„Das ist doch kein Gottesdienst…“

Als sich unsere Gemeinde in den Anfangsjahren in einer Schulaula traf, die Band noch lauter und vielleicht auch nicht immer so gut wie heute spielte, kam ein Kirchenvorsteher aus dem Umland zu Besuch, um sich mal umzusehen. Seine Tochter erzählte mir später, er habe daheim gesagt, das sei kein Gottesdienst, was wir da machen. Der Grund war auch schnell ausgemacht: Es gab kein Vaterunser. Vor ein paar Monaten ist mir dasselbe bei einem Open Air Gottesdienst hier im Wohngebiet wieder passiert, da war es ein Herr aus der Nachbarschaft, der die Unterlassung vorwurfswoll kommentierte.

Später haben wir jeden ersten Sonntag im Monat einen Gottesdienst in einer Kneipe angefangen, und da waren es dann weniger die Gäste (die in der Regel ganz froh waren, dass es sich von dem, was sie mit „Gottesdienst“ assoziierten, wohltuend unterschied), sondern ein Teil unserer Gemeinde, der mit dieser neuen Form seine Mühe hatte. Immer wieder fiel am Monatsende der Satz, so beiläufig, dass man spürte, wie tief dieses Urteil sitzen musste: „Am nächsten Sonntag ist ja kein Gottesdienst“.

Das fehlende Vaterunser spielte dabei wohl keine Rolle. Aber solche Dinge wie: Bei einem Gottesdienst steht kein Bier oder Cola auf dem Tisch, zu einem Gottesdienst gehört eine „Lobpreiszeit“, ein Gottesdienst braucht eine bestimmte religiöse Sprache und einen sakralen Raum. Auf der anderen Seite: Im ersten Jahr besuchte uns Prof. Manfred Seitz, der in Erlangen lange Jahre praktische Theologie gelehrt hat, und bestätigte im anschließenden Gespräch, dass alle wesentlichen Elemente der Liturgik, die einen christlichen Gottesdienst konstituieren, enthalten waren.

Was also macht einen Gottesdienst aus? Die Frage wird immer drängender, wenn Christen ihre Selbstisolation überwinden wollen. Es ist vielleicht nicht die lateinische Messe nach tridentinischem Ritus wie bei den Piusbrüdern, aber andere alte und neue Traditionen (indem man etwa Latein durch einen der verschiedenen kanaanäischen Dialekte ersetzt), die letztendlich doch Nebensächliches zur Hauptsache machen. Zu Zeiten der Christenverfolgung war es ja durchaus sinnvoll, sich zu Zeiten und an Orten zu treffen, wo es niemand bemerkte. Heute dagegen ist die (in vielen Köpfen kaum auszurottende) Prämisse, ein „richtiger“ Gottesdienst finde am Sonntag vormittag statt, ein Hauptgrund, warum viele junge Leute und alle, die den sonntäglichen Kirchgang nicht von klein auf gelernt haben, sich dort nicht bereitwillig einfinden – ganz egal, wie viel Mühe wir uns mit der Gestaltung machen.

In der Suche nach neuen Formen von Gemeinde und Gottesdienst ist es also entscheidend, dass wir möglichst sauber unterscheiden lernen, was die (wenigen) Essentials sind und was alles variabel gestaltet werden kann, weil es sich „nur“ um unsere (manchmal sehr zählebigen) Vorlieben und Gewohnheiten handelt.

Beim Einkaufen heute war der Supermarkt, wo ich Stammkunde bin, umgeräumt. Nichts war mehr am gewohnten Platz. Ich habe dreimal so lange gebraucht wie sonst und es war anstrengend. Ich fühlte mich fremd und musste mich zur Hühnerbrühe durchfragen, die ich vorher im Schlaf gefunden hätte. Sie war natürlich am anderen Ende des riesigen Schuppens.

Aber es war immer noch ein Supermarkt…

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Glaubensverwirrung?

