Der Advent ist ein kleiner Pudel

Als ich heute mit Tüten voller Kinderpunsch aus dem Supermarkt kam, saß vor dem Eingang ein kleiner Pudel in einem goldbronzenen Daunenjäckchen und fiepte unablässig vor sich hin. Ich fand den Anblick erst skurril, irgendwie amüsant. Dann schaute ich noch einmal hin. Der Hund wandte seinen sehnsüchtigen Blick nicht von der Tür ab, hinter der sein Frauchen (vermutlich – oder würden auch Männer Hunde so anziehen?) verschwunden war. Und ich war mit einem Mal ziemlich gerührt.

Warten fällt uns schwer. So gespannt zu warten allemal. Wir haben weitgehend aufgehört, im Advent noch zu warten. Er ist, auch im kirchlichen Kontext, längst die Zeit der Vorwegnahme von Weihnachten. Wir singen Weihnachtslieder, wir essen Weihnachtsgebäck, wir öffnen kleine Geschenke aus unseren Adventskalendern, wir hören tausend Vorabversionen der Weihnachtsgeschichte. Wenn Weihnachten dann endlich kommt, ist es nur noch mehr vom Selben. Dieser Advent geht mir, obwohl erst halb vorbei, ziemlich auf den Spekulatius.

Fulbert Steffensky habe ich heute vom „Zwang zur lärmenden Heutigkeit“ sprechen hören, „in der kein Herr des Hauses mehr erwartet wird, der zu Mitternacht zum Gericht oder zur Hochzeit kommen könnte“. Recht hat er.

Vielleicht haben wir uns einfach schon zu viel genommen, um noch so eine tiefe Sehnsucht zu empfinden wie der kleine Pudel. Und geben uns genau deshalb mit viel zu wenig zufrieden. Wir warten, wenn wir Gott richtig verstanden haben, darauf, dass diese Welt eine andere wird. Dieses Warten ist am 24. Dezember noch lange nicht zu Ende.

Und Weihnachten bedeutet dann: Warten lohnt sich. Er kam schon einmal in eine Welt, die nicht (mehr) mit ihm gerechnet hatte.

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Nicht so unerlöst, Kollege!

Neulich hat sich ein Kollege zur Klimakatastrophe geäußert. Die Dramatik ist, wenn man nur einmal die Nachrichten dieser Woche Revue passieren lässt, ja kaum zu überschätzen:

Doch auch und gerade in den Kirchen gibt es Stimmen, die versuchen, jegliche Aufregung darüber zu dämpfen. „Unerlöst“ sei seine Sorge und Niedergeschlagenheit, musste der Kollege sich von einem kirchlichen Medienmenschen anhören.

Ich finde es theologisch wie pastoral unverantwortlich, wie hier oft argumentiert wird. Wenn in der Kirche kein Raum mehr ist, über bestens begründete Ängste und dystopische Zukunftsszenarien zu sprechen, wo denn dann? Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein großer Teil des politischen Spektrums – von den C-Parteien über die FDP bis zur AfD – „mehr Angst vor dem Klimaschutz als vor der Klimakatastrophe hat.“ Da wird auf Teufel komm raus verdrängt, verharmlost und beschwichtigt. Und wo das nicht greift, werden die Mahner als hysterische Spinner, selbstgerechte Fanatiker und wirtschaftspolitische Geisterfahrer hingestellt.

Photo by Markus Spiske on Unsplash

Was da nämlich als „erlöst“ propagiert wird, ist einfach nur die Fortsetzung der Verdrängung mit anderen Mitteln: Religion als Valium fürs Bürgertum. Ist es schlicht Wurstigkeit, oder die Angst vor einer Angst, die sich nicht wegmoderieren lässt? Spricht hier die Aversion der vermeintlich Gemäßigten gegen jede Art von Radikalität? Ist für die noch Platz in einer bürgerlichen Theologie und wohltemperierten Kirchlichkeit, die in der biblischen Apokalyptik und im Alarmismus der Protestbewegungen nur noch Gefahr und Schrecken erkennt?

Theologisch angemessen und pastoral verantwortlich wäre es, sich der Verzweiflung zu stellen und durch sie hindurch zu gehen, statt sie überspringen zu wollen. Wenn Menschen um Verstorbene trauern oder mit einer Depression kämpfen, kann ich ihnen ja auch nicht einfach zurufen, sie sollten doch erlöster aus der Wäsche schauen. Dasselbe Muster finden wir auch in der Tiefenökologie (ich habe hier darüber schon etwas geschrieben): Aktivismus wird nur dann nachhaltig sein können, wenn er dem Leid und der Verzweiflung – der eigenen und der anderer – nicht ausweicht, sondern sie an sich heranlässt.

Es führt also kein direkter Weg von der Verdrängung hin zum inneren Frieden und der Gelassenheit des Glaubens. Es gibt keine Luftbrücke, bei der mich Engel auf Händen tragen würden; bleibt nur der Weg der Konfrontation mit der Realität, vor der wir seit über 40 Jahren kollektiv die Augen verschließen.

Johann Georg Hamann (1730-1788) hat aus eigener Erfahrung heraus gesagt: „Es gibt keine Himmelfahrt der Gotteserkenntnis ohne die Höllen­fahrt der Selbsterkenntnis.“ Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen bedeutet, mich auf diesen Weg einzulassen und alle anderen Sicherheiten und Gewissheiten aufzugeben.

Und falls es jemand lieber sozialwissenschaftlich-säkular möchte: Altmeister Ulrich Beck schrieb in „Die Metamorphose der Welt“ über einen „emanzipatorischen Katastrophismus„, der den entscheidenden Wandel zum Besseren herbeiführt. Über eine Welt, die erkennbar und nachweislich aus dem Gleichgewicht geraten ist, lässt sich nicht mehr ausgewogen im herkömmlichen Sinn reden. Warum also nicht klagen, trauern, protestieren und provozieren?

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Alltägliches zum Aufhorchen

Manchmal habe ich angesichts der täglichen Nachrichtenlage das Gefühl, es gibt mehr negative Überraschungen als positive; oder dass all das Negative eigentlich auch schon keine Überraschung mehr ist, sondern nur die logische Folge des bisherigen Geschehens.

Doppelt aufhorchen lassen hat mich diese Woche Coldplay. Zum einen, weil die Band bekannt gab, auf ihre nächste Tour zu verzichten und daran zu arbeiten, ihre Auftritte klimaneutral zu organisieren. Die Musiker sind sicher nicht arm, aber sie verzichten eben auch auf beträchtliche Einnahmen.

Respekt!

Zum anderen ist es das neue Album von Chris Martin & Co: Everyday Life. Schöne Musik, eher leise, recht vielfältig im Stil. Nachdenkliche Texte, aber nicht kopflastig. Nach dem ersten Hören habe ich den Eindruck, damit ließen sich gleich mehrere Gottesdienste bestücken.

BrokEn ist ein guter Einstieg:

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Columbas Küste

Kintyre im Westen Schottlands ist eine Ecke, an der die ganz großen Touristenströme vorbei fließen. Um so größer mein Staunen, als ich diesen Sommer entdeckte, dass es dort nicht nur prähistorische Steinkreise zu besichtigen gibt, sondern auch Spuren der frühen iroschottischen Kirchengeschichte.

Mull of Kintyre

Besonders hängen geblieben sind bei der Gelegenheit die Orte, an denen St. Columba (oder Columcille) der Gründer des Klosters von Iona genannt wird. Der südlichste davon liegt unweit des Mull of Kintyre und damit, selbst bei mittelprächtigem Wetter, in Sichtweite der irischen Küste: Keil Caves und St. Columba’s Footprints. Wenn jemand von Ulster aus übersetzt, dann ist das tatsächlich ein geeigneter Ort, um an Land zu gehen.

Ein ganzes Stück weiter nördlich, bei Ellary am Loch Caolisport, liegt St. Columba’s Cave. Auf dem Weg von Tarbert dorthin kommt man in Kilberry vorbei und kann dort ein paar alte Steinkreuze und Grabplatten mit keltischen Ornamenten besichtigen.

Die Spur führt weiter nach Norden, ins Zentrum des Königreichs Dal Riata, auf dem Burgfelsen von Dunadd. Columba stammte aus dem Adelsgeschlecht der Ui Neill, und hier regierten Verwandte. In den Ruinen der Burg findet sich wieder ein Fußabdruck. Man vermutet, dass Könige den Fuß zur Einsetzung in ihr Amt dort hineinstellten. Und von Columba ist bekannt, dass er bei Krönungszeremonien mitwirkte.

