Angespannte Atmosphäre

Als ich vor 14 Tagen zum ersten mal seit Wochen wieder in einem Zug saß, erinnerte die Stimme aus dem Lautsprecher an die Pflicht, eine Gesichtsmaske zu tragen. Auf DB-Englisch hieß das dann „please cover your mouse and nose“. Ein paar Fahrgäste schräg gegenüber hatten das offenbar weder auf Deutsch noch auf Englisch verstanden. Ihr Mundschutz baumelte unterm Kinn, damit sie sich besser unterhalten konnten.

Zwei Welten

Dieses Gefühl, in zwei Welten gleichzeitig zu leben, werde ich gerade nicht los. Da ist die Welt der Behutsamen und Verantwortungsbewussten. Diese Woche tauschte sich unser Pfarrkapitel über Hygienemaßnahmen aus. Sie sind oft beschwerlich einzuhalten, es gibt Änderungen in kurzer Abfolge und immer wieder stellt sich die Frage, ob das bisher übervorsichtig war oder inzwischen schon wieder fahrlässig ist. Aber alle sind sich einig darin, dass wir die geltenden Regeln einhalten und niemanden gefährden wollen. Die meisten haben mit Menschen aus Risikogruppen zu tun, manche gehören selber dazu.

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Auf dem Heimweg komme ich an einer Imbissbude vorbei, die auf dem Parkplatz eines Baumarktes steht. Die Kund*innen stehen alle mit Gesichtsbedeckung an, drinnen hängt zwei fröhlichen Mitarbeitern der Mundschutz lässig unterm Stoppelbart. Als ich einen darauf anspreche, sagt er, es sei halt einfach zu warm dafür. Als wäre das eine Empfehlung, der man nur so lange zu folgen braucht, wie es einen nicht stört. Er zieht den Mundschutz widerwillig ein Stück hoch, aber die Nase schaut immer noch heraus. Es ist nicht das erste Mal, dass mir diese Reaktion begegnet. Letzte Woche grinste mich das Personal eines anderen Straßenverkaufs ebenso unverhüllt wie unverhohlen an und fragte, ob ich denn ernsthaft glaube, was die Regierung sagt.

Der garstige breite Graben

Ab und zu überrascht mich diese Spaltung auch im Bekanntenkreis. Da wird natürlich wie überall munter diskutiert und die einen drängen auf mehr Lockerungen während andere das Risiko einer zweiten Welle im Blick haben. Doch dann gibt es vereinzelt Stimmen, die offenbar jegliches Vertrauen in Politik, öffentliche Institutionen und gesellschaftliche Diskurse verloren haben. Zugleich aber berufen sie sich auf „Forschungs“-Websites ohne Impressum und obskure Youtube-Experten, die alles viel besser wissen als Christian Drosten und das RKI. Und werfen mir vor, ich würde unkritisch den Mainstream nachplappern statt differenziert und selbständig zu denken. Da stehen wir nun vor dem garstigen breiten Graben. Bei Lessing verläuft er zwischen Glaube und Vernunft. Ist es heute Verschwörungsglaube und Vernunft? Hilft diese Polarität überhaupt noch weiter?

Brüche über Brüche

Seit ein paar Jahren scheint jede neue Krise neue garstige Gräben mit sich zu bringen. Ich denke an Gespräche mit einem Bekannten, er links und Agnostiker, ich grün und Theologe, genug gemeinsame Perspektive auf das Leben für lange, gute Gespräche. Irgendwann entdeckte er das Thema „Islamkritik“ und die Verständigung wurde zusehends schwieriger. Nach 2015 ging dann gar nichts mehr. Der Bruch lag quer zur alten Frontstellung von konservativ und progressiv, wie auch dem jüngeren Antagonismus von Kapitalismuskritik und Neoliberalismus. Freilich profitierte die extreme Rechte enorm von der neuen Entfremdung. Auch deshalb, weil (das soll hier nicht unerwähnt bleiben) zahlreiche Vertreter „bürgerlicher“ Parteien (sprich: Union und FDP) versuchten, aus den Ressentiments gegen Zuwanderer und Muslime Kapital zu schlagen.

Die nahende Klimakatastrophe brachte die nächste Spaltung. So weit ich sehe, hat sich das rechte Lager weitgehend geschlossen auf der Seite der Klimaleugner versammelt. Aber es bildeten sich zusätzliche Empörungsbrüche, bei denen nun auch Alter und Geschlecht eine Rolle spielten. Kein Wunder, das Ganze fiel ja in die Ära narzisstischer Alpha-Männchen mit problematischen Beziehungen zu Frauen, zur Gewaltenteilung und zur Wahrheit.