Ich hatte hier vor ein paar Tagen schon ein Zitat von Johann Baptist Metz, hier noch ein Abschnitt, der mir in den letzten Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, zur Frage, ob das kirchliche Leben zur bürgerlichen Religion geworden ist:

Ich möchte die Befürchtung ausdrücken (wiederum nicht denunziatorisch, sondern verunsichert und mit Trauer): Diese Umkehr der Herzen findet nicht statt – zumindest nicht in der Form, in der man sie öffentlich bekennt. Die Krise (oder die Krankheit) des kirchlichen Lebens besteht nämlich nicht nur darin, dass diese Umkehr nicht oder zu wenig stattfindet, sondern dass das Ausbleiben der Umkehr der Herzen unter dem Schein eines nur geglaubten Glaubens auch noch verschleiert wird. Kehren wir Christen in diesem Lande um, oder glauben wir lediglich an die Umkehr und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Umkehr die alten? Folgen wir nach, oder glauben wir nur an die Nachfolge und gehen dann unter dem Deckmantel der nur geglaubten Nachfolge die alten, immer gleichen Wege? Lieben wir, oder glauben wir an die Liebe und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Liebe die alten Egoisten und Konformisten? Leiden wir mit oder glauben wir nur an das Mitleiden und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten „Sympathie“ allemal die Apathischen?

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Lesekunst

Spiritualität ist eine Lesekunst. Es ist die Fähigkeit, das zweite Gesicht der Dinge wahrzunehmen: die Augen Christi an den Augen des Kindes; das Augenzwinkern Gottes im Glanz der Dinge. Nicht Entrissenheit, sondern Anwesenheit und Aufmerksamkeit ist ihre Eigenart. Sie ist keine ungestörte Entweltlichung und Einübung in Leidenschaftslosigkeit. Sie ist lumpig und erotisch, weil sie auf die Straße geht und sieht, was dem Leben geschenkt ist und was ihm angetan wird.

Fulbert Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, S. 19

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Mehr Bildung als Arbeitsethik?

Der Soziologe Max Weber hatte die berühmte These aufgestellt, dass der höhere Wohlstand protestantischer Gebiete theologische Gründe hatte, nämlich Luthers Arbeitsethik, und die Tendenz im Calvinismus, einen Zusammenhang herzustellen zwischen wirtschaftlichem Erfolg und göttlicher Erwählung.

Nun weist der Bildungökonom Ludger Wößmann nach, dass die (bis heute nachweisbaren) wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten – in diesem Falle: Lutheranern – ebenso gut durch den höheren Bildungsstand letzterer erklärt werden kann. Luther – und später die evangelischen Missionare – legte großen Wert auf Schulen und Bildung, und der evangelische Glaube lieferte auch noch die Motivation zum Lernen für Eltern und Kinder.

Aktuell ist das Thema, weil der Zusammenhang von Religion/Glaube und Bildung heute in der Entwicklungspolitik wieder eine wichtige Rolle spielt. Nur geht es nun um den Bildungsrückstand vieler islamischer Länder.

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Spruch der Woche

Aber im Allgemeinen könne man sagen, dass die Schönheit der Welt in der christlichen Tradition fast keinen Platz habe. Das ist befremdend. Die Ursache schwer verständlich Es ist eine furchtbare Lücke.

Simone Weil (Danke an Reiner für den Tipp)

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Clever Meditieren

Regelmäßiges Meditieren vergrößert die Dichte der grauen Zellen, schreibt diese Woche der Spiegel. Außerdem altert das Gehirn langsamer, sagt die Neurowissenschaftlerin Sara Lazar aus Boston. Schon nach zwei Monaten sind bei gestressten Menschen positive Veränderungen sichtbar, und auch „seelische Aufhellungen“ gehören dazu.

Wenn das kein Anreiz ist, in die Fußstapfen von St. Ignatius & Co zu treten!

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Spruch der Woche: Hören lernen

Nach dem zu leben, was man von Gott gehört hat, bedeutet nicht, alles mit Bibelstellen zu belegen. Es bedeutet, auf das zu hören, was Gott uns über die konkreten Lebensaufgaben sagt, zu denen wir berufen sind. Das Wort Gottes muss man heraushören aus dem Stimmengewirr von Schrift, Tradition, Bekenntnis, Lehre, Erfahrung, Wissenschaft, Intuition, der Gemeinschaft; aber das Wort Gottes ist nicht ein einzelnes davon allein, nicht einmal sie alle zusammen.

Walter Wink, Unmasking the Powers: The Invisible Forces That Determine Human Existence (Powers)

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Seelenlose Wissenschaft

Ich habe mal wieder „The Soul’s Code“ von James Hillman aus dem Regal gezogen. Er beklagt die typisch moderne atomisierende Betrachtungsweise seiner Zunft, die dem Geheimnis des Individuums nicht gerecht werden:

… when it comes to accounting for the uniqueness and the call that keeps us to it, psychology too ist stumped. Its analytical methods break down the puzzle of the individual into factors and traits of personality, into types, complexes and temperaments, attempting to track the secret of individuality to substrata of brain matter and selfish genes.

(…) Of all of psychology’s sins, the most mortal is the neglect of beauty. There is, after all, something quite beautiful about a life. But you would not think so from reading psychology books. Again, psychology fails what it studies.

Ähnlich fällt sein Fazit da aus, wo die Naturwissenschaften das Leben erklären wollen:

The cosmologies of today – big bangs and black holes, antimatter und curved, ever-expanding space going nowhere – leave us in dread and senseless incomprehensibility. Radom events, nothing truly necessary. Science’s cosmologies say nothing about the soul, and so they say nothing to the soul, about its reason for existence and where it might be going and what it’s tasks could be.

… Explanation by the physical sciences of the ultimate origins of and reasons for our life may not be such a good way to go. Any cosmology that begins on the wrong foot will not only produce lame accounts; it will also lame our love of existence. The creation myth (!) of random events in unimaginable space keeps the Western soul floating in a stratosphere where it cannot breathe.

Ein Artikel der Zeit gibt Hillman Recht. Dort wird Charles Darwin zitiert, der in sein Tagebuch schrieb: „Viele dieser so niederen Kreaturen sind überaus exquisit in ihren Formen und reichen Farben. Es ruft ein Gefühl der Verwunderung hervor, dass so viel Schönheit für offenbar so wenig Zweck erschaffen worden sein soll.“ Der Nutzen verdrängt die Schönheit als grundlegende Perspektive. Letzten Endes wird Darwin selbst krank und unglücklich:

Es ist Darwin selbst, der in der Natur auch eine mitleidlose Züchterin sieht. Wie bei seinen späteren Mitkämpfern Haeckel und Huxley wird seine Meinung durch einen schweren persönlichen Verlust zementiert. Als seine Lieblingstochter Annie, zehnjährig, stirbt, ist klar: Die biologische Welt muss böse sein.Der lebenslange Leidensweg des forschenden Privatiers setzt zeitgleich mit seiner Evolutionslehre ein. In seinem Arbeitszimmer befallen ihn Erbrechen, Übelkeit, Schwächeattacken, die schlimmsten Symptome jener qualvollen Seekrankheit, die ihn bei seinen Entdeckungen stets begleitet hatte. Seine Seele bedrückt die Unfähigkeit, sich an der Poesie der damals populären Romantik und Spätromantik zu erfreuen. Die Kreativität des Kosmos, die dort beschworen wird, entsetzt ihn. Dichter wie William Wordsworth deuten die Naturgeschichte als Entfaltung Gottes – nicht als deren Widerlegung.

Zurück zu Hillman: Weniger überzeugend ist dann der eher oberflächliche Umgang mit allen möglichen mythischen Traditionen, in denen Hillman die Antwort sucht (besonders im platonischen Mythos von Er und der Seelenwanderung) und seine nicht ganz verzerrungsfreie Wiedergabe biblisch-christlicher Vorstellungen. Dabei könnte sein Anliegen, die Einzigartigkeit des Individuums herauszustellen, gerade hier richtig gut zur Geltung kommen, wo der Mythos, wie Tolkien gegenüber C.S. Lewis anmerkte, in Christus einzigartige Wirklichkeit geworden war.

