau als der passive Teil. Das sehen und erleben viele Paare (und selbst christliche Eheratgeber) heute anders. Haartracht und Kleidung (auch bei Paulus noch ein Thema) haben sich gravierend verändert, ebenso die Bewertung von Fruchtbarkeit und Kinderlosigkeit.

Volf schreibt zur Frage der Geschlechterrollen (Exclusion and Embrace, S. 182):

Biblical „womanhood“ and „manhood“ – if there are such things at all, given the diversity of male and female characters and roles that we encounter in the Bible – are not divinely sanctioned models but culturally situated examples; they are accounts of the successes and failures of men and women to live out the demands of God on their lives within specific settings. This is not to say that the biblicals construals of what men and women (of what men and women as men and women) should or should not do are wrong, but that they are of limited normative value in a different cultural context, since they are of necessity laden with specific cultural beliefs about gender identity and roles.

Manches davon schwingt wieder mit, wenn es um die Frage geht, was in Römer 1,26ff mit „natürlich“ und „widernatürlich“ gemeint ist. Für heute lasse ich es bei der Frage, ob das Buch Levitikus der ideale Einstieg in die schwierige Debatte ist.

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Himmlischer Rechnungshof?

Dallas Willard gibt ein spannendes Interview über die christliche Erlösungslehre und kommentiert die Problematik im Konzept des stellvertretenden Strafleidens Christi:

Willard: Ein Problem dieser Theorie in ihrer landläufigen Auffassung ist, dass sie Gott als jemanden darstellt, der nie vergibt. (…) Wenn Du freikommst, dann nur, weil jemand dafür bezahlt hat.

Interviewer: „Während du, Gemeindeglied in deiner Kirchenbank, 70 mal 7 mal vergeben musst, muss ich, Gott, mich in meinem Zorn besänftigen lassen, wenn jemand etwas falsch macht.

Willard: Das ist richtig. Sie gibt ein schreckliches Bild von Gott ab, und das lässt sich nicht mit dem in Einklang bringen, was Jesus über Gott gelehrt und praktiziert hat, oder was die Beziehung zu Gott in allen Zeiten für die bedeutet hat, die in Christus leben.

Willards Antwort auf die Problematik ist, dass man sich nicht auf eine bestimmte Erlösungstheorie (er nennt hier drei Ansätze) beschränken darf und dass die verschiedenen Theorien in der Regel zu kurz greifen, weil sie das Versöhnungsgeschehen nicht schon mit der Menschwerdung des Logos beginnen lassen.

In einer Diskussion neulich fiel die Aussage, man könne die hier kritisierte Theorie – gewiss in einer etwas geläuterten Form – heutigen Menschen durchaus plausibel machen. Ich habe daran keinen Zweifel. So funktioniert unsere Welt: Irgendwer muss bezahlen. Wir lesen es täglich in den Schlagzeilen. Es werden Schuldige gesucht, Strafen gefordert, Kompensationen angeboten. Und Gott ist so eine Art Präsident des obersten Rechnungshofes. Man kann das, wie gesagt, verfeinern. Aber für mein Empfinden sind die Kategorien das Problem: Ist das noch der Gott, von dem Jesus redete? Was mir bei Willard gefällt, ist dass er andere Kategorien findet, um zu beschreiben, was sich zwischen Gott und Menschen abspielt.

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Weisheit der Woche: Katholische Persönlichkeiten

Eine katholische Persönlichkeit ist eine Persönlichkeit, die durch Andersartiges bereichert wird; eine Persönlichkeit, die nur deswegen ist, was sie ist, weil sich in ihr viele andere in einer bestimmten Weise widerspiegeln. Die Distanz zu meiner eigenen Kultur, die daraus resultiert, dass ich aus dem Geist geboren bin, schafft in mir einen Riss, durch den andere hereinkommen können. Der Geist entriegelt die Tür meines Herzens, wenn er sagt: „Du bist nicht nur du; andere gehören auch zu dir.“

Eine katholische Persönlichkeit braucht eine katholische Gemeinschaft. (…) Jede Kirche muss daher sagen, „ich bin nicht nur ich; alle anderen Kirchen, in unterschiedlichen Kulturen verwurzelt, gehören auch zu mir.“ Jede braucht alle, um richtig sie selbst zu sein.

und dann fügt Volf hinzu:

Eine wahrhaft katholische Persönlichkeit muss eine evangelische Persönlichkeit sein – eine Persönlichkeit, die aus einer Umkehr hervorgegangen ist und vom Evangelium geprägt wird, und die sich an der Umgestaltung der Welt beteiligt.

Miroslav Volf, in: Exclusion and Embrace

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Adam, wer bist du?

In den letzten Wochen haben etliche Knochenfunde neue Erkenntnisse über die komplexe Entwicklungsgeschichte der Menschheit geliefert. Die Funde von „homo?“ und „x-woman“ erinnern wieder einmal an die Schwierigkeit, an der wörtlichen, d.h. „historischen“ Auffassung der biblischen Urgeschichte aus Genesis 1-11 festzuhalten, wie sie vor allem seit Augustinus die westliche Theologie geprägt hat. Wenn man Paläontologie und evolutionäre Biologie nicht als kollektive Verschwörung gegen die Wahrheit oder gigantischen Irrtum verstehen will (manche tun das freilich…), muss man neue Wege suchen. Wie das frühere Generationen das auch recht unbefangen getan haben, wenn sie den Glauben in den Kategorien ihrer Weltsicht formulierten.

Exegeten haben längst entdeckt: Innerhalb des Alten Testaments kann Genesis 2-3 mit der Vertreibung aus dem Paradies auch als Gegenstück zum Exil gelesen werden, dann geht es darin um Israel, nicht die ganze Menschheit und es ist auch kein Wunder mehr, dass in Genesis 4 andere Menschen auftauchen. Der Sündenfall ist innerhalb des AT also eine späte Erscheinung. Er spielt im restlichen AT keine Rolle und ist auch kein Thema des apostolischen oder nizänischen Bekenntnisses. In CA II dagegen wird er vorausgesetzt – das wäre neu zu interpretieren.

Wenn also Adam und Eva nicht das eine universale Elternpaar aller Menschen waren, wenn es keinen idealen „Urstand“ einer Welt ohne Tod und damit verbunden einer „unverdorbenen“ menschlichen „Natur“ gab, und damit auch keinen einzelnen Punkt, an dem der Bruch und der Absturz sich ereignete – wie können wir heute von Gott dem Schöpfer und dem Menschen als Geschöpf – und als Sünder – reden? Das stellt die Frage nach einer Schöpfung in 6 Tagen ja von der Tragweite her mächtig in den Schatten: Die klassische Erbsündenlehre, die eine „Übertragung“ der Ursünde seit Adam durch Zeugung annimmt und sie damit folgenschwer im Bereich der Körperlichkeit sieht, ist aus heutiger Sicht einfach unverständlich.

Viele Begriffe, die dem Welt- und Menschenbild vor 1.500 Jahren entsprechen, haben heute aus vielerlei Gründen ihre Plausibilität eingebüßt. Die antike Vorstellung einer immer gleich bleibenden menschlichen „Natur“ ist heute durch eine dynamische und sich differenzierende Entwicklung überholt – die Kategorie der Differenz wird wichtiger, die der „Gleichheit“ tritt zurück. Neurobiologen denken heute das Verhältnis von Leib und Seele/Geist ganz anders als das von Platon bis Descartes noch der Fall war. LeRon Shults geht auf diese und andere Fragen in dem enorm spannenden Buch Christology and Science ein. Er analysiert sorgfältig die Begrifflichkeit und Gedankenwelt, in der sich die Lehre vom Sündenfall entwickelt hat. Dazu gehören die „Fakultätenpsychologie“ (wo der immateriellen Psyche bestimmte unterscheidbare Funktionen wie Wille, Verstand etc. zugeschrieben werden), das antike Verständnis von Leib und Seele und einiges mehr. Es geht Shults (und vielen anderen) nicht darum, die biblische Autorität zu unterhöhlen und vor den Wissenschaften zu kapitulieren, sondern darum, die Kernaussagen über das Verhältnis von Gott und Mensch unter den veränderten Bedingungen heutigen Wissens neu und so stimmig wie möglich zu formulieren:

Wir können die theologischen Aussagen der ersten Teile des Buches Genesis (…) akzeptieren, ohne die antike wissenschaftliche Kosmogonie (…) der ursprünglichen Autoren und Redaktoren zu übernehmen. (S. 43)

Im alten Orient hat man Verbundenheit zwischen Sippen und gemeinsame Eigenschaften von Menschen bevorzugt durch den Verweis auf eine gemeinsame Abstammung erklärt. Das ist heute nicht mehr unmittelbar einleuchtend.

Was also, wenn das „Paradies“ im Sinne von umfassendem Heilwerden und gerechter Beziehungen, der Abwesenheit von Leid und Tod, erst vor uns liegt? Wir müssten Genesis 2-3 dazu rückwärts lesen: Als Menschen sind wir mit der Sehnsucht geschaffen, das endliche Leben in dieser begrenzten Welt zu transzendieren. Und in dieser Hinsicht wollen wir „sein wie Gott“. Der „Sündenfall“ besteht darin, dieses Ziel aus eigener Kraft erreichen zu wollen, statt es aus Gottes Hand als Geschenk zu empfangen. In Jesus sehen wir das Gegenbild dieser Lebensweise, und erst hier zeigt sich, was wahres Menschsein bedeutet: Statt diese Bestimmung mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, kann er loslassen und wird genau deswegen von Gott auferweckt und erhöht – verwandelt in einen Zustand der Herrlichkeit, der uns auch verheißen ist in ihm. Er macht also nicht einfach etwas rückgängig, was Adam verbockt hat.

Heute könnte man das so lesen: Wir alle „sind“ Adam/Eva, und in Christus steht uns der Weg zu einem erfüllten Leben in anderen Dimensionen als den uns vertrauten offen. Damit wäre nebenbei auch das Problem vom Tisch, ob es gerecht ist, wenn Gott aufgrund des Falls der ersten Menschen auch alle anderen im Zustand der Sünde lässt bzw. die Schuld allen anlastet und alle unter Strafe stellt. Oder die Frage, die schon Augustinus nicht so recht beantworten konnte, wie aus diesem Idealzustand überhaupt ein so schwerer Fall geschehen konnte.

Jaroslav Pelikan hat gezeigt, dass die augustinische Vorstellung des epochalen Falls aus dem idealen „Urstand“ eine Reaktion auf die christologische Lehrbildung in der alten Kirche war. Dass Gott zur Rettung der Welt bis zum Äußersten ging, musste doch einen gewichtigen Grund haben. Soteriologie prägt die Anthropologie. Zarte Ansätze in eine andere Richtung findet Shults bei Theologen wie Irenäus, die nicht den Fall als Anlass oder Ursache für die Menschwerdung des Sohnes ansehen, sondern „supralapsarisch“ von der Schöpfung einer unvollkommenen Menschheit ausgehen, die von vornherein auf die Menschwerdung hin angelegt war. Das Kommen Christi ist also kein Reparaturunternehmen. Sondern es eröffnet mit der Auferstehung allen Menschen eine Perspektive über den biologischen Verfall hinaus. Für eine radikale Rekonstruktion der Christologie und Anthropologie, die Shults für nötig hält, haben wir, wie er sagt, weniger Zeit als die 400 Jahre, die zur Verarbeitung der kopernikanischen Wende nötig waren.

Spannend! Wer sich für die Materie interessiert, kann auf BioLogos weiterlesen, dort finden sich viele interessante Artikel von Theologen und Naturwissenschaftlern. Dort finden sich die folgenden zwei Videos und ein Blogpost von Peter Enns zu dieser Frage, ob man das heute noch so wörtlich nehmen muss, und ob man sich in diesem Fall – wie es immer wieder geschieht – auf Paulus berufen kann:


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Bild vom Bild

Auch wenn es keinen Beleg für den extremen Skeptizismus derer gibt, die behaupten, dass die historische Figur Jesu – wenn es denn je eine gab – unwiderruflich hinter dem Rauchschleier der urchristlichen Verkündigung verschwunden sei, so ist es dennoch angebracht, bei der Warnung anzusetzen, dass jedes spätere Jesusbild in Wirklichkeit nicht auf einem unretuschierten Original des Evangeliums beruht, sondern ein Bild dessen ist, was im Neuen Testament selbst schon ein Bild ist.

Jaroslav Pelikan in Jesus through the Centuries

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Männer und Opfer, Frauen und Geist?

Ein interessanter religionssoziologischer Gedanke, den ich heute bei LeRon Shults in Christology and Science gefunden habe, bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen der Orientierung am Opfer und dem Wirken des bzw. eines Geistes, die in verschiedenen Religionen koexistieren und weist auf eine Hypothese von Nancy Jay hin:

Opfersysteme stehen oft im Zusammenhang mit patrilinearen Praktiken, während Besessenheit – oder Erfülltsein mit einem Geist (oder dem Geist) – eine Erfahrung des Heiligen ist, die häufiger für Frauen offen ist und in manchen Kulturen explizit mit einer Anführerin in Verbindung gebracht wird. Das könnte zum Teil erklären, warum sie viele (vorwiegend männliche) Formulierungen der Sühne (Versöhnung mit Gott) der Funktion des Heiligen Geistes so wenig Beachtung geschenkt haben.

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Weisheit der Woche: Tod und Ewigkeit

Was sich im Tod von einander trennt, sind nicht Leib und Seele, sondern Zeit und Ewigkeit. Das heißt: eine begrenzte und an diese Art von zeitlich-räumlichem Leben gebundene Existenzweise und eine andere Art von Leben, die von einem offenen, unbegrenzten Verhältnis zur Materie gekennzeichnet ist und in die hinein der Mensch mit dem Tod gelangt. …

Ewigkeit ist keine Verlängerung der Zeit in die Dimension des Unendlichen. Ewigkeit ist keine größere Menge, sondern eine andere Qualität unter dem Siegel der Fülle.

Leonardo Boff in Die Botschaft des Regenbogens

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Ganz versunken

Ich habe die Nase wieder tief in Miroslav Volfs wunderbarem Buch Exclusion & Embrace. So bald ich wieder beide Hände frei habe, geht es ans Übersetzen des Textes für den Francke-Verlag. Nach allem, was ich bisher schon gelesen habe, finde ich das sehr spannend!

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Mein Jesus – dein Jesus?

Neulich habe ich Der wilde Messias von Frost und Hirsch zur Hand genommen. Zu Beginn werden dort verschiedene Jesusbilder kritisiert, als Projektionen „entlarvt“ und für diverse Missstände in den Kirchen verantwortlich gemacht.

So weit, so gut. Aber dann habe ich eine Antwort auf die Frage vermisst,

  • ob solche Projektionen unvermeidlich sind (und der Jesus, der im Folgenden – in normativer Absicht! – beschrieben wird, das Abziehbild eines australischen Gemeindegründers im 21. Jahrhundert wird)
  • oder welche nachvollziehbaren Methoden der Rekonstruktion (um nichts anderes geht es ja) man anwenden muss, um eben dies zu vermeiden.

In den nächsten Wochen werde ich weiterlesen und die Antwort hoffentlich noch finden. Sonst wäre das Buch wohl eher – wie das Cover vermuten lässt – eine romantisierende Jesulogie als ein weiterführender Beitrag zur christologischen Debatte.

Nachtrag: Ein möglicher Ansatz wäre, interkulturell zu arbeiten. Was sehen Menschen aus anderen Kulturkreisen (und damit meine ich nicht so sehr hiesige „Szene“ oder Subkulturen) in Jesus, was kann ich von ihnen lernen – und was besser nicht?

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