Die Gretas und Luisas von Fridays for Future hören auch dann, wenn es ihrem Anliegen kurzfristig schadet, auf die Wissenschaften. Sie protestierten daher während der letzten Wochen im Netz. Doch nun kapern andere die verwaiste Bühne. Sie beklagen die große Freiheitsberaubung unter dem Deckmantel des Seuchenschutzes. Und wieder sind es vor allem Männer, die die Welt „retten“: Attila Hildmann, Sido, Gerhard Ludwig Müller. Eben wurde noch vor der drohenden Ökodiktatur gewarnt, jetzt ist auf einmal das Virus der Knüppel der Herrschenden. Eine neue Echokammer tut sich auf. Und wieder verlieren wir ein paar Mitstreiter, weil die den Corona-Knoten lieber durchschlagen würden als sich auf mühsame Diskussionen und langwierige Prozesse einzulassen. Sie haben nach zwei Monaten Krise und Verunsicherung schon wieder den Boden absoluter Wahrheiten unter den Füßen. Und erleben nach dem Stillhalten im Lockdown wieder das gute Gefühl von Selbstwirksamkeit.

Vernunft im Rückwärtsgang

Bei „Swiss Propaganda Research“ berufen sich die anonymen Betreiber und Autoren auf die Vernunft, indem sie aus einem NZZ-Interview mit Slavoj Žižek (für seine Bücher hat’s leider nicht gereicht) zitieren: »Das Großartige an der Aufklärung bestand ja von Anfang an darin, dass rationale Argumente ihren Wert unabhängig davon haben, wer sie äußert.« Freilich stellen sie damit Žižeks Intention auf den Kopf. Der meinte, dass alle Menschen verdienen, gehört zu werden – auch die, die keine Macht und keinen Status haben. Hier dient das Zitat als Vorwand, die Selbstdarstellung als „Fachleute“ jeglicher Überprüfung von außen zu entziehen. Auf den Status legen die Unkenrufer also durchaus Wert. Aber wie Donald Trump scheuen sie davor zurück, echte Verantwortung für ihre Aussagen zu übernehmen. Im Grunde machen sie die Gleichung auf anonym = rational/glaubwürdig – und die Gegengleichung etabliert = irreführend/unglaubwürdig. Das ist – mit Nils Markward gesprochen – eine Form von relativistischer Denunziation, die nur noch Meinungen kennt und überall niedrige Motive unterstellt.

Žižeks letzter Satz an seinen neoliberalen Gesprächspartner aus der Steueroase lautete übrigens ebenso passend wie ernüchternd: „Wir leben – sorry – in ziemlich beschissenen Zeiten.“ Der grimmige Ausblick trifft auch jetzt noch zu, vier Jahre später. Weil die Klimakrise ja nicht verschwunden sein wird, wenn Covid-19 irgendwann gebändigt wurde. Sie wird selbst bei mildem Verlauf, der kaum noch erreichbar scheint, mehr Menschen betreffen und deutlich länger anhalten als ein paar Jahre. Wenn wir uns jetzt nicht einmal kurzfristig zusammenraufen können, um gemeinsam Lösungen zu finden, wie wird es dann erst aussehen? Wer demonstriert nach all dem falschen Alarm noch, wenn die Demokratie eines Tages wirklich in Gefahr ist?

Düstere Aussichten?

George Packer beschrieb die Lage in den USA kürzlich so: „Im ganzen Land eine von Zynismus und Erschöpfung geprägte Stimmung, ohne jegliche Vision einer gemeinsamen Identität oder Zukunft.“ Davon sind wir zum Glück noch ein ganzes Stück entfernt. Merkel und Steinmeier sind erfreulich anders als Trump. In Bund und Ländern sind Parteien und Mandatsträger zu Koalitionen und zur Kooperation fähig und nicht nur auf Krawall gebürstet. Ehrlich: Wie kann man noch von Corona-Diktatur schwadronieren, wenn man dieses Interview mit Bodo Ramelow liest?

Aber Zynismus und Erschöpfung nehmen auch unter uns zu. Die Ohnmachtsgefühle angesichts der von all diesen garstigen breiten Gräben zerfurchten Gesellschaft machen müde und mutlos. Am Vernünftigsten ist es wohl, nicht allzu viel Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit zu verbrennen im Umgang mit Meinungen, die wir offenbar nicht ändern können, und Geraune, das aus dubiosen Quellen aufsteigt.