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Liturgie – was predigt eigentlich unser Gottesdienst?

Im charismatischen Lager ist „Liturgie“ lange ein böses Wort gewesen. Die Implikation war, dass hier der Geist in Formeln gepresst wird und Erstarrung und Unmündigkeit die Folgen sind. Inzwischen ist klar, dass man auch im charismatisch-freien Stil gepflegt erstarren und unmündig werden kann. Wie konnte es dazu kommen, bei all den guten Vorsätzen und hohen Erwartungen?

Das spätcharismatische Gottesdienstmodell (Lobpreis – Predigt – ggf. Segnung) predigt, wie auch die evangelikale Spiritualität aus Gebet und Bibellese, zwei Dinge: Es ist normal, Gott zu loben und es ist normal, in irgendeiner vermittelten Form auf ihn zu hören, sei es durch eine(n) Prediger(in) oder prophetische Beiträge. Textlich und musikalisch konnte dies auf recht unterschiedlichen Niveau stattfinden. Nicht normal dagegen sind Elemente wie Klage, Fürbitte, Schweigen. In Hauskreisen wird dieser Zweischritt noch um den persönlichen Austausch erweitert und das Gebet für einander. Nicht „normal“ im Sinne einer selbstverständlichen regelmäßigen Praxis bleibt auch hier das aktive Zugehen auf andere Menschen, um ihnen Gottes Liebe in Wort und Tat näherzubringen. Das ist die Kür. Und sie findet deshalb nicht statt, weil wir uns nicht dazu verabreden, sondern es jedem einzelnen überlassen. Und dann komme ich vor lauter Stress eben nicht mehr dazu, weil ich nicht zu den drei Prozent Naturtalenten gehören, die gar nicht anders können. Ich fühle mich verständlicherweise unsicher und ungeübt.

Es gab etliche Ansätze für „Lobpreistheorien“, die populärste davon folgte der Analogie des jüdischen Tempels: Vorhof, Heiligtum, Allerheiligstes. Sprich: Man holt die Leute mit ein paar flotten, fröhlichen Liedern ab und geleitet sie dann in eine zunehmend intime Begegnung mit Gott. Das wurde oft mit dem Begriff „Anbetung“ (langes „e“ und Betonung auf der zweiten Silbe) beschrieben. In der liturgischen Umsetzung hatten hier Liebeslieder mit einfachen Text ihren Ort, der sich mit geschlossenen Augen und vielen Wiederholungen singen lässt.

So weit, so gut. Die Probleme dieses Ansatzes sind: Wenn man erstens das Ziel der außergewöhnlichen Intimität „verfehlt“, entsteht eine gewisse Frustration. Zweitens befindet man sich nach dem emotional-spirituellen Gipfelerlebnis, wenn es denn eintritt, im weiteren Verlauf eines Gottesdienstes schon wieder auf dem Abstieg. Es sei denn, ein Prediger schafft es, mit wesentlich beschränkteren Mitteln als die Lobpreis-Crew, noch einmal geistliche Gänsehaut zu erzeugen. Nun bin ich durchaus zu haben für den Gedanken, Gottes Gegenwart zweckfrei zu genießen. Ich bestreite aber, dass dies der einzige „Zweck“ (da ist er schon wieder…) eines Gottesdienstes ist. Ich denke, es ist nicht einmal der Hauptzweck, bestimmte Erlebnisse zu vermitteln. Vielmehr geht es darum, dass wir uns an Gottes große Taten erinnern und einander auf dem alltäglichen Weg der Nachfolge bestärken: Wir nehmen die große Geschichte in den Blick, finden unseren Platz in ihr und bekräftigen das.