Von Dunadd aus sind es nur noch wenige Meilen zu den uralten Steinkreisen im Tal von Kilmichael. Das nahegelegene Museum lockt mit einem Coffeeshop und einer informativen Ausstellung zur wechselhaften Geschichte dieses Landstrichs. Und wenn man sich an der Mündung des malerischen Crinan Canal einschifft, dann ist Iona schon nicht mehr weit mit seiner Abbey (übrigens ab Juni 2020 wieder offen für Gäste) und den Königsgräbern.

Es war für mich ein unerwarteter Pilgerweg. Wer es gern still mag, ist hier gut aufgehoben.

Kilmartin

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Die Frau in der Nische

Manchmal lässt sich ein ganzes Kapitel Kirchengeschichte in einem Symbolbild beschreiben. So erging es mir, als ich kürzlich in der Kathedrale von Lichfield hinter dem Hochaltar stand. Er ist auf beiden Seiten von jeweils sechs Figuren eingerahmt. Wenn ich das richtig gesehen habe, sind das fast alles Männer.

Fast, weil ein Bildhauer (wohl erst im 19. Jahrhundert) die Heilige Perpetua hineingeschmuggelt hat. Sie ist auf meinem Foto ganz rechts zu sehen. Aus dem Kirchenschiff bzw. Chor heraus kann man sie allerdings nicht erkennen, weil sie von einem Pfeiler verdeckt wird – und weil sie dem Betrachter den Rücken zukehrt. Nur von hinten ist sie sichtbar.

Vorne also die Männer, die Frau ganz am Rand, in der Nische. Ein Anblick, der eigentlich alles sagt. Über die Zeit, aus der er stammt, und über ein beschämendes Erbe, das noch nachwirkt.

Und ich denke mir: Luthers berühmtes Diktum aus der Heidelberger Disputation, dass man Gott eigentlich nur von hinten richtig sieht, lässt sich auch auf diesen Hochaltar anwenden. Wer nur von vorn draufschaut, der hat die Kirche (für die die Statuen ja stehen) noch gar nicht richtig erkannt.

Ebenso gilt: Aus der Sicht dieser Frau sieht diese Kirche ganz anders aus als aus der Perspektive der männlichen Kollegen. Der weibliche Blick ist der hinter die Fassaden der Hierarchie. In diesem Fall zumindest, aber das dürfte eben längst nicht der einzige sein.

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Baumtheologie – die Hoffnung ist grün

Was sagt die Bibel eigentlich über Bäume und Wald? Ist das eher so ein germanisches Ding, Gott, Geist und Bäume zusammenzubringen, oder wussten auch die Hebräer dazu schon etwas zu sagen?

Die Frage stellte sich mir im Blick auf den letzten Waldgottesdienst in Zabo. Zugleich ist eine ArboTheologie vielleicht auch ein Baustein für eine christliche Haltung zu all den ökologischen Aufgaben, vor denen unsere Zivilisation steht. Ich versuche mich mal an ein paar Thesen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und umfassende Geltung. Vielleicht wird ja irgendwann eine veritable Feld-Wald-und-Wiesen-Theologie draus. 🙂

Mitgeschöpfe

In der Alten Welt wussten die Menschen noch nicht, dass wir den Sauerstoff in der Luft den Pflanzen verdanken. Aber in Genesis 1,29 sagt der Schöpfer zu den Menschen: „Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.“ In der Idealvorstellung, die dort beschrieben wird, leben Menschen von den Früchten, die auf Feldern und Bäumen wachsen: Getreide, Oliven, Datteln, Granatäpfel, Wein, Hülsenfrüchte und einiges mehr. Fleischkonsum ist da überhaupt nicht vorgesehen.

Insofern könnte man sogar sagen, dass das Verhältnis zu den Tieren (die bekommen alles „Kraut“ als Nahrung, obwohl die Schreiber natürlich wussten, dass ein Löwe kein Gras frisst) weniger wichtig und innig ist. Und prompt spielt ein (freilich ganz besonderer) Baum auch eine wichtige Rolle in der Begegnung mit der Stimme der Versuchung ein paar Kapitel später.

Bäume als Mitgeschöpfe sind dazu aufgerufen, in das Lob Gottes einzustimmen („Jubeln sollen alle Bäume des Waldes“- Ps 96,12). Auch das spricht dafür, dass sie mehr sind als nur ein Rohstoff.

Platzhalter

Der Unterschied zu den Germanen dürfte darin liegen, dass Bäume in der Bibel nie als Chiffre für Gott und das Göttliche dienen. Sie sind fest verwurzelt in der Sphäre des Geschöpflichen.

Immer wieder werden Menschen und menschliche Verhältnisse im Bild von Bäumen beschrieben: Der Gerechte aus Psalm 1 ist ein immergrüner Baum am Wasserlauf, beständig und voller Lebenskraft. Die jungen Männer etwa werden mit aufstrebenden Bäumen verglichen (Sirach 39,13; Psalm 144,12).

Das funktioniert auch im Negativen: In Richter 9 wählen die Bäume einen Herrscher aus ihren Reihen – die Karikatur des Königtums in Israel. Und bei Ezechiel (vgl. Kapitel 31) und Daniel (4,7ff) können Bäume zur Chiffre für Großkönige und ihre Reiche werden, beziehungsweise für deren drohenden Sturz. Dieses Motiv des Gerichts reicht bis in die Passionsgeschichte – da lässt Jesus als Zeichen desselben einen Feigenbaum verdorren.

Leidensgenossen

Menschen und Bäume leiden unter denselben Dingen: Dürre und Hitze, Sturm und Hagel, Krieg und Plünderung. Für letztere sind die Menschen verantwortlich.

Dass den Menschen, wie es in Psalm 8 heißt, „alles zu Füßen gelegt“ ist, bedeutet freilich nicht, dass es mit Füßen getreten werden darf. Das spiegelt sich auch in anderen, für uns freilich befremdlichen, Zusammenhängen wider. Deuteronomium 20,19 legt fest, dass sich Belagerungstruppen nicht am Baumbestand der belagerten Stadt vergreifen dürfen. Gegen Bäume soll kein Krieg geführt werden. Eine Strategie der verbrannten Erde wäre also ein Kriegsverbrechen. Ich denke unwillkürlich an Bolsonaros Plünderungsfeldzug gegen den Regenwald im Amazonasbecken. Seine pentekostalen Anhänger nehmen die Bibel offenbar nur sehr selektiv zur Kenntnis.

Freilich kam es auch damals regelmäßig vor, dass Wälder von Kriegs- oder Bautrupps gerodet wurden. Jesaja 10,34 spielt darauf an: „Und der dichte Wald wird mit dem Eisen umgehauen werden“. Wenn es den Bäumen ans Leder (oder besser: an die Rinde) geht, dann ist das auch für die Menschen bedrohlich.

Hoffnungsverstärker – die pfingstliche Dimension

In den Texten über die Rückkehr aus dem Exil taucht das Motiv der Neuschöpfung immer wieder auf. Und wieder spielen Bäume eine Rolle darin. Wenn die Verbannten zurückkehren, dann jubeln auch Bäume und Wälder:

Jauchzet, ihr Himmel, denn der Herr hat’s getan! Jubelt, ihr Tiefen der Erde! Ihr Berge, frohlocket mit Jauchzen, der Wald und alle Bäume darin! Denn der Herr hat Jakob erlöst und ist herrlich in Israel.

Berge und Hügel brechen bei eurem Anblick in Jubel aus, alle Bäume auf dem Feld klatschen Beifall.

Jes 44,23 und 55,12

Ausgesprochen pfingstlichen Charakter hat unter all diesen Aussagen Jesaja 32,15: „Wenn aber der Geist aus der Höhe über uns ausgegossen wird, dann wird die Wüste zum Garten und der Garten wird zu einem Wald.“ Mit anderen Worten: Gottes Geist hebt das Leben insgesamt auf ein neues Niveau: Aus Ödland wird Ackerland und aus Ackerland Wald. Der Wald ist höchste Stufe dieses künftigen „Upgrades“ an Fruchtbarkeit und Reichtum. Ein Reichtum, der allen zugute kommt und nicht, wie im Landgrabbing des Plünderungskapitalismus, nur wenigen Superreichen und deren Günstlingen.

An der Heilung der Welt haben die Bäume auch einen aktiven Anteil. In der großen Tempel-Vision des Ezechiel wachsen entlang des stetig anschwellenden Stromes aus Gottes Tempel Bäume, deren Blätter Heilkraft besitzen:

An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihr Laub wird nicht welken und sie werden nie ohne Frucht sein. Jeden Monat tragen sie frische Früchte; denn das Wasser des Flusses kommt aus dem Heiligtum. Die Früchte werden als Speise und die Blätter als Heilmittel dienen. 