Hygiene für den gestressten Geist

Ein anderer Kommentar aus diesen Tagen brachte es für mich gut auf den Punkt:

Die zentrale Frage der nächsten Monate lautet mit großer Wahrscheinlichkeit nicht: Wie bescheuert sind eigentlich diese Aluhutträger? Sondern vielmehr: Wie vertrauenswürdig, ehrlich, gewaltfrei und ernsthaft solidarisch wird sich der angeblich aufgeklärte Rest verhalten?

Anselm Neft

Und da sind durchaus Überraschungen möglich. Heute kam eine solche von Sven Giegold aus dem Europäischen Parlament: Eine breite Mehrheit der Abgeordneten sprach sich für einen solidarischen Corona-Wiederaufbaufonds aus, der den Green New Deal unterstützt.

Und mir fällt auf einmal ein Satz aus dem Philipperbrief ein. Paulus hatte in seiner noch jungen Bewegung mit Spaltungen, Misstrauen und Rivalität zu kämpfen. Seine apostolische Version des „please cover your mouse and nose“ – was wir aus der belasteten Atmosphäre aufnehmen und in sie abgeben – lautet so:

Was wahr ist, was achtenswert, was gerecht, was lauter, was wohlgefällig, was angesehen, wenn immer etwas taugt und Lob verdient, das bedenkt!

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Ein Denkmal für die Sehnsucht

Mein Arbeitszimmer ist so aufgeräumt wie schon Jahre nicht mehr: In der Isolation der letzten Wochen (und mit viel mehr Vorlauf als gewohnt) eine Predigt zu schreiben, ließ jedes Staubkorn interessant erscheinen. Dass gefühlt alles gerade im Ungewissen und in der Schwebe ist, macht es schwer, etwas zu niederzuschreiben, ohne es umgehend wieder unter Vorbehalt zu stellen. Aber irgendwann klärten sich die Gedanken und die Worte auf dem Bildschirm dann doch.
Die Ausnahmesituation setzt sich beim Sprechen im sterilen Studio fort: Keine Gemeinde vor Augen, kein Tageslicht, schalltoter Raum. Dank der moralischen und fachlichen Unterstützung von Melitta Müller-Hansen ließ sich zum Glück noch etwas Restadrenalin mobilisieren. Und die ersten Rückmeldungen waren ganz positiv. Aber hört (oder lest) selbst, wenn Ihr mögt…

Der rastlos Reisende sitzt fest. Paulus, der Apostel, hat gerade einen Gefängnisaufenthalt überstanden. Und jetzt muss er in Athen schon wieder warten, bis sein Team nachkommt. Erst dann kann es weitergehen übers Meer. Nun sitzt er am Hafen von Piräus, und sieht, wie die Schiffe an- und ablegen. So wie ich in den letzten Wochen den wenigen Flugzeugen am Himmel hinterhergeschaut habe. Voller Fernweh. Und voller Ungeduld: Wann werde ich mich wieder wie gewohnt frei bewegen können? Reisen? Besuche machen?

Irgendwann entschließt Paulus sich, in die Stadt zu gehen. Athen im ersten Jahrhundert nach Christus, das ist so eine Art Weimar des römischen Reiches. Politisch und wirtschaftlich unbedeutend, aber voller Erinnerungen an ein goldenes Zeitalter der Kunst und Philosophie. Und die Wiege der Demokratie – auch wenn das schon längst wieder Geschichte ist.

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Kein ganz einfaches Pflaster

Dieses Athen bietet großartige Architektur, wohin man auch schaut. Als Tourist oder Flaneur käme Paulus jetzt voll auf seine Kosten. Aber er sucht nicht den Kunstgenuss, sondern Gott auf den Straßen und Plätzen. Sein Blick fällt auf die zahllosen Götterbilder und Tempel. Er sieht sie nicht nur als kulturgeschichtliche Attraktionen. Für ihn sind sie in Stein gemeißelte Machtverhältnisse. Die Götter des Olymp sind Sinnbilder der antiken Klassengesellschaft: Freie stehen über den Sklaven, Männer über den Frauen, Eingesessene über den Zugewanderten. Diese Götter sind Schutzmächte jenes Systems, in dessen Namen er kürzlich erst verhaftet und ausgepeitscht wurde.

Auf dem Marktplatz, wo einst schon Sokrates die Passanten mit seinen Fragen nervte, kommt Paulus ins Gespräch mit den Einheimischen. Gebildet sind sie und kunstbeflissen, die Athener. Kritik und Skepsis wurden hier erfunden und in alle Welt exportiert. An die alten Göttermythen indes glaubt hier kaum noch einer. Eher, dass die Vernunft es möglich macht, sich dem Wahren, Guten und Schönen zuzuwenden. 