Dazu wäre es immens hilfreich, wenn unsere Gottesdienste regelmäßig – statt dem Weg ins „Allerheiligste“ – den gesamten Bogen der Heilsgeschichte (und damit – das ist der Punkt – der missio dei ) abschreiten würde, dessen Horizont die Erneuerung der Welt ist, nicht nur die Rettung und Heil(ig)ung einzelner. Der Akzent darf dabei durchaus wandern (das wäre der Sinn des Kirchenjahres), und die Methoden dürfen vielfältig sein. Verschiedene Leute werden an verschiedenen Stellen tiefer berührt werden und an anderen weniger. Nur ist das Liedgut aus dem Lobpreis-Repertoire dafür bestenfalls bedingt geeignet, wie wir an Weihnachten und Ostern immer wieder feststellen, wenn uns die Songs ausgehen oder über stereotype Formeln nicht hinauskommen. Aber es gibt hoffnungsvolle Ansätze, das zu ändern.

Es geht nicht um einen Gott der statischen Gegenwart (das suggeriert der Tempel – so richtig es auch ist, dass wir Gott immer nur in unserer Gegenwart begegnen können), sondern um Gott, der sich aufgemacht hat und der in jedem Moment unserer Gegenwart kommt, um uns und diese Welt auf seine Zukunft vorzubereiten. Insofern ist jeder Gottesdienst ein Stück Advent – unabhängig davon, ob wir das nun akut gespürt haben oder nicht. Wir müssen uns von der Überforderung befreien, zu viel erleben und empfinden zu müssen. Sie ist der Tod der meisten geistlichen Übungen. Die leben davon, dass wir bestimmte Dinge in festen Rhythmen tun und nicht ständig fragen, was es nun gebracht hat (und sie gegebenenfalls dann bleiben lassen). Das wäre dann wirklich zweckfrei, weil es uns von der Fixierung auf unsere eigenen Erwartungen und Bedürfnisse, unseren persönlichen Zwecken, befreit.

Wie also könnte ein Gottesdienst ablaufen, der den Bogen der missio dei aufspannt und uns in Gottes Zweck und Absichten einbettet und die deutlich macht, dass der entscheidende Gottesdienst sich im Alltag abspielt?

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Finding Our Way Again

Brian McLaren wendet sich nach „Everything Must Change“ (demnächst auf Deutsch!) und der Beschäftigung mit globalen Krisen dem Thema „geistliche Übungen“ zu. Es geht hier um die vielen kleinen, nachhaltigen Schritte zur persönlichen und gesellschaftlichen Veränderung. Wie immer bei Brian findet das alles allgemein verständlich (fast im Plauderton), immer angenehm zu lesen und frei von allem Druck statt. Er gibt Anregungen, aber er stellt keine Forderungen auf und verzichtet in dieser Einführung auch auf detaillierte Anleitungen. Ab und zu sorgen ein paar lyrische Beschreibungen und Aufzählungen dafür, dass die Materie nicht trocken daherkommt. Dem europäischen Leser macht er es diesmal leicht, weil er sich nicht groß (wie sonst so oft) kritisch mit den Schwächen des nordamerikanischen Evangelikalismus auseinandersetzt.

Der erste Teil dieses Buches ist dem Gedanken des „Weges“ gewidmet. Glaube und Religion wird nicht als System von Regeln und Glaubenssätzen aufgefasst, sondern als ein Weg. Man könnte auch sagen, Brian denkt prozesshaft statt statisch, und er schreibt werbend statt abgrenzend. Manch einer wird überrascht sein, dass in diesem Teil des Buches die drei abrahamitischen Religionen immer wieder in einem Atemzug genannt werden. Aber die Vorstellung, mit Juden und Muslimen einmal aus dieser Perspektive ins Gespräch zu kommen (statt über Terror, Kreuzzüge und Holocaust oder die jeweiligen theologischen Grenzziehungen zu debattieren), ist spannend.

Im zweiten Teil spielt Brian dann seine Stärken aus. Er beschreibt drei Formen spiritueller Disziplinen: Kontemplativ, gemeinschaftlich und missional. Das Gemeinschaftliche verbindet die via contemplativa mit der via activa, (auch wenn das lateinische Wort „communitiva“ mir dafür nicht so recht über die Lippen gehen will – warum nicht einfach „communis“?). Wegen der beiden Kapitel zur gemeinschaftlichen und missionalen Praxis alleine lohnt sich das Buch schon, sie sind eine Fundgrube voll guter Anregungen. Hier kommt auch eine wichtige Entscheidung ins Spiel, die ist ein Zitat wert:

Ich gehe davon aus, dass es bei der ganzen Sache nicht nur um mich geht. Ich gehe davon aus, dass die Gemeinschaft des Glaubens nicht für mich existiert. Ich gehe davon aus, dass es in meinen kontemplativen Übungen letztlich nicht um mich geht. Ich gehe davon aus, dass Reife als ein spirituelles menschliches Wesen nicht vollendet ist, wenn sie mich nicht hinaus sendet in die Gemeinschaft des Glaubens. Aber es geht auch nicht einfach um „uns“ – im Sinne unserer Gemeinde, Konfession oder Religion. Nein, ich gehe davon aus, dass die Gemeinschaft des Glaubens nicht vollendet ist, bis sie wiederum über sich selbst hinaus in die Welt hinein gesandt wird mit rettender Liebe. (S. 114f)

Der dritte Teil („Ancient“) widmet sich den Grundbegriffen der Mystik: Purgatio, Illuminatio und Unio. Sie werden in einem fiktiven Lehrgespräch mit einer Äbtissin entfaltet, aber in vielfältige aktuelle Bezüge gestellt. Und ganz am Schluss nimmt Brian den Lesern den Druck, eine lange Liste von zusätzlichen Aktivitäten im ohnehin schon vollgestopften Alltag unterzubringen, indem er nach keltischem Vorbild von „faithing our practises“ spricht, wo man alltägliche Verrichtungen mit einem konkreten geistlichen Impuls verbindet. Auf die sieben Folgebände dieser Reihe darf man gespannt sein.


„Finding Our Way Again: The Return of the Ancient Practices“ (Brian McLaren)

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Eine Stunde am Tag

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Es muss eine Stunde am Tag geben, wo der planende Mensch all seine Pläne vergisst und handelt, als hätte er überhaupt keine.

Es muss eine Stunde am Tag geben, wo der Mensch, der zu reden hat, verstummt. Dann formt er im Geist keine Anträge mehr, und er fragt sich: hatten sie einen Sinn?

Es muss eine Stunde geben, wo der Mann des Gebets anfängt zu beten, als geschähe es zu ersten Mal in seinem Leben, wo der Mann der Entschlüsse seine Entschlüsse beiseite schiebt, als wären sie alle zerronnen, und wo er eine neue Weisheit lernt: die Sonne vom Mond zu unterscheiden, Sterne vom Dunkel, das Meer vom festen Land und den Nachthimmel von der Wölbung eines Hügels.

Im Schweigen lernen wir zu unterscheiden. Wer das Schweigen flieht, flieht auch die Unterscheidungen. Er will nicht allzu klar sehen. Verwirrung ist ihm lieber.

Thomas Merton

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Liebe und Glück

Für die Liebe ist bloßes Geben und Nehmen nicht genug; sie will in Freiheit geben und nehmen. das heißt, sie will verschenken, nicht nur angenommen werden. Selbstlose Liebe, die an einen selbstsüchtigen Empfänger verschwendet wird, schafft kein vollkommenes Glück. Nicht weil Liebe Erwiderung oder Lohn fordert, sondern weil sie im Glück des Geliebten beruht. Und wenn der Geliebte selbstsüchtig empfängt, ist der Liebende nicht befriedigt. Er erkennt, dass es seiner Liebe nicht gelungen ist, den Geliebten glücklich zu machen. Er hat seine Fähigkeit zu selbstloser Liebe nicht wecken können.

Thomas Merton, Keiner ist eine Insel, S. 18

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Zitat der Woche

Der Prophetenwahn – in unserer Zeit etwas recht Häufiges – ist der äußerste Gegensatz zum Herdenwahn, der zu allen Zeiten noch häufiger ist. Der falsche Prophet wird jede Antwort annehmen, vorausgesetzt, dass es seine, dass es nicht die Herdenantwort ist. Die Herdenmentalität andererseits heißt jede Antwort gut, die in der eigenen Herde umläuft, vorausgesetzt, dass es nicht die Antwort eines Propheten ist, der nicht seit mindestens fünfhundert Jahren tot ist.

Thomas Merton, Keiner ist eine Insel

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Achtung, Fetisch, los…?

Während um mich herum die fünfte Jahreszeit beginnt noch ein kleiner Nachtrag aus meiner Žižek-Lektüre zur Rolle bestimmter Formen von Spiritualität in der Konsumgesellschaft: Sie fungieren als Fetisch, sagt er. Der Begriff mag zunächst überraschen, hat aber durchaus etwas für sich:

Fetischisten sind keine Träumer, die sich in ihrer Privatwelt verlieren, sondern hundertprozentige »Realisten«, die in der Lage sind, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie wirklich sind, da sie ja ihren Fetisch haben, an den sie sich klammern können, um die Erschütterung durch die Realität abzufangen. (S. 64)

Žižek spielt auf eine Szene aus „Requiem for a Wren“ an, wo die Helden nach dem Tod ihres Mannes scheinbar ungerührt bleibt, aber zusammenbricht, als der Hund, sein Lieblingstier, überfahren wird. Spiritueller Fetischismus, so verstehe ich das, verbindet uns über Alibi-Gesten und Riten mit einem Leben, das uns die Konsumgesellschaft gar nicht leben lässt. Aber wenigstens halten wir so noch Kontakt zu einem Ideal oder Traum und müssen nicht vor der hoffnungslosen Wirklichkeit kapitulieren:

Der »westliche Buddhismus« ist solch ein Fetisch: er ermöglicht es seinen Anhängern, dem atemberaubenden Tempo des kapitalistischen Spiels standzuhalten, und stützt zugleich die Eigenwahrnehmung, dass man nicht wirklich Teil desselben sei, sondern durchaus sehe, wie sinnlos dieser Zirkus ist. Was wirklich zähle, sei der Seelenfrieden, auf den man sich immer zurückziehen kann.

Und dazu, das sah schon Lesslie Newbigin, gibt es durchaus verwandte Strömungen im Christentum. Was also wirklich zählt, ist eine Spiritualität, die nicht nur die innere Einstellung verändert, sondern die ganze Existenz. Alles andere ist zu wenig und – theologisch gesprochen – ein neognostischer Irrtum: Man hofft nicht mehr auf eine Veränderung der Welt, sondern löst sich aus ihr durch irgendeine Form von „Erleuchtung“.

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Wenigstens drüber reden

Erkältungsbedingt liegt meine letzte Runde im Wald schon 2 Wochen zurück. Angesichts des tollen Wetters ein wahrer Jammer. Aber wenigstens theoretisch bleibe ich dran, und in der Pfingstwoche geht es dann hoffentlich wieder auf die Piste.

Morgen Abend bin ich mit meinem Freund Albert bei den Läufern des TV 48 zu einem gemeinsamen Vortrag zum Thema „Körper, Geist und Seele“. Albert und ich laufen ab und zu zusammen und er wird die Perspektive des Mediziners bzw. der Psychologie, ich die des Theologen (und ein bißchen Philosohie) einbringen. Wenn wir derzeit also nicht beim Laufen reden, reden wir über das Laufen.

Das Schöne an dieser Veranstaltung ist, dass durch das Laufen als verbindendem Faktor man auf eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten schon aufbauen kann. Und von da aus dann hoffentlich eine ganzheitliche Perspektive des Menschseins und des Lebens entwickeln, die den Horizont erweitert und alle positiv motiviert, sich auch geistlich auf einen Weg zu machen. Am besten natürlich, so wie beim Laufen im Verein, zusammen mit anderen.

Also, mal sehen, wie es so läuft 🙂

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