Ezechiel 47,12

Ein Fazit

Das theologische Waldbaden ergibt also:

  1. In der Bibel gibt es so etwas wie eine Solidarität der Geschöpfe. Und darin eine Verbundenheit zwischen Bäumen und Menschen, in denen die einen auf die anderen angewiesen sind: Die Menschen auf Bäume als Nahrungsquelle (und Holz als Werkstoff); die Bäume auf Menschen, die maßvoll und nachhaltig wirtschaften. Bäume sind ein Zeichen der Fürsorge des Schöpfers – man könnte womöglich von „Realsysmbolen“ sprechen, denn Gottes Fürsorge vermittelt sich durch die Atemluft und Nahrung, die sie spenden.
  2. Wenn die Welt aus den Fugen gerät, leiden die Wälder ganz ähnlich wie die Menschen. An ihrem Zustand lässt sich also etwas ablesen über den Zustand der Welt ingesamt. Damit sind sie – als seufzende Kreatur, wie Paulus in Römer 8,22 sagt – ein Spiegel unserer Verhältnisse: Von Mensch und in Mitleidenschaft gezogener Natur und des sozialen Gleichgewichts unter den Menschen.
  3. Bäume sind einbezogen in die Erlösung der Welt. Wir teilen mit ihnen auch Gottes Zukunft. In ihnen schlummert ein Potenzial, das noch nicht geweckt wurde. So wie in uns und der übrigen Schöpfung. Wenn Gott die Welt heilt, werden viele Bäume sprießen.

Insofern ist jeder Baum auch eine lebende Verheißung. Die Farbe der Hoffnung ist grün.

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Good News

Zum Motto des Sommerfestes in Zabo habe ich einen kleinen Text geschrieben – als Antwort auf die Frage „Ist da jemand“ von Adel Tawil und auf die Frage, was denn die gute Nachricht ist, von der unter Christen immer die Rede ist. Bisschen zu lang, um es noch unter „elevator pitchlaufen zu lassen. Aber das war auch nicht die Vorgabe für den Festgottesdienst. Andere sagen das garantiert anders, aber das Ziel ist ja eher, es auf möglichst viele unterschiedliche Weisen zu sagen.

Photo by Jon Tyson on Unsplash

Da ist jemand, der uns und unsere Welt mit ihrer Schönheit und ihrem Wahnsinn liebevoll anschaut. Mitfiebert, ob wir im Leben klarkommen, sich manchmal eher unmerklich einmischt und manchmal merklich zurückhält. Jemand, der sich bei allem, was wir so treiben, mitfreut und mittrauert. Jemand, dessen Wesen es ist und schon immer war, Anteil zu nehmen.

Da ist jemand, dessen Energie und Einfühlungsvermögen unerschöpflich ist, der sich nicht müde, gelangweilt oder wütend zurückzieht. Jemand, der immer wieder neue Versuche unternimmt, auf uns Erdlinge zuzugehen, die guten Kräfte zu stärken und die Zerstörung zu begrenzen.

Da ist jemand, der in seiner Liebe – wie alle Liebenden – immer schon wehrlos und verletzlich war. Und der sich schließlich als verletzlicher, wehrloser, einfacher Mensch ohne Bodyguards unter die Leute mischt und alles abkriegt: Freundschaft und Verrat, Beifall und Spott, die Liebe der Kinder und die Brutalität eines Regimes, das Menschen kreuzigt. Seine Anteilnahme kennt keine Grenzen, nicht die zwischen Freund und Feind, auch nicht den Tod.

Da ist jemand, der Hoffnung verbreitet und Menschen die Augen öffnen für eine bessere, gerechtere, gewaltfreie und menschenfreundliche Welt. Er überwindet den Tod und zeigt, dass die Liebe – seine Liebe – größer und mächtiger ist als alles Dunkle und Böse. Diese ebenso hartnäckige wie zärtliche Anteilnahme hat die Kraft, Menschen und Verhältnisse zu verändern.

Da ist jemand, dessen unerschöpfliche göttliche Energie Menschen dazu bringt, über sich hinauszuwachsen: Not zu lindern, Versöhnung zu wagen und Frieden zu stiften. Kein Ort der Welt ist vor ihm sicher, keine Schuld zu groß, keine Verzweiflung zu tief, keine Resignation zu endgültig. Er startet eine Bewegung, die auch nach 2.000 Jahren nicht gestoppt ist. Jede*r kann dabei sein: Plätze sind frei, Türen stehen offen, alle Begabungen sind gefragt.

Und weil Gott noch nicht fertig ist mit uns und der Welt, sind das immer noch Neuigkeiten.

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„Geh aus, mein Herz“ – aber überleg‘ dir, wohin…

Immer schon hat es mich in den Wald gezogen. Grünkraft habe ich gespürt noch lange, bevor ich den Begriff der Hildegard von Bingen kannte. Wenn die Geräusche der Stadt und der Straßen in die Ferne rücken, nur noch die Vögel singen und der Wind rauscht, kommen mir die besten Gedanken. Und manchmal lehne ich mich ganz still an eine der großen Eichen oder Buchen und schließe die Augen. Ich gehe betrübt hinein und komme getröstet heraus. Oder besser: ich ging.

Dieses Jahr funktioniert das nicht mehr so richtig. Ich komme meist mit schwerem Herzen aus dem Wald zurück.

Im Herbst konnte man schon sehen, dass die Dürre ihren Tribut gefordert hat. Im Winter warfen ein paar Tage stürmisches Wetter hundert Jahre alte Fichten einfach um. Die Wurzeln konnten sie nicht mehr im Boden halten. Ein paar hundert Meter von unserem Haus klafft seither ein Loch im Wald, das größer ist als ein Fußballplatz. Als nach dem Winter wieder alles Grün wurde, war das auch längst nicht mehr alles. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so viele kranke und tote Bäume gesehen zu haben. Überall in der Region: Die Erlanger ereiferten sich im Frühjahr über die kranken Bäume an den Kellern. Und ganz Zabo redete sich die Köpfe heiß über den mächtig ramponierten Siedlerwald.

Der Wald stirbt.

Im Buckenhofer Forst

Und schon wieder ist es heiß und trocken. Die Grundwasserstände sind wieder so niedrig wie vor einem Jahr. In der Zeit lese ich, dass die Förster in Thüringen von einer „schleichenden Katastrophe“ sprechen. Dem Befall durch Borkenkäfer kann man noch etwas Positives abgewinnen. Aber nur noch eine von 20 Eichen ist noch gesund.

Der Waldzustandsbericht sollte doch besser wieder in „Waldschadensbericht“ umbenannt werden. In der aktuellsten Fassung sind die Schäden der letzten Monate noch gar nicht verzeichnet. Aber schon im vergangenen Jahr waren nur 28% der Waldbäume frei von sichtbaren Schäden, im Zeit-Bericht aus Thüringen lese ich von aktuell 19%. Buchen und Eschen sterben von den vertrockneten Wurzeln her.

Die Fieberkurve auf der Website von Robin Wood wird weiter ansteigen. Die Folgen liegen auf der Hand: „Je labiler die Wälder werden, desto geringer ist auch ihr Beitrag, die Klimaerwärmung zu begrenzen.“ Es geht ja nicht um ein bisschen grüne Kulisse zum Relaxen.

Geh aus mein Herz und suche Freud – das fällt schwer im Sommer 2019. Die reine Freude ist es nur noch sehr punktuell.

Ich gehe trotzdem in den Wald und denke an Joana Macys Active Hope. Dort spricht sie davon, dass auch der Schmerz über die Zerstörung einen Raum bekommen muss (Martin Horstmann hat das hier zusammengefasst). Es gibt die Verbindung zu unseren Mitgeschöpfen nicht nur über Empfindungen wie Schönheit, Freude und Dankbarkeit, sondern auch darüber, dem Schaden ins Auge zu sehen und den Kummer mitfühlend auszuhalten. Ohne dieses Aushalten gibt es keine rechte Transformation.

Und dann gehen mir biblische Aussagen über Bäume durch den Kopf: Die stolzen Zedern des Libanon, die „Bäume der Gerechtigkeit“. Wenn Gott seinen Geist ausgießt, sagt Jesaja, dann wird Wüste zu Ackerland und Ackerland zum Wald. Was für ein Upgrade der Botanik: Ein Wald, der jubelt und Bäume auf dem Feld, die in die Hände klatschen.

Aber das liegt in der Zukunft. Stoff für einen neuen Blogeintrag vielleicht. Und für Hoffnungsbilder, die ich dem neuen Waldsterben entgegenhalte, um die schmerzliche Gegenwart aushalten zu können.

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Der Staub an den Füßen

Es gibt theologische (und andere) Debatten, bei denen man sich verkämpfen kann. Ob es der Ausschluss der Frauen vom Priesteramt ist oder der (öffentlich sanfter formulierter, hinter verschlossenen Türen häufig unverblümte) Ausschluss gleichgeschlechtlich Liebender, es haben sich vielfach Fronten gebildet, die einen hohen Grad von Verhärtung aufweisen. Dass die theologische Auseinandersetzung dann zuweilen auch noch über Facebook und Twitter stattfindet, macht es nicht einfacher. Man beißt auf Granit. Wie Flüchtlingshelfer oder Fahrradfahrer in der CSU.

Hier und da sind Menschen, die ich kenne und schätze, in solche Konflikte verstrickt. Sie möchten ihre kirchliche Heimat nicht verlieren, aber sie finden kein Gehör, erst recht keine Zustimmung, bei den Entscheidungsträgern. In der „Eule“ hat Thomas Wystrach kürzlich die Spannung aufgegriffen, in der sich die Bewegung Maria 2.0 befindet. Er zitiert darin einen Satz, der sich mit meinen Empfindungen deckt:

Warum bist du noch dabei, werde ich immer häufiger gefragt. Ich stammle dann etwas von Nostalgie und Biografie. Aber eigentlich denke ich ganz böse: Wir Geduldigen sind Komplizen. 

aus einem Blogpost von Christiane Florin

Taktische Selbstkritik

Ich bin kein katholischer Insider und ich möchte auch kein Zyniker sein. Aber die Aussichten, innerhalb dieser und/oder der nächsten Generation die Dominanz der Männer in den Ämtern der Weltkirche aufzubrechen, erscheinen mir herzlich gering. Immer wieder mal wird sich ein anderes Mitglied der deutschen Bischofskonferenz vor ein Mikrofon stellen und sagen, dass er Priesterinnen nicht für unvorstellbar hält, während seine Kollegen in Rom oder Regensburg business as usual machen. Etwa, indem sie im nächsten Atemzug gemeinsam alte Karikaturen und Vorurteile über Genderforschung verbreiten.

Oder jemand aus dem Hauptvorstand der Evangelischen Allianz (ähnlich wie die Bischofskonferenz ein Gremium, das nicht durch Wahlen von der Basis, sondern Berufung von oben bzw. von innen heraus konstituiert wird) sagt etwas Nachdenklich-Selbstkritisches über Homophobie. Laut genug, um den loyalen Dissident*innen einen Funken Hoffnung zu geben, leise genug, um das System nicht in Aufruhr zu versetzen. Das Beschwichtigungsritual ist erprobt und bewährt.

Was könnte man mit der Energie, die da seit vielen Jahren schon verloren geht, nicht alles positiv bewegen? Gerade wenn man Kirche von ihrer Sendung her denkt, kann man sich mit diesen Selbstblockaden schwerlich abfinden. Jesus weist seine Jünger an, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie mit ihrer Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft in der Dorfgemeinschaft auf taube Ohren stoßen. Eine radikale, schroffe Geste.

unsplash-logoBen White

Wenn Weitergehen nicht reicht

Aber sie deutet etwas Wichtiges an. Weitergehen alleine reicht nämlich nicht, wenn ich dabei die alten Frontstellungen verinnerliche und mitnehme. Auch nicht in der treuen oder reflexhaften Negation – wie Jan Fleischhauers Abschiedsworte auf Spiegel Online diese Woche schön zeigen:

Mir bleibt einstweilen nur, mich bei meinen Lesern zu bedanken: bei denen, die mich geschätzt haben, und bei denen, die mich hassten. Sie haben mir über all die Jahre die Treue gehalten.

Jan Fleischhauer

Der „Shitstorm“ gehört bei ihm ja zum Geschäftsmodell. Er dient als Beweis der Ignoranz und Intoleranz seiner Kritiker. Daher zählt Fleischhauer auch genüsslich die Millionen Klicks auf, die seine Beiträge erzielten. Man kann ihn lesen und sich verstanden fühlen oder sich ärgern. Brücken der Verständigung, Bewegung im Diskurs entstehen dabei allerdings kaum. Es geht nicht genug weiter. Die Blockade bleibt – im Kopf.

Gesucht: fruchtbare statt furchtbare Debatten

Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade „Digital Minimalism“ von Cal Newport lese: Solche Debatten mit hohem Erregungsgrad haben ein gewisses Suchtpotenzial. Man kann auch als Repräsentant der Minderheitenmeinung eine Menge Aufmerksamkeit und Zuspruch bekommen. Fleischhauer zeigte das bisher als Konservativer im Spiegel-Milieu, andere eben vor dem Hintergrund des römischen Klerikalismus oder im Lager der „Evangelikaner“ (um mal eine ausgesprochen passende Wortschöpfung des ZDF zu verwenden).

Vor einiger Zeit rief mich ein Redakteur eines stramm konservativ christlichen Blattes an und schlug mir vor, meine Position zu einer damals gerade aktuellen Kontroverse dort darzulegen. Ich entschied mich dagegen. Weder wollte ich als liberales Feigenblatt fungieren, noch anderen einen Anlass geben, ihre ewig gleichen Gegenpositionen erneut breitzutreten. Ich war an einen Punkt gekommen, wo ich meine Energie und Lebenszeit nicht mehr in solche Debatten mit hoher Aussicht auf Erregung, aber geringer Aussicht auf Ertrag investieren wollte. Es war eine gute Entscheidung. Als ich vor ein paar Wochen Frank Rieger auf der re;publica über Fragen von Desinformation und Cyberwar zuhörte, blieb mir diese Schlussfolgerung im Gedächtnis: „Vielleicht liegt die Zukunft in (halb)geschlossenen Benutzergruppen mit freundlichen, vertrauenswürdigen Menschen“. Andere Baustelle, ähnliche Strategie.

Weniger Erregung und Kontroverse bedeutet auch erst einmal weniger Aufmerksamkeit und Dringlichkeit. Auch das kann ein Grund sein, mich aus solchen Debatten nicht zu verabschieden und wenn schon nicht Menschen, dann doch Prämissen und Positionen die Treue zu halten, die ich ablehne.

Noch eine Analogie: In der hitzigen Phase der Flüchtlingsdebatte habe ich einige CSU-Mitglieder erlebt, die unter großen inneren Schmerzen aus ihrer Partei ausgetreten sind, weil ihnen ihre christliche Überzeugung wichtiger war. Auch sie haben ein Stück Heimat aufgegeben. Dabei hätte das Konzept „Bleiben und Verändern“ in einer demokratisch strukturierten Partei ja noch eher Aussicht auf Erfolg als in jenen kirchlichen Institutionen, die von weitgehend geschlossenen Zirkeln geführt werden. Ich fand es trotzdem richtig und konsequent. Und wenn Markus Söder momentan spürbar milder daherkommt als noch vor Monaten, dann liegt das auch am Mut dieser Ehemaligen.

Hier kommt die Frage:

Ist am Ende nicht das Bleiben, sondern das Verlassen der Schritt, der nicht nur den eigenen Seelenfrieden rettet, sondern auch den entscheidenden Impuls zum Wandel der Institution setzt? Also nicht nur ein Akt der Selbstfürsorge, sondern auch der Nächstenliebe? Wir kommen ja alle aus einer spirituellen Tradition, die mit dem Ruf beginnt, die Heimat zu verlassen und dem unsichtbaren Gott zu folgen. Die Frage sollte, biblisch gesprochen nicht sein, mit wem ich die Vergangenheit geteilt habe. Sondern mit wem ich die Zukunft teilen will.

Wann dieser Punkt erreicht ist, das kann nur jede(r) selbst entscheiden. Thomas Wystrach gehört seit 2009 der altkatholischen Kirche an. Er beschreibt das Dilemma derer, die in der katholischen Kirche etwas verändern wollen, mehr als er es kommentiert.

Ich habe hier vor vier Jahren einen Abschiedsgruß an die evangelikale Bewegung geschrieben, in der ich eine Weile zu Gast war. Freundliche Kontakte gibt es nach wie vor, aber im Moment kann ich mir eine Mitarbeit in der Evangelischen Allianz nicht vorstellen. Und am postevangelikalen Gespräch habe ich auch nicht mehr groß teilgenommen. Das hat Disziplin gekostet. Aber wenn man sich auf Fragestellungen wie „Erlaubt die Bibel homosexuelle Beziehungen?“ einlässt, hat man schon verloren. Die Frage ist nicht, was die Bibel „erlaubt“, sondern wie wir heute mit der geschlechtlichen Vielfalt unter uns umgehen und wer dabei über wen bestimmen darf. Dazu würde ich dann auch gern wieder die Bibel ins Spiel bringen.

Die Kirche, in der ich arbeite, hat ihre Schwächen und Fehler. Außer dem faktisch sakrosankten Kirchsteuer- und Beamtenwesen (schade, aber verschmerzbar) gibt es freilich kaum Tabus. Dafür einen halbwegs anständigen Binnenpluralismus. Sie hat eine synodale, demokratisch legitimierte Struktur. Und sie hat sich mit einer recht unabhängigen wissenschaftlichen Theologie genug Läuse in den Pelz gesetzt, um nicht intellektuell träge und selbstzufrieden zu werden. Das sind für mich ausreichende Voraussetzungen für eine Beheimatung.

Keine Zeit mehr zu verschenken

Wir stehen gerade vor gewaltigen Aufgaben. Wenige Jahre bleiben uns noch, unsere Gesellschaften so umzubauen, um der ganz großen Klimakatastrophe zu entgehen. Die Welt gerät an so vielen Stellen aus den Fugen – politisch, sozial, religiös. Was tragen wir Christen zur Lösung dieser Fragen bei? Möchte ich da meine Zeit mit Leuten verplempern, die immer noch meinen, das Höllenfeuer sei schlimmer? Oder die auf dem Islam herumhacken? Die das Patriarchat als Gottes unumstößlichen Schöpferwillen ausgeben? Mit denen werde ich hin und wieder reden, aber nicht auf ihrem Turf und nicht zu ihren Prämissen.

Diesen Staub kann ich an meinen Füßen gerade nicht brauchen.

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Die Sieben-Tage-Schöpfung

Dass die erste biblische Schöpfungserzählung die Erschaffung der Welt in sieben Tagen beschreibt, ist immer wieder belächelt worden. Besonders seit es Naturwissenschaften gibt. Oft genug schwingt dabei das Überlegenheitsgefühl der Modernen gegenüber vermeintlich „primitiven“ Weltbildern und Vorstellungen mit. Hin und wieder auch das des Säkularen gegenüber jeglichem Aberglauben.

Und doch kommen wir heute auch in den Wissenschaften nicht ohne solche erzählerischen Kniffe zur Veranschaulichung aus: 13,7 Milliarden (Universum) oder 4,7 Milliarden Jahre (Erde) sind einfach eine zu gewaltige Zahl. Die meisten Menschen können sich das nicht vorstellen. Also rechnen wir es aus pädagogischen Gründen herunter: Auf ein Jahr, einen Tag oder auch nur 12 Stunden. Je nach gewählter Vergleichsgröße erscheinen wir Menschen in den letzten paar Minuten oder Sekunden(bruchteilen).

unsplash-logoBenjamin Voros

Übrigens reden auch wir erst seit 150 Jahren von „Milliarden“. Diese Zahlenangabe verbreitete sich im Deutschen erst 1870/71 im Kontext von Kriegsentschädigungen. Sollte man vor den jüdischen Priestern also nicht den Hut ziehen für diese didaktische Leistung? Bei allem, was wir an Komplexität und Detailwissen inzwischen dazugewonnen haben, kommen wir ohne solche Übertragungen in überschaubare, vorstellbare Zeiträume noch immer nicht aus.

Sich dafür zu entschuldigen wäre fast genauso daneben, wie darauf zu beharren, es seien buchstäblich sieben 24-Stunden-Tage gewesen (was auch immer der Begriff „Tag“ meint, wenn es noch keine Himmelskörper gibt).

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Mit der Erde im Bunde: Frauen und die solidarische Lebensweise

Mitten in der Offenbarung des Johannes erscheint eine namenlose Frauengestalt, die unter Gefahren ein Kind zu Welt bringt und schließlich vor dem Drachen fliehen muss, der dort wütet. Es ist eine surreale Szene. Der Drache speit ihr einen Wasserschwall hinterher, aber dann schluckt die Erde das Wasser einfach weg und rettet so die Frau.

Mich hat dieses krasse Bild jüngst ganz unmittelbar angesprochen. Erstens, weil sich eine Mutter um das Überleben ihres Kindes in einer aus den Fugen geratenen Welt sorgt. Diese Fürsorge für kommende Generationen (und für alles Schwache und Schutzbedürftige) hat ja auch bei uns ein überwiegend weibliches Gesicht. Nicht nur das von Klima-Aktivistinnen, sondern auch in den meisten, wenn nicht allen sozialen Berufen. Und ehrenamtlichen Funktionen, auch und gerade in den Kirchen.

Der Fotograf Adrien Taylor schreibt: „I was blown away by the beauty of the Bangladeshi people — both in their character and appearance. Bangladesh faces losing 18% of its land, displacing thirty million people, with one metre sea-level rise.“
unsplash-logoAdrien Taylor

Dagegen steht der Drache für alles, was aktuell unter „toxischer Männlichkeit“ thematisiert wird: Aggression, Ausbeutung, Dominanz, Dogmatismus, Unterwerfung. Der Drache erbricht eine Flut von Hass gegen die Frau. Ich finde, es trifft die Situation hier und heute wirklich gut, wenn man betrachtet, wie junge Frauen wie Greta Thunberg von den Alpha-Fachmännern entweder mundtot gemacht oder gleich mit Vernichtung bedroht werden. Auf der re;publica wurde letzte Woche in vielen Foren diskutiert, wie diese Flut zu stoppen wäre.

Es sind sicher nicht ausschließlich Männer, die das betreiben, aber eben vorwiegend. Und die Wurzeln der Klimakatastrophe liegen in einer typisch „männlichen“ Lebensweise, die Fleischverzehr und Verbrennungsmotoren für identitätsstiftend hält. Das haben ja auch Ulrich Brand und Markus Wissen in „Imperiale Lebensweise“ deutlich gemacht. Diese Lebenseinstellung hinterlässt überall verbrannte Erde. Und Eltern, die mit ihren Kindern vor steigendem Meeresspiegel und sich stetig verschärfenden Naturkatastrophen fliehen müssen.

Und nun ist es ausgerechnet die Erde, die der Frau zu Hilfe kommt. „Weibliche“ Kooperation neutralisiert „männliche“ Konkurrenz und Aggression. Eine Partnerschaft zwischen der Erde und der verwundbaren Mutter tut sich auf. Das hat mich an Joana Macys Betonung von Dankbarkeit und Verbundenheit mit der Schöpfung erinnert. Und an Bruno Latours These, dass „das Terrestrische“ inzwischen als eigenständiger Akteur in der globalen Politik auftritt (N.B.: Das Kapital tut das schon längst, einige sprechen daher auch vom „Kapitalozän“).

Die Allianz zwischen der Frau und der Erde ist ein schönes Bild für eine solidarische Lebenweise – das Gegenstück zum imperialen Modus der Existenz.

Wenn wir also heute als Christ*innen und Kirchen fragen, wo unser Platz in diesen Auseinandersetzungen ist, dann legt uns diese Vision nahe, ihn an der Seite all der Frauen (und Kinder) zu finden, die den Großteil der Kosten für die imperiale Lebensweise tragen. Und an der Seite der Erde, die sich gegen den patriarchalen Kapitalismus aufbäumt.

Solche Bündnisse gilt es zu schmieden und zu stärken, zum Beispiel beim Earth Day, der 2020 zum 50. Mal stattfindet. Überall, wo Männerbünde in Politik, Wirtschaft und Kirche dominieren, ist – um Himmels willen – Wachsamkeit und Widerstand angesagt.

Nur dann wird es uns allen besser gehen.

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Gute Hirten und falsche Opfer

Am vergangenen Sonntag habe ich mir (wie viele andere auch) Gedanken über Jesus als guten Hirten gemacht – und was das für den Umgang mit Macht und Verantwortung in den Kirchen und Gemeinden heute bedeutet.

Am Ende habe ich alle meine Vorüberlegungen von letzter Woche in den Wind geschlagen und einen ganz anderen Weg der Auslegung gewählt.

Wer sich fragt, ob es gelungen ist, oder einfach Lust hat, es sich in Ruhe anzuhören, kann hier klicken und sich seinen Reim drauf machen:

unsplash-logoPawan Sharma
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Die Gewissensbisse der Generation Billigflieger

Ich habe hier schon eine ganze Weile nichts mehr zur Klimathematik geschrieben, weil es genug gute und wichtige Beiträge anderswo gibt. In den letzten Tagen hat es mich aber doch wieder gepackt. Die Widersprüche sind es, um es genau zu sagen.

Bittere Wahrheit

Bento glänzt nicht mit intellektuellem Anspruch, aber Fridays for Future erscheint immerhin in der Menüzeile. Auf den Zug ist man offenbar aufgesprungen. Nun hat sich Helene Flachsenberg dort über den CO2-Rechner des Bundesumweltamtes beschwert, weil der ihr eine schlechte Klimabilanz erstellt hat. Der Grund: Ein Langstreckenflug nach New York. Damit hat sie alles, was sie im Alltag eingespart hat, mit einer einzigen Reise wieder in die Luft gepustet.

Dass ich zu meinem Geburtstag etwas Besonderes erleben wollte, und dann auch noch in die USA, diese Hochburg von Industrialisierung und Kapitalismus reiste, erscheint mir auf einmal grenzenlos egoistisch. Wie die größtmögliche Frechheit, die ich unserem Planeten antun konnte.

Helene Flachsenberg

So klagt die Autorin über das schlechte Gewissen, dass ihr „gemacht“ wird. Und eine Art Sündenbock findet sie auch, nämlich RWE mit seinen Kohlekraftwerken. Überhaupt, die Konzerne und das irre Märchen vom nachhaltigen Konsum…

Vielleicht hätte sie, bevor sie in die Tasten griff, doch besser Felix Ekards feinen Text auf Zeit Online lesen sollen. Wie übel Langstreckenflüge (freilich Fliegen überhaupt) zu Buche schlagen, ist ja wirklich keine Neuigkeit. Da reißt man quasi mit dem Hintern wieder ein, was man mit den Händen an CO2-Einsparungen aufgebaut hat:

Selbst wer regional und bio einkauft, in einem gedämmten Mehrfamilienhaus wohnt und jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, der liegt, sobald ein, zwei Flugreisen in ferne Länder dazukommen, weit über dem deutschen Durchschnitt von elf Tonnen pro Kopf und Jahr. 

Susanne Götze im „Freitag“

Der CO2-Rechner ist einfach nur ein Spiegel. Flachsenberg gefällt schlicht das Bild nicht, das sie darin abgibt: Ein bisschen wie der Frust, wenn das große Stück Sahnetorte die Diät und die Joggingrunde zur Makulatur macht – und man plötzlich auf die perfiden Tricks der Bäckerinnung oder der Hersteller von Personenwaagen schimpfen würde.

Glaubwürdigkeit ist gefragt

Natürlich ist und bleibt es eine politische Aufgabe, die Energie- und Verkehrswende voranzutreiben. Aber das entbindet uns als einzelne doch nicht von der Verantwortung für unsere Gewohnheiten. Auch nicht im Urlaub. Im Grunde müssen wir alle jetzt schon anfangen, so zu leben und zu reisen, dass es so klimaverträglich wie irgend möglich ist. Und an einen Punkt kommen, wo es für uns in Ordnung ist, dass uns der Verzicht schmerzt (und wir es aushalten, statt auf RWE zu schimpfen). Umso mehr, als man täglich in den sozialen Medien Freunde und Bekannte sieht, die hier- und dorthin zu ihren Sehnsuchtsorten jetten und im nächsten Moment wieder Zitate von Greta Thunberg liken, ohne sich dabei viel zu denken.

Vielleicht sollte, wer künftig als Tourist in ein Flugzeug steigt – egal wohin – eine Schamfrist einhalten, bevor sie/er wieder Greta-Zitate und grüne Slogans postet. Vierzig Tage Glaubwürdigkeitsfasten wären ganz ok. Für einen Interkontinentalflug vielleicht drei Monate. Nicht aus fremdinduzierter Scham, wie Flachsenberg insinuiert, sondern um ein so wichtiges Anliegen nicht durch die eigene Doppelbödigkeit in Misskredit zu bringen.

Dazu meine nächste, wirklich ernst gemeinte Frage: Sollten wir als Pfarrkollegien und Gemeindegruppen künftig noch nach Israel, in die USA oder auf FreshX-Tagungen in Nordengland fliegen? Oder rechtfertigen Begegnung, ökumenisches Lernen und Kulturaustausch die Wunden, die das Reisen schlägt?

Reisen wie zu Omas Zeiten?

Ich habe nachgesehen, wie lange ein Bahnfahrt von Erlangen nach London dauert: Sie ist in unter acht Stunden möglich. Mit dem Flugzeug kann man das (CheckIn, Wartezeiten und die Transfers von und zum Flughafen eingerechnet) in etwas mehr als der Hälfte der Zeit schaffen. Für Glasgow oder Dublin (Ziele, die für mich interessant sind) erweitert sich die Reisezeit entsprechend um weitere 5 bis 8 Stunden. Also nichts für einen Kurztrip übers Wochenende.

Andererseits ist der Gedanke an Wochendendausflüge über tausend Kilometer und mehr ein relativ junges Phänomen: Als ich mit 16 das erste Mal nach England reiste, kam Fliegen nicht in Frage. Abgehalten hat es uns damals nicht. Dahin heißt es nun zurückzukehren. Ich lerne so manches von meinen Kindern. An diesem Punkt können wir die Lernrichtung zwischen den Generationen vielleicht mal umkehren: Nicht nur alte Gemüsesorten anbauen und essen, sondern auch Reisen wie die Großeltern damals in den Sechzigern. Statt immer gleich in die Luft zu gehen.

Nein, das Billigflugzeitalter hat keine Zukunft.

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Müde Flieger

Eine Konfirmationspredigt

Ein Dienstag im September um kurz nach sieben am Morgen: Ich stehe auf einem Bahnsteig am Hauptbahnhof. Ein paar Strahlen der Morgensonne glitzern in den Tränen, die mir herunterlaufen. „Hoffentlich spricht mir jetzt niemand an und fragt, was mir fehlt“, denke ich, als ich dem ausfahrenden EuroCity nachblicke. Drinnen sitzt mein Sohn, der vermutlich auch einen Kloß im Hals hat. Der Zug bringt ihn nach Frankfurt und von dort fliegt er nach Japan. Neuntausend Kilometer weit weg. Ein Jahr lang werden wir einander jetzt nicht mehr direkt in die Augen schauen oder in den Arm nehmen. Ich senke den Blick und gehe die Treppe Richtung Ausgang hinunter.

So ist das, wenn Kinder flügge werden. Es ist großartig und es ist schrecklich. Du bist stolz und es bricht dir das Herz. Wenn sie dann wiederkommen, sind sie gewachsen: Stärker, unabhängiger, selbstsicherer. Sie setzen sich ein Weilchen auf den Nestrand, dann fliegen sie wieder los.

Aber es beginnt alles mit dem Loslassen.

Flügge werden

Die Konfirmation ist einer der ersten Schritte in die Selbständigkeit für Euch wie für Eure Familien. Irgendwann folgt der Schulabschluss, der Auszug von zuhause, das erste selbstverdiente Geld, oder die Gründung einer neuen, „eigenen“ Familie. Zwischendrin ist die eine oder andere Schrecksekunde oder Schramme zu überstehen. Bruchlandungen gehören schließlich auch zum Erwachsenwerden. Aber das wisst Ihr ja schon, seit Ihr Laufen und Radfahren könnt.

Es ist gut, dass das Flüggewerden im Glauben den anderen Schritten in die Erwachsenenwelt vorangeht. Wegen der Schrammen und Schrecksekunden einerseits. Und auf der anderen Seite, weil das Euch den Mut zum Absprung geben kann. Denn es ist keine ungefährliche Welt, in die Ihr Euch aufmacht.

Dass diese Welt nicht nur schön, sondern auch schrecklich ist, hat mit uns Älteren zu tun. Wir – die Generationen vor Euch – haben es nicht geschafft (und oft auch gar nicht ernsthaft genug versucht), sie für Euch in einen guten Zustand zu bringen. Wenn der Begriff „Erbsünde“ heute irgendeine Bedeutung hat, dann vielleicht die: Dieser Planet hat Fieber, und es wird gerade ziemlich schnell schlimmer. Hass und Gewalt, Armut und Ungerechtigkeit machen vielen Menschen das Leben zur Hölle (freilich ist Nürnberg im Vergleich zu Aleppo oder Kabul eine Art Insel der Seligen. Aber die meisten haben inzwischen verstanden, dass das mit den Inseln nicht mehr funktioniert). Und wir sind allesamt verletzlich und verführbar. Allzu leicht lassen wir uns mitreißen von der Angst und der Gier anderer.

Wer garantiert also, dass Ihr das besser macht? Und wenn es keine Garantie dafür gibt, solltet Ihr es überhaupt versuchen – oder doch besser gleich die Hände in den Schoß legen, Euch ins Unvermeidliche fügen und all den Lindners und Poschardts Recht geben, die gerade in jeder Talkshow erzählen, dass Ihr auch nicht besser seid als sie?

Kraftvolle Erinnerung

Vor über 2.500 Jahren gab es eine in vieler Hinsicht ähnliche Situation. Das Volk Israel befand sich im babylonischen Exil. Die ältere Generation, allen voran der König, hatte sich im Polit-Poker verzockt. Jerusalem wurde zerstört, die Menschen wurden verschleppt in den heutigen Irak. Der Tempel, das sichtbare Zeichen für Gottes Nähe, war ein Trümmerhaufen. Mitten in dem Schlamassel wuchs eine neue Generation auf. Bürger zweiter Klasse, ohne Perspektive, an einem gottverlassenen Ort.