Ein bisschen verwöhnt sind sie auch. Jeden Augenblick könnte eine antike Version des Philosophen Richard David Precht um die Ecke kommen – gutaussehend, wohlsituiert und eloquent. Wahrheitssuche darf in Athen gern unterhaltsam sein: „Wo du schon mal da bist: Beeindrucke uns, wenn du kannst!“, sagen die Gesten und Gesichter. „Was hast du zu sagen über Gott und den Kosmos? Über das Glück und das tugendhafte Leben?“

Der Newcomer Paulus schlägt sich in seiner ersten Diskussion auf dem Markt in Athen so gut, dass er zur Begutachtung auf den Areopag geladen wird. Hier, unterhalb der Akropolis wird nicht Smalltalk, sondern Politik gemacht und Recht gesprochen. Es wird ernst:

Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Denn ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt.

Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, dass sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts. 

 (Apg 17, 22-28)

Die Anspannung, der Missmut und die Ungeduld über das unfreiwillige Warten erscheinen wie weggeblasen, als Paulus zu dieser Rede ansetzt. Ich bin ein bisschen beschämt darüber. Wie oft ist mir das in den zurückliegenden Wochen nicht gelungen, meine Verstimmung über die ernste bis deprimierende Corona-Pandemie aus persönlichen Gesprächen herauszuhalten? Auch wenn völlig klar ist, dass mein Gegenüber genauso unter der Situation leidet und ebensowenig dafür kann wie ich. Ich spüre, wie ich einsilbiger werde, wenn ich genervt bin.

Paulus hingegen schimpft und droht nicht, er zieht sich aber auch nicht zurück. Er hat etwas Positives entdeckt, etwas Verbindendes. Und das rückt er jetzt in den Mittelpunkt. Hat ihn das Kraft gekostet? Ich stelle mir vor, wie er auf dem Weg vom Markt zum Areopag tief durchatmet. Wie er ein Stoßgebet um die richtigen Worte zum Himmel schickt. Wie er in Gedanken nach dem richtigen Einstieg sucht und plötzlich diesen Moment vor Augen hat: Auf seinem Streifzug durch Athen steht er vor dem Altar eines unbekannten Gottes. Ohne die üblichen Bilder, ohne klangvollen Namen. Welches Geheimnis verbirgt sich hier?

Gott als Joker?

In Athen gibt es für alles einen Gott. Selbst für das, was man nicht bedacht hat. So gesehen ist dieser Altar für den unbekannten Gott wie der Joker in einem Kartenspiel, der für jede beliebige andere Karte zum Einsatz kommen kann. Ich denke an Dietrich Bonhoeffer, der vor 75 Jahren ermordet wurde. Er hat es abgelehnt, Gott als Joker zu benutzen. Ihn als „Gott der Lücken“ ins Reich des Unerklärlichen, Unbeherrschbaren und Übernatürlichen abzuschieben. Da erfüllt er durchaus noch seinen Zweck, da brauchen wir ihn noch: An den Außengrenzen, wo wir nicht weiterwissen, absolut ratlos sind, wo nichts mehr beherrschbar oder berechenbar ist. Da brauchen wir ihn als „Gott der Lücken“, um uns abzusichern. Zugleich aber überlassen wir das Alltägliche, das Natürliche, das Politische und alles Zwischenmenschliche sich selbst. 

Photo by Quentin Rey on Unsplash

Die Lücken in unserem Wissen und die Grenzen unserer Welt- und Selbstbeherrschung rücken gerade wieder in den Blick. Das Corona-Virus macht sie sichtbar. Schlagzeilen wie „Ökonomen im Blindflug“ gehören inzwischen zum Alltag. Man könnte auch manch andere Zunft hier einsetzen, Virologen vielleicht ausgenommen. Noch vor wenigen Wochen schien ein Kontrollverlust dieser Größenordnung völlig undenkbar. 

Manche Prediger sehen eben darin Gott am Werk und wittern neue Chancen für den Glauben. Aber wenn wir Gott als Krücke und die Verheißung ewigen Lebens als Beruhigungspille anpreisen, dann werden viele ihm den Rücken kehren, wenn die Lage sich wieder stabilisiert. Dann hat Gott seinen Zweck ja auch erfüllt. So wie wir heute für Menschen in Pflegeberufen Beifall klatschen und uns morgen darüber beschweren, dass der Beitrag für die Krankenkasse steigt oder der Staat uns die Steuern erhöht, um sie besser zu bezahlen. 

Bonhoeffer wollte dieses Spiel nicht mitspielen. Er schrieb: 

„Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen … Gott ist mitten in unserm Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf.“ 

Er hatte seinen Paulus gut gelesen, denn das ist genau der Weg, den der Apostel  einschlägt – mitten auf dem Areopag.

Ein Fragezeichen aus Stein

Paulus deutet den Altar des unbekanntes Gottes positiv: Als Fragezeichen hinter den vermeintlichen Gewissheiten der Athener. Der Altar markiert eine Leerstelle: Was haben wir übersehen? Gibt es noch mehr zu entdecken als das, was wir schon kennen? Kluge Menschen haben auch ein Gespür für das, was sie alles nicht wissen.

Zugleich ist der Altar ohne Bild Ausdruck einer Sehnsucht. Wie bei Fernweh: du siehst ein Schiff, ein Flugzeug, du suchst mit deinen Augen den offenen Horizont. Aber du weißt nicht, wohin es dich zieht. So auch die Sehnsucht nach dem unbekannten Gott: Sie kann noch gar keine genauen Koordinaten für das Ziel der Expedition nennen. Das Unbekannte hat keine Adresse, keinen Namen und kein Gesicht. Wie der geheimnisvolle Gott, der in der Wüste aus dem brennenden Busch zu Mose, dem Nomaden, über die Freiheit in einem fernen Land spricht. Der Gott der Juden, und damit auch der Gott Jesu von Nazareth.

Manchmal spüren Menschen so eine Sehnsucht, aber bringen sie nicht mit Gott in Verbindung. In der Popkultur etwa stoße ich auf Texte, die sich an eine zukünftige Partnerin oder einen Partner richten. Die Titel heißen „Dear Future Husband“ oder „I Haven’t Met You Yet“. Da geht es um die Suche nach jemandem, der mich spüren lässt, dass ich etwas Besonderes bin. Und ein bisschen auch die Sehnsucht nach jemand, der mich vor mir selbst rettet. Wie beim „Gott der Lücken“ wird da im Grunde aber jemand gesucht, der all das liefert, was mir gerade fehlt.

Das Gegenstück dazu wäre jemand – Gott oder Mensch –, mit dem ich alles teilen kann, nicht nur meine Leerstellen und Defizite. Die zarte, tastende Sehnsucht nach einem solchen Gegenüber besingt das Folkduo „The Civil Wars“:

Du hast mir gefehlt
Aber ich bin dir noch nie begegnet
Doch das würde ich so gern
Liebe(r) Wer-immer-du-auch-bist
Noch warte ich geduldig

Ich habe in diesen Tagen der allgemeinen Zwangsentschleunigung auf vieles gewartet und warte noch: Auf den ersten Friseurtermin seit Ewigkeiten. Dass es irgendwo Hefe zu kaufen gibt. Aufs Anstoßen mit Freunden im Biergarten. Und darauf, meine alten Eltern in den Arm zu nehmen. Im Moment empfinde ich das erzwungene Warten so anstrengend, dass das freiwillige Warten – die Stille, das Gebet, die Meditation – unter dem Sehnsuchtsstau leidet. Ich bete in diesen Tagen lieber draußen, unter den Bäumen, die da ruhig und unverrückbar stehen, und bei den Vögeln, die über den offenen Himmel fliegen.

Sympathische Sehnsucht

Die Sehnsucht ist eine besondere Art der Verbindung. Es gibt sie nur in Beziehungen, in denen man das Gegenüber nicht besitzt und im Griff hat. Deswegen ist die Sehnsucht nach Gott auch nie ganz zu stillen. Die Sehnsucht, der Durst nach Geist und Leben macht Menschen anziehend und schön. So lange wir träumen, ist in aller Traurigkeit noch Kraft und Hoffnung auf Veränderung. Vielleicht sagt meine Sehnsucht ja mehr über mich aus als das, was ich schon erreicht habe.

Der Altar des unbekannten Gottes ist das Eingeständnis, dass man nicht alles wissen kann oder noch nicht alles erkannt hat. Eines interessierten Nichtwissens. So sieht Paulus die Athener. Er sieht ihre Sehnsucht und sie ist ihm sympathisch. Gott nicht ganz erkannt zu haben ist keine Schwäche, deren man sich schämen müsste. Statt belehrend und besserwisserisch aufzutrumpfen, betont er noch einmal die Gemeinsamkeit: Gott braucht kein Haus, schon gar kein prunkvolles, sagt er. Und er braucht auch keine Priesterkaste, die ihn hofiert wie die Lakaien ihren Kaiser. Was für ein Gott wäre das, der das nötig hätte? 

Paulus weiß, das die Athener das wissen. Er zeigt es ihnen, indem er aus den „Himmelserscheinungen“ eines damals bekannten und beliebten Dichters, Aratus von Soloi, zitiert: „In ihm leben, weben und sind wir“, und „Wir stammen von ihm ab“: Der eine, wahre Gott ist überall am Werk, mitten im Leben und im Guten. Im Menschsein, das uns alle verbindet. Nicht in den Dingen, die uns unterscheiden und trennen. Wozu noch Tempel? Wozu noch andere Bilder? Gott lässt sich auch nicht mit Konzepten oder Begriffen dingfest machen. Wenn wir ihn in solche Gräber sperren, kommt er wieder heraus und sie sind leer.

Gott – mitten im Leben

In den letzten Wochen konnten wir uns nicht wie gewohnt zum Gottesdienst in den Kirchen versammeln. Viele haben das vermisst. Manche sind in eine der offenen Kirchen gegangen, um eine Kerze anzuzünden und still zu beten. Viele beten jetzt wieder, wenn die Kirchenglocken läuten – zuhause, wo sich gerade viel mehr Alltag als sonst abspielt. Neben dem Warten ist auch das eine der Lektionen dieser Tage: Wir leben, bewegen uns und sind in Gott. Gottesdienste und Kirchenräume dienen nicht dazu, dem Alltag zu entfliehen. Sondern mir gerade genug Abstand zu ermöglichen, dass ich Gottes Spuren im Gewöhnlichen entdecke: Beim Einkauf, im Grünen, beim Gespräch über den Gartenzaun oder übers Internet, wenn ich nachts wach liege.  

Oder wenn mir schlechte Nachrichten unter die Haut gehen. Letzte Woche etwa kommentierte die Journalistin Mely Kiyak die elende Lage tausender Geflüchteter auf Lesbos, darunter viele Kinder: 

Menschsein ist universell und spricht eine Sprache. Kinder sind Schutzbedürftige. Dieses Wissen nicht in seinem Lebenskompass eingeschrieben zu haben, bedeutet einen unglaublichen Verlust von Würde, zunächst einmal sich selbst gegenüber.

Mely Kiyak, 50 ist keine Zahl

Europas Regierungen stehlen sich im Schatten von Corona aus der Verantwortung und ich sitze hier wie tausende andere fest im Homeoffice und unterschreibe Online-Petitionen an die Regierenden.

Die Gerechtigkeitslücke

An diesem Punkt geht Paulus einen Schritt über die Einigkeit mit den Athenern hinaus. Gott ist nicht nur Grund und Urheber der Welt, sondern er verfolgt auch ein Ziel. Ja, Menschen spiegeln Gott oft und in vieler Hinsicht wider. Ja, es gibt Wahres, Gutes und Schönes unter ihnen. Manchmal aber ist es schlichtweg zum Heulen, was sie einander antun. Die Würde aller nimmt Schaden, wenn Gerechtigkeit mit Füßen getreten wird. Wenn die Gewalt der einen und die Gleichgültigkeit der anderen sich die Hand reichen, folgt die Selbstzerstörung. Und am Umgang mit leidenden Menschen zeigt sich auch, wie es um unser Verhältnis zu Gott bestellt ist.

Deswegen offenbart sich Gott ausgerechnet im leidenden und gekreuzigten Christus. Paulus reißt das nur knapp an, quasi im Telegrammstil, und die Athener haben erkennbar Mühe, ihm zu folgen: 

Da wir nun göttlichen Geschlechts sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.
Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er richten will den Erdkreis mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.
Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die andern aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören. So ging Paulus weg aus ihrer Mitte. Einige Männer aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig; unter ihnen war auch Dionysius, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen.

Apg 17, 29-34

Für diesen sperrigen Christus gibt es keine passende Nische. Er stört, also wird er beseitigt. Gottes Sohn nimmt es in Kauf, selbst unter die Räder zu kommen. Und damit deckt er den herzzerreißenden Zwiespalt der Menschheit auf: So großartig und doch auch so grausam sein zu können. Aber gerade da stößt Gott nun die Tür zu einer neuen Welt auf. Im Auferstandenen erscheint sie, inmitten in der alten, kaputten Welt. Immun gegen das Virus der Unmenschlichkeit.

Unser Licht leuchten lassen

Das also macht die Osterbotschaft aus: Eine andere Welt ist nicht nur theoretisch möglich. Der Anfang ist schon gemacht. Wenn Paulus vom kommenden Gericht spricht, sagt er damit: Gott wird der Unmenschlichkeit ein Ende setzen und seine aus den Fugen geratene Welt zurechtbringen. 

Die Zeit des Leidens ist begrenzt. Aber sie ist – bei aller österlichen Erleichterung und Vorfreude –noch nicht zu Ende. Wir warten nicht auf das Ende der Corona-Krise und darauf, dass dann alles wieder „normal“ wird. Die gefühlte Normalität der Jahre vor Corona war in Gottes Augen schon längst Krise. So kann es nicht weitergehen. Wir warten sehnsüchtig auf ein Ende der Ungerechtigkeit. Wir warten auf eine Welt, in der Kinder und Alte, Frauen und Männer, Menschen und Natur in Würde und Frieden leben. Das Ende der Pandemie ist nur ein Schritt dahin.

Zu Ende ist allerdings die Zeit des Abwartens und Taktierens. „Egal, was ihr vorher gemacht habt,“ sagt Paulus den Athenern, „jetzt ist es Zeit, sich der Bewegung des Auferstandenen anzuschließen.“ Lukas nennt namentlich zwei Personen, die der Einladung folgen: Dionysius, Damaris.

Und ich? Ich muss nicht bis nach Corona warten, um es ihnen gleichzutun. Mit vielen anderen auf dieser Welt bin ich unterwegs. Zum Beispiel Joan Baez, die vom Glauben an Gott singt, der sich zwar oft nicht begreifen lässt, aber uns hilft, unser Licht leuchten zu lassen.

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Corona und der andere Blick für den anderen

Nach all den Tagen im Lockdown, die noch eine ganze Weile abgestuft andauern werden, merke ich, wie sich mein Gefühl für räumliche und körperliche Nähe in der Öffentlichkeit verändert. Eine Art inneres 360° Radar schlägt an, wenn andere sich auf weniger als zwei Meter annähern. Ich werde unruhig. Wer weiß, wie wir alle in einem Jahr über angenehme Distanz und unangenehme Nähe fühlen und denken?

Diese Woche war ich mit meinem Sohn laufen. Hintereinander und nicht nebeneinander, damit andere auf dem Weg gut an uns vorbei passen. Ab und zu mussten wir einen Haken schlagen. Zum Beispiel um ein Kind, das mitten auf dem Weg stand. Prompt mokierte sich der Kleine über die „blöden Männer“, die da an ihm vorbeizogen. Sogar die Kleinen stehen schon unter Strom…

Photo by Evgeni Tcherkasski on Unsplash

Hier und da kamen uns auf diesem Lauf Leute entgegen, und manchmal waren hinter ihnen wieder andere ein paar Schritte schneller unterwegs. Nicht jeder hält in so einem Moment die gebotenen anderthalb Meter Distanz oder wartet kurz. Manche zwängen sich hastig durch zu enge Lücken.

Ich spüre gerade, dass ich das mittlerweile als aggressives Verhalten empfinde. Beinahe wie das Auto, das mich beim Radeln mit 50 Zentimeter Abstand und 50 Kilometer Geschwindigkeitsunterschied überholt. Es gibt offenbar Menschen, für die ist jedes Bremsmanöver ein Stück Sterben.

Vielleicht ist das auch eine Reaktion auf die allgegenwärtige Verlangsamung, dass es manche nun auf Fuß- und Radwegen drauf ankommen lassen; nach dem Motto: Wenn es die anderen stört, werden sie schon Platz machen. Der Unterschied zum SUV-Beispiel ist freilich, dass man sich auch selbst einem erhöhten Risiko aussetzt. Menschen mit ungebremster Wucht nahe zu kommen, wird in Zukunft zunehmend als rüde empfunden werden. Und nicht alle werden mit einem Achselzucken reagieren. Nicht, weil sie Mimosen wären, sondern weil sie ihre Sinne angesichts realer Risiken neu justiert haben.

Gestern habe ich übrigens Freunde nicht erkannt, die mir auf dem Fahrrad im Wald entgegenkamen. Ich war so darauf fixiert, am äußersten Rand des Weges zu fahren. Auch die Sehgewohnheiten ändern sich. Wie wird sich das verändern, wenn demnächst alle Masken tragen und man einander nur noch mit Mühe erkennt?

Was wird es künftig bedeuten, einen Blick für andere Menschen zu haben?

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Halbzeit

Vor 18 Monaten habe ich den Dienst an der Auferstehungskirche angetreten. Nun ist mein Arbeitsverhältnis entfristet und die offizielle dienstliche Beurteilung eingetütet. Ein Meilensteinchen also…

Photo by Agê Barros on Unsplash

In diesen 18 Monaten habe ich eine Menge herzlicher und engagierter Menschen kennengelernt: Gemeindeglieder, Mitarbeitende, Kolleg*innen. Das erste Jahr über waren meine Arbeitsbereiche kaum definiert (zu tun gab’s dennoch genug). Zum Herbst habe ich dann quasi intern die Stelle gewechselt, nun steht das Normalprogramm im Vordergrund.

Neben dem, was im kirchlichen Alltag eben auch getan werden muss (Schule, Sitzungen, Organisatorisches), tun sich hier und da kreative Spielräume auf. Die Atmosphäre in der Kirchengemeinde zwischen Dutzendteich und Tiergarten, Clubgelände und Businesstower hat sich verbessert, sagen etliche. Manches Neue ist gewachsen, und das mitzuerleben ist schön. Viele Leute haben dazu beigetragen; ich habe eigentlich nur versucht, möglichst wenig im Weg zu stehen.

Mittlerweile habe ich eine Vorstellung davon, wie diese Gemeinde tickt, was sie braucht und wohin es sie zieht. Die nächste größere Veränderung steht an, wenn mein Kollege im Herbst in Pension geht. Dann wird es darum gehen, den Laden ordentlich zusammenzuhalten. Und wenn dann irgendwann im nächsten Jahr sein(e) Nachfolger*in da ist, sehen wir weiter.

Am vergangenen Sonntag haben wir im Gottesdienst den Propheten Ezechiel gelesen, der (in einer Vision) eine Schriftrolle essen sollte. Dazu haben wir während der Predigt Esspapier verteilt und alle, groß und klein, haben an ihrem Blatt geknabbert, während sie weiter zuhörten. So intensiv hat es im Gottesdienst schon lange nicht mehr geknistert.

Von mir aus darf es feste weiterknistern…

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Jona, der Brexit und die Zukunft in stürmischen Zeiten

Am vergangenen Sonntag habe ich in der Predigtreihe „Heldengeschichten“ über den Propheten Jona gesprochen – vielleicht die größte Witzfigur in der Bibel.

Die Jona-Geschichte ist nicht nur bissig, sondern auch aktuell. Zum Ende dieser Woche kommt ja nun der Brexit – und da gibt es eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Gemütslage heutiger Engländer und des Propheten vor Ninive.

Der bockige Prophet – Predigt vom 26. Januar 2020

Im Spiegel beider Geschichten lässt sich dann auch ein Blick auf uns selbst werfen. Wir Wirtschaftswunderkinder stehen vor der Aufgabe, einen Weg in die Postwachstumsgesellschaft zu finden. Der Seegang wird rauer. Doch auch da hilft die Konfrontation zwischen Gott und Jona weiter.

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Viel Vernunft im Wagen

So ein S-Bahn-Zug bringt die unterschiedlichsten Charaktere zusammen. Oft nur still, aber hin und wieder auch hörbar. Letzte Woche war die abendliche Bahn gut gefüllt. Kurz vor Abfahrt am Hauptbahnhof stieg noch jemand zu und suchte einen Platz. Es gab hier und da noch freie Sitze, allerdings nicht im Bereich für Kinderwägen und Fahrräder. Da standen schon zwei Drahtesel.

Der Mann begann die Mitreisenden zu fragen, ob man die beiden Fahrräder nicht zusammenstellen könnte, um weitere Sitzplätze frei zu bekommen. Als er keine Reaktion bekam, sagte er laut und mit hörbar osteuropäischem Akzent „Scheiß Fahrräder!“. Worauf ein brummiger, korpulenter Franke prompt – noch lauter – mit einem „Scheiß Ausländer!“ antwortete.

Die anwesende Pendler-Community reagierte routiniert mit Deeskalation. Etliche Passagiere boten dem Osteuropäer einen Platz neben sich an und widersprachen damit dem fremdenfeindlichen Polterer. Der Fahrradmuffel allerdings schmollte und blieb lieber stehen. In Erlangen dürfte er dann seinen Klappsitz bekommen haben. Da steigen die meisten Radfahrer nämlich aus. Ich hingegen war froh, dass ich das Rad nicht im vollen Zug dabei, sondern am Bahnhof geparkt hatte. Und ein bisschen stolz, dass neben den zwei Hitzköpfen so viel Vernunft im Wagen war.

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Der Advent ist ein kleiner Pudel

Als ich heute mit Tüten voller Kinderpunsch aus dem Supermarkt kam, saß vor dem Eingang ein kleiner Pudel in einem goldbronzenen Daunenjäckchen und fiepte unablässig vