Ein interessanter religionssoziologischer Gedanke, den ich heute bei LeRon Shults in Christology and Science gefunden habe, bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen der Orientierung am Opfer und dem Wirken des bzw. eines Geistes, die in verschiedenen Religionen koexistieren und weist auf eine Hypothese von Nancy Jay hin:
Opfersysteme stehen oft im Zusammenhang mit patrilinearen Praktiken, während Besessenheit – oder Erfülltsein mit einem Geist (oder dem Geist) – eine Erfahrung des Heiligen ist, die häufiger für Frauen offen ist und in manchen Kulturen explizit mit einer Anführerin in Verbindung gebracht wird. Das könnte zum Teil erklären, warum sie viele (vorwiegend männliche) Formulierungen der Sühne (Versöhnung mit Gott) der Funktion des Heiligen Geistes so wenig Beachtung geschenkt haben.
Und zu welcher Kategorie zählt das Christentum?
Ist es gerade aufgrund dieser Antithese nicht der Clou, dass für Paulus (und m.E. das ganze NT) das Sühneopfer Christi erst aufgrund der Erfüllung durch den Geist einleuchtend wird?
Erschließt sich so ein weiterer Sinn von „hier ist nicht Mann noch Frau“?
Wäre schon denkbar, oder? Der Punkt war ja, dass es in vielen Religionen offenbar beides gibt. Man könnte nun sagen, seit es im Christentum keine weiteren Opfer mehr gibt, überwiegt das Pneumatikertum. Ist aber leider nicht so, wenn man sich mal in der Breite umsieht…
Woran erkennt man denn D.E. einen Pneumatiker? Und ist diese Unterscheidung im Christentum überhaupt angemessen? (Eine Frage, die ich verneinen würde.)
Harte Trennungen sind sicher problematisch und vor allem theologisch tabu – und zwar je weniger offensichtliche Geistwirkungen irgendwo auftreten, desto mehr tabu. Aber es gibt sicher Christen mit ausgeprägten Geisterfahrungen und viele, die das entweder nicht kennen oder keine Worte dafür haben…
1 Corinthians 12:3b und niemand kann Jesus den Herrn nennen außer durch den heiligen Geist.
Für Paulus ist die einzige offensichtliche Geistwirkung und -erfahrung, Jesus den Herrn nennen zu können. Wenn ich ihn recht verstehe, ist damit gerade der Glaube an das Opfer Jesu impliziert.
Die „traditionellen Charismen“ (Sprachenrede, Heilungen, Prophetie, …) sind für ihn in der Gemeinde zwar Geistwirkungen, aber eben keine offensichtlichen Geistwirkungen, weil es sie ja ohne den Geist Gottes auch gibt.
Ich überlege, soweit zu gehen, dass der von Dir zitierte Text ein religionssoziologischer Versuch sein könnte, den Sohn und den Geist gegeneinander auszuspielen. Das geschieht ja innerhalb der Kirche auch manchmal. Und es ist für beide Seiten gefährlich.
Von daher nochmals die Frage: Woran erkennst Du einen Pneumatiker?
Au weh, da liegen die theologischen Nerven aber blank, oder? Ich bin gar nicht damit einverstanden, das Wirken des Geistes auf das Christusbekenntnis zu reduzieren und denke, dass das der großen Vielfalt der Aussagen über den Geist im Neuen Testament in keiner Weise gerecht wird.
Aber so lange der Subtext dieser Debatte lautet, wer die besseren Christen sind, kommt man auch nicht weiter. Bevor Du nun unnötig weit reichende Schlussfolgerungen („Sohn gegen Geist ausspielen“) aus dem kleinen Textausschnitt ziehst, lies doch das Buch selbst. Hier wird nichts ausgespielt, sondern zusammengehalten. Darum ging es mir auch.
Die Reduktion der Geisterfahrung auf einen (de facto dann in der Regel) kognitiven Akt ist für mich eine Spätfolge neuzeitlich-aufgeklärten Rationalismus, an der die evangelische Theologie immer noch krankt. Konservativ verschwindet der Geist dann in der Schrift, liberal in der Vernunft. Daher das tief sitzende Misstrauen gegen alles Transrationale, Intuitive und Mystische. Allein das Bekenntnis ist objektiv fassbar. Aber ist es das wirklich? Wer sagt denn mit letzter Gewissheit, ob das nicht nur Kopfwissen und Lippenbekenntnisse sind?
Jetzt wäre ich froh über eine Zitierfunktion. Aber so lang ist Dein Text auch nicht.
Meine „Schlussfolgerung“ habe ich bewusst als vorsichtige Vermutung formuliert („überlege, soweit zu gehen … sein könnte“), der Du jederzeit widersprechen darfst, weil Du das Buch besser kennst. Du hast dem widersprochen, und damit ist dieser Punkt für mich erledigt.
Meine theologischen Nerven liegen nicht blank. Ich möchte nur gern verstehen, worum es dem Autor geht – dem des Zitates und dem des Blogs.
Die Frage, wer die besseren Christen sind, habe ich mir schon lange abgewöhnt.
Ich mache die Qualität des Christseins weder an bestimmten Phänomenen fest noch an deren Fehlen. Ich behaupte auch nicht, dass Du das tust, habe aber noch nicht verstanden, ob Du es nicht tust. Daher meine hartnäckige Frage, woran ein Pneumatiker erkannt wird.
Mit der Frage, ob das Bekenntnis nur ein Lippenbekenntnis ist, hast Du natürlich recht. Es ist gut möglich, dass ich an der Stelle einen blinden Fleck habe.
Dann sind wir an der Stelle angelangt, dass es im Grunde keine offensichtliche Geistwirkung gibt, weil sich alles auch ohne den Geist erklären lässt. Damit sind wir wahrscheinlich beide gleich unzufrieden.
Es ist nicht meine Absicht, das Wirken des Geistes auf das Glaubensbekenntnis zu reduzieren. Ich würde es noch nicht einmal auf den Glauben selbst reduzieren, bekannt oder un-bekannt. Ich möchte aber schon dabei bleiben, das der Glaube (an Christus, den Herrn, der sich geopfert hat …) eben auch eine Wirkung des Geistes ist, die genau so wertvoll ist wie andere rationale und transrationale Wirkungen auch. Und der Glaube ist die Wirkung, die der Geist allen Gläubigen schenkt, während die anderen rationalen und transrationalen Wirkungen unterschiedlich verteilt sind, wie der Geist es will. (Ich könnte von mir selber auch von rational nicht erklärbaren Intuitionserfahrungen berichten, die ich auf das Wirken des Geistes zurückführe. So etwas ist mir nicht unbekannt, und ich misstraue dem auch nicht. Es würde mir aber auch nicht fehlen.)
Ich hoffe, damit sind die Missverständnisse, die mein Posting zuließ, einigermaßen ausgeräumt. Wir müssen ja nicht einer Meinung sein, aber können versuchen zu verstehen, wo wir es sind und wo nicht.
Die Frage, der wir uns m.E. weiter widmen könnten, wäre, wie dieses „Zusammenhalten“, um das es uns allen geht, konkret aussehen könnte. Für mich genügt dafür die Feststellung, dass es ohne das Wirken des Geistes keinen Glauben an das Opfer des Sohnes gibt. Andere Wirkungen des Geistes sind damit nicht ausgeschlossen, für diesen konkreten Punkt aber auch nicht wichtig. Über andere will ich nichts sagen.
Das ist wahrscheinlich noch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Wie könnte das „Zusammenhalten“ denn für Dich aussehen?
Danke für die Klärung. Ich versuche noch einen anderen Anlauf: Geistwirkungen sind erstens nichtreduzierbar vielfältig bzw. vielgestaltig und zweitens von außen und isoliert betrachtet vieldeutig, aber wir sollten festhalten, dass es sie gibt.
Pneumatiker wären für mich Menschen, die von sich (in aller Unschärfe, die diese subjektive Aussage hat) glaubwürdig von sich sagen, dass sie den Geist in ihrem Leben wahrnehmen und das Wirken des Geistes kultivieren, etwa durch eine bestimmte Praxis. Die also Spiritualität bewusst leben und darin Kraft finden, Orientierung erleben, Intuitionen folgen, gemeinschaftsfähig und christusähnlich werden, den Geist im Sinne von Joh 14-16 als Parakleten erfahren – sowohl als immanente Kraft wie auch als transzendentes Gegenüber. Potenziell ist das jeder Christ, de facto leider nicht. De facto gibt es auch bei den so verstandenen Pneumatikern Schwankungen, Fortschritte und Rückschläge und blinde Flecken.
Auf den Sohn bezogen bedeutet das: Der Geist erschließt dem Glaubenden nicht nur die Realität Christi, sondern er führt ihn in die Nachfolge dessen, der durch Taufe und Geistempfang als Sohn Gottes offenbar wurde. Da gehört dann das transformatorische Wirken des Geistes dazu im Sinne von Gal 5,22, aber auch die Tatsache, dass der neue Bund darin besteht, dass durch den Geist Gottes Wille in die Herzen geschrieben wird (Hes. 36, vgl. Gal 3-5 u.ö.) und Gottes Liebe dort ausgegossen (Röm 5,5). Das geht weiter mit dem Gebet als Lebensäußerung des Geistes (vgl. Röm 8,14.26) und dass dem Glauben an den Sohn, der sich geopfert hat, nun das Opfer des eigenen Lebens folgt (Röm 12, 1ff – und genau da haben dann die Charismen ihren Ort).
Anders gesagt: Ein „patrilineares“ Christentum, dass sich der kultisch-objektiven Seite allein verschreibt, verliert mit dem Geist auch jede tiefere Bindung an den Sohn und behält nur noch einen theistisch verstandenen Gott, der höchstens auf dem Papier trinitarische Gemeinschaft gegenseitiger Andersartigkeit wäre. Umgekehrt rutscht eine frei flottierende Spiritualität, deren Geist nicht mehr der Geist Christi ist, schnell in esoterische Beliebigkeit.
Auch wenn Du inzwischen weiterbloggst, wollte ich diesen Text ein paar Tage sacken lassen, um ihn zu ruminieren und auch anderen Gelegenheit zur Antwort zu geben.
Ein sehr sympathisches Bild des Pneumatikers, das Du da beschreibst und das den Wunsch weckt, selber so zu sein. Ich würde es für mich persönlich vielleicht ergänzen um die vom Geist geschenkte Dankbarkeit und Freude über das Opfer Jesu, die gerade nicht im objektiven bleibt, sondern den Menschen erfüllt und zu Vergebung und Gelassenheit gegenüber sich selbst und anderen befreit. Für unser Anliegen, die Antithese von Opfer und Geist zu überwinden, ist das nicht unwichtig, war bei Dir wahrscheinlich impliziert.
Über einen Satz stolpere ich dann doch:
„Potenziell ist das jeder Christ, de facto leider nicht.“
Das Sympathische an dieser Formulierung ist, dass es niemandem das Christsein abspricht. Das Einleuchtende an ihr ist, dass es sich auch mit meiner Erfahrung deckt. Das Gefährliche an ihr finde ich, dass sie sich doch wieder im Sinne einer Kategorie „bessere Christen“ (miss-)verstehen lässt, die wir doch vermeiden wollten.
Mein persönlicher Weg, dieses Missverständnis zu vermeiden, wäre, meine Erfahrung in Frage zu stellen und diese Wirkung des Geistes allen Christen zu unterstellen, auch wo ich es nicht bemerke. Aber vielleicht hast Du noch eine andere Idee.
@Andreas: Danke für die Ergänzung!
Zum „Stolpersatz“ noch kurz: Wünschen ja, hoffen auch, aber wenn ich Pneumatiker an der Selbstaussage hinsichtlich konkreter (wenn auch nicht ganz eng umrissener) Erfahrungen festmache, muss ich die Selbstaussage ja doch auch ernst nehmen, wenn sie negativ ausfällt. Dann gibt es immer noch die Möglichkeit, dass der Person die Erfahrungen nicht bewusst sind, weil ihr die Kategorien fehlen, um es zu merken und sagen zu können (das wäre dann die freundliche Unterstellung) – oder aber, dass tatsächlich keine da sind.
Da kann dann ein Gespräch weitergehen, etwa um den Wunsch nach oder die Angst vor Erfahrungen mit dem Geist, über die Frage nach dem „Dämpfen“ oder „Betrüben“ des Geistes bei einzelnen und in Gemeinschaften bzw. das Kultivieren von Spiritualität, aber letzten Endes hängt es weiter an dem, was der andere von sich sagt. Andererseits: Ist doch schön, wenn man konkrete Wachstumsperspektiven für sich formulieren (und im Sinne von Jakobus 1,5 darum beten) kann.
Aber eine simple besser-schlechter-Stufenlogik, da sind wir uns auch schon immer einig, ist völlig unangemessen. Jeder hat seine Defizite, auch der Pneumatiker. Und alles, was mit dem Geist zu tun hat, sperrt sich gegen Kategorien von Leistung und Verdienst.