Aber dann spricht Gott. Durch einen Propheten, eine Stimme der Hoffnung. Mitten in der totalen Sackgasse. Das sind seine Worte:

Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«?
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft, und Stärke genug dem Unvermögenden.
Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

Jesaja 40,27-31
unsplash-logoRachel Pfuetzner

Hoffnung im Anflug

Die Adler, die am Himmel ihre Kreise ziehen, sind so ein Sehnsuchtsbild, das auch uns abgebrühte Menschen des digitalen Zeitalters in den Bann schlägt. Ein Jahr nach meinem Bahnsteig-Erlebnis waren meine Frau und ich ein paar Tage an der Westküste Schottlands. Fast jeden Abend saßen wir auf einer Klippe gut hundert Meter über dem Atlantischen Ozean. Meine Frau suchte das Wasser nach Walen ab. Ich war weniger geduldig und lief umher. Und dabei sah ich sie: Ein Seeadler-Paar ließ sich vom Wind mühelos weit in die Höhe tragen, um kurz darauf pfeilschnell herabzustoßen und dann wieder fast ohne Flügelschlag zu steigen und zu steigen, bis ich sie aus den Augen verlor. Ein paar Minuten waren sie in der Nähe, dann zog es sie zurück zu ihrem Nistplatz.

„Die Adler kommen!“ Wer den Herrn der Ringe und/oder den Hobbit gelesen bzw. gesehen hat, erinnert sich an diesen Ausruf. Wenn die Adler kommen, wendet sich das Blatt zum Guten. Immer. Die Adler sind in Tolkiens Märchen die Himmelsboten. Aber Jesaja sagt uns: „Ihr müsst nicht auf die Adler warten. Ihr könnt selber welche werden. Wartet auf Gott!“

Was uns müde macht

Sehen wir uns kurz das Gegenbild zu den Adlern an: Müde Krieger. Erschöpfte Kerle. Das vermeintlich „starke Geschlecht“ am Ende seiner Kräfte. Die, die nie zugeben würden, dass sie nicht mehr können, können nicht mehr – ob sie es zugeben oder nicht. Die große Müdigkeit hat sie befallen.

Wer Euch bei der Konfifreizeit oder der Kirchenübernachtung erlebt hat, könnte meinen, dass Müdigkeit und Erschöpfung so ziemlich das Letzte sind, über das Ihr Euch Gedanken machen müsstet. Aber so einfach ist es nicht. Das liegt an der Welt und der Zeit, in der wir leben.

Vor ein paar Jahren schrieb ein Philosoph aus Berlin, Byung Chul Han, ein kleines Buch mit dem Titel „Müdigkeitsgesellschaft“. Was uns heute – oder viele von uns, früher oder später – so müde macht, ist nicht Armut oder äußere Unfreiheit, sondern das Gegenteil, sagt er: Ein „Zuviel“ an positiven Dingen macht krank. Anders krank als früher, als es der Mangel war oder die Infektion von außen. Heute kommen die Störungen von Innen – Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität sind Zustände, gegen die man nicht impfen kann. Und wer in der Leistungsgesellschaft nicht mehr können kann, wird depressiv. Dazu muss man nicht erst alt werden.

Immer mehr, immer weiter?

Die Leistungsgesellschaft ist längst auch ein Freizeitphänomen. Ich habe ja gestern davon erzählt, dass viele meiner Freunde irgendwann Marathon laufen wollten. Marathon reicht inzwischen vielen nicht mehr. Jetzt muss es schon ein Triathlon sein. Denn warum nur Laufen, wenn man auch noch Schwimmen und Radfahren kann dazu? Wie viel kann ich aus mir herausholen? Wie weit lässt sich die Grenze des Möglichen dehnen? Der Überfluss an Möglichkeiten und Angeboten erzeugt erst den Schaffensdruck. Der wächst sich aus zur Erschöpfungsdepression, neudeutsch: Burnout. Aus Hyperaktivität wird Hyperpassivität. Einigen meiner Freunde ist das so ergangen. Es hat ihren (und meinen) Glauben auf eine harte Probe gestellt, dass Gott und alles Gute und Schöne für ihn sie diesen Momenten gefühlt Lichtjahre weit weg war.

Niemand von uns sollte meinen, dass so etwas nur den denen passiert, die nicht clever oder cool genug sind. Es kann jeden treffen. Denn im Gegensatz zu Gott sind wir Menschen endliche Wesen. Diese Wahrheit hat in der Leistungsgesellschaft, die liebend gern „yes we can“ ruft, kaum einen Platz.

Paradoxerweise wachsen die Flügel des Glaubens in dem Moment, wo wir uns bewusst machen, dass wir nicht Gott sind und es auch nicht werden müssen. Wo wir uns mit unserer Endlichkeit anfreunden, weil uns der unendliche und unermüdliche Gott so geschaffen hat. Wo wir um Kraft bitten und sie uns schenken lassen, statt wie die Duracell-Hasen ohne Unterbrechung zu rödeln. „Der Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele“, schreibt Herr Han. Da hilft dann auch kein Energy Drink mehr.

Vom Gas gehen

Glaube ist keine Steigerung, sondern eine heilsame Unterbrechung. Die Fähigkeit, zu zögern und sich zu unterbrechen, unterscheidet den Menschen vom Roboter. Das wird in der Welt, in die ihr gerade hineinwachst – der künstlichen Intelligenz, selbstfahrenden Autos und was nicht alles – ein lebenswichtiger Unterschied werden. Der Sabbat und der Sonntag erinnern uns daran, dass wir solche Unterbrechungen brauchen. Und zwar nicht, um etwas zu leisten, zu produzieren oder zu konsumieren. Sondern um wieder leer zu werden von dem, was uns sonst pausenlos besetzt.

„Die auf den Herrn harren“ – was für ein altertümliches Wort! Das „Harren“, von dem hier die Rede ist, ist eine Art konzentriertes Warten. Also Ausharren und Stillhalten können, nicht auf jeden Reiz anspringen, sich nicht dauernd ablenken zu lassen. Aber auch: Nichts liefern zu müssen, um Likes und Follower zu ernten, oder Euren Wert bestätigt zu bekommen. Frei werden von dem Druck, den wir uns selbst schon machen noch längst bevor andere es tun.

Auch hier geht es ums Loslassen: Ansprüche, Erwartungen, Ungeduld, Angst…

Dafür ist Gott euer Komplize und Ihr könnt seine Komplizen sein. Das heimische Nest zu verlassen, ist einfach. In dieser verrückten Welt nicht die Hoffnung und die Lebensenergie zu verlieren, nicht einfach von ihren Kräften und Strömungen mitgerissen zu werden, ist eine gewaltige Herausforderung. Statt zu fliegen, kommt man schnell auf dem Zahnfleisch daher.

… und plötzlich fliegst du!

Menschen sind paradoxe Sehnsuchtswesen. Wir sind endlich und vergänglich, aber auf etwas Unvergängliches und Unendliches hin angelegt. Ich glaube, diese Sehnsucht, über uns hinauszuwachsen, hat Gott in uns hineingeschaffen:

  • Die Sehnsucht nach Erlösung und Heilung der Welt, die so eindrücklich im Zentrum eures Vorstellungsgottesdienstes stand.
  • Die Sehnsucht, liebevoll angesehen werden und mich zeigen zu können, wie ich bin.
  • Die Sehnsucht, etwas beizutragen zu dieser Welt, das wirkt und bleibt; für etwas leben zu können, das größer ist als ich selbst.

Gestern habe ich vom Atem Gottes gesprochen, von Heiligen Geist. Er ist der Wind unter Euren Adlerflügeln. Interessanterweise haben die ersten Christen am ersten Pfingsten genau das getan, bevor Sturm und Feuer, Mut und Begeisterung ausbrachen: Warten, ausharren, und dabei durchlässig und empfänglich werden.

Gottes Geist – die Kraft, die Jesus von den Toten auferweckt hat – ist ein Vorgeschmack auf die Neuschöpfung dieser kaputten Welt. Ich muss als Christ nicht „alles aus mir herausholen“. Ich kann etwas Größerem in mir Raum geben. Nur so wachse ich über mich hinaus, ohne dabei innerlich hohl zu werden.

Das letzte Jahr war die Übungsrunde – jetzt fliegt ihr selber. Wie die Adler – von der Erde, aber nah am Himmel. Gottes Atem in Euch und Sein Wind unter Euren Flügeln.

Und all die Grenzen, die am Boden gezogen werden – Mauern – Stacheldrähte – Checkpoints (sozial – politisch – ethnisch – religiös/konfessionell), werden in ihrer Kleinlichkeit und Vergänglichkeit sichtbar.

Das ist der Sinn und Nutzen von Kirche und Gottesdiensten, darum brauchen wir einander: Einander immer wieder daran zu erinnern, dass wir zum Fliegen geschaffen sind. Und dass wir es mit Gottes Hilfe und in seiner Kraft auch können. Hier könnt Ihr immer landen. Und immer wieder losfliegen.

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Der kontemplative Weg, oder: Fly by the seat of your pants

Zehn Jahre auf dem kontemplativen Weg liegen hinter mir. Ich frage mich hin und wieder, ob ich ohne die Entdeckungen, die ich dabei gemacht habe, heute überhaupt glauben könnte – geschweige denn Pfarrer sein. Verschiedentlich habe ich hier über Erfahrungen geschrieben. Vieles hat sich vertieft und gefestigt, also versuche ich heute eine Zwischenbilanz. Und am Ende versteht Ihr vielleicht, was das mit dem Fliegen und dem Hosenboden auf sich hat.

Wie beim Labyrinth: weniger verwirrend, als es auf den ersten Blick scheint
unsplash-logoAshley Batz

Die äußeren Stationen

sind schnell erzählt und wer mag, kann sie überspringen. Angeregt von Stans Möhringer, der Beauftragten für Meditation im Dekanat Erlangen habe ich mich 2009 zu den Jesuiten nach St. Andrä in Kärnten gewagt zu Wanderexerzitien. Da ist man den größten Teil des Tages in Bewegung, während man schweigt, und anders hätte ich den Einstieg wohl auch kaum geschafft. 2012 habe ich dann zehn Tage im oberfränkischen Gries verbracht, 2014 auf Straßenexerzitien in München, 2015 und wieder in den letzten Tagen dann war ich im Haus HohenEichen in Dresden-Hosterwitz.

Immer bei Jesuiten. Und immer gern, weil ich das theologische Niveau und das weite, gastfreundliche ökumenische Herz der Verantwortlichen so schätze.

Behutsam mit mir selbst

Auf dem kontemplativen Weg lerne ich, die vielen Gedanken, die mir durch den Kopf rasen, immer wieder unaufgeregt ziehen zu lassen und nicht ins Grübeln zu geraten. Wir reden ja gelegentlich vom „Kopfzerbrechen“, aber viele Dinge und Angelegenheiten sind das gar nicht wert. Stattdessen rauben sie mir die Kraft für das, was wirklich wichtig ist.

Die Indifferenz gegenüber den Gedanken macht mich aufmerksam auf Gefühle und Stimmungen. Im Wald von HohenEichen lagen diesmal viele umgestürzte Bäume. Ich bin der Ursache dafür (Dürre, Sturm…) gedanklich nicht groß nachgegangen. Das führt in der Regel weg aus dem Hier und Jetzt in andere Zeiten oder andere Orte. Aber ich habe die Traurigkeit bemerkt, die der Anblick bei mir auslöst. Und im Betrachten, im Gewärtig-Sein der Traurigkeit zogen einige traurige Erlebnisse aus letzter Zeit vorbei. Nach einer Weile löste sich die Trauer und erschien auch nicht wieder. Beim nächsten Waldspaziergang standen andere Eindrücke und Stimmungen im Vordergrund. Das Schauen ging allmählich ins Lauschen über – auf eine andere Präsenz, die alles berührt und wandelt, was sich in mir regt. Rilke hat das in seinem Stundenbuch wunderschön ausgedrückt, ich habe es früher schon einmal zitiert:

Wer seines Lebens viele Widersinne

versöhnt und dankbar in ein Bildnis fasst,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast
wird anders festlich, und du bist der Gast
den er an sanften Abenden empfängt.

Sehen, was ist

Angesichts der »Widersinne« könnte statt Versöhnung auch Streit entstehen. Dann nämlich, wenn ich dem Reflex nachgebe, sofort zu werten und zu entscheiden: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Ich übe nun, erst einmal aus- und innezuhalten. Zu sehen, was ist. Und zu warten, was wird. Ich denke, das kann auch eine Lektion aus dem Gleichnis Jesu vom Unkraut unter dem Weizen sein: Erst einmal warten und genau hinsehen, nicht schon gleich loshasten und alles ausreißen, was ich für Unkraut halte. Wieviel Schaden entsteht aus diesem Übereifer, alles sofort zurechtzustutzen, was mich gerade stört! Und wieviele Überzeugungen, die ich mit großem Ernst und Leidenschaft vertreten habe, habe ich inzwischen wieder ad acta gelegt? Was zeigt sich, wenn ich still halte? Was steckt zum Beispiel noch alles in der Wut, die irgendwer oder irgendwas bei mir auslöst? Und wie ändert sich das, wenn ich mir die Zeit dafür gebe, noch etwas länger hinzusehen?

Mit Gleichgültigkeit hat das freilich nichts zu tun. Das Buzzword Ambiguitätstoleranz macht derzeit die Runde. Vielleicht ist es gut, daran zu erinnern, dass diese Offenheit für den Widersinn vor allem eine innere Haltung ist, die man üben kann und kultivieren muss. Also nicht in erster Linie ein intellektuelles Konzept, das man zur Kenntnis nimmt und das sich so eben mal einfordern oder anknipsen lässt. Natürlich kann man nicht alles immer offen und unentschieden lassen. Aber wenn Überzeugungen reifen dürfen, tragen sie vielleicht auch länger und weiter.

Momentan werde ich oft gefragt, wie es mir nach einem guten halben Jahr auf der neuen Stelle geht. Das kann zum Vergleich verleiten: War es früher besser? Oder wäre ich vielleicht anderswo besser aufgehoben? Beim vorletzten Aufenthalt in HohenEichen habe ich über die Geschichte von Maria und Martha meditiert und den Satz Jesu: »Maria hat das gute Teil erwählt«. Jesus sagt nicht »besser«, er wählt nicht den Komparativ. Und ich stelle für mich fest, es geht gut. Hier und jetzt. Das reicht völlig aus für die nächste Zeit.

Warten, was wird

Der kontemplative Weg wird für mich von biblischen Worten und Bildern gesäumt. Zum Beispiel, dass Gott mir den Tisch deckt im Angesicht meiner Feinde – Menschen und Situationen, die mir zusetzen. „Lade sie doch ein“, lautete die überraschende Antwort meines geistlichen Begleiters in einem solchen Moment. Das hat gut funktioniert. Ich muss gar nicht kämpfen. Und sagt nicht Ex 14,14 – »Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein« – quasi dasselbe? Mit diesem Wort begannen vor 14 Tagen die Exerzitien in HohenEichen.

Manchmal kehren in der Stille alte Themen und Fragestellungen zurück. Anfangs fand ich das irritierend. Nun merke ich mehr und mehr, dass es sich wie in einer Spirale verhält: Die Beschäftigung mit den Dingen findet auf einer anderen Ebene statt. Andere Sichtweisen und Lösungen werden damit möglich.

Oft ist Kontemplation ein Ausharren. Treu dabei zu bleiben, wenn Druck von außen und innen spürbar ist. Immer wieder das wandernde oder leidende Herz zurückzuholen. Aber das allein wäre zu wenig. Es ist ein erwartungsvolles »Harren« auf den einen, lebendigen Gott. Und als solches steht es, gerade in schwierigen Zeiten, unter einer großen Verheißung:

… die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.

Jesaja 40,31

Atemzüge und Flügelschläge

Es ist ein bisschen paradox. Ich sitze mit vollem Bodenkontakt in der Gegenwart und Wirklichkeit. Und dann schwingt sich mein Herz ganz unvermutet auf. Es lässt sich fast mühelos bis zu einem Punkt tragen, von dem aus sich meine Situation wie Puzzleteile ordnen und zusammenfügen lässt. Das hat nichts mit Überheblichkeit und Überlegenheit zu tun. Aber viel mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Jeder aufmerksame Atemzug ist wie ein Schlag mit geschenkten Flügeln eines Adlers, der im warmen Aufwind seine Kreise zieht.

Zurück zum Anfang: Die Redewendung „Fly by the seat of your pants“ bedeutet im Englischen so etwas Ähnliches wie „sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzen“. Von außen betrachtet sieht der kontemplative Weg recht undramatisch aus. Innerlich ist das freilich eine ganz andere Sache – das wussten schon die Wüstenväter. Und wenn ich ab und zu erzähle, dann merke ich, wie allein schon der Gedanke an Stille bei manchen Unbehagen auslöst. Oder diese Mischung aus Faszination und flauem Magen, die bei mir am Anfang stand.

Es kann wundersam beflügelnd sein, sich auf den Hosenboden zu setzen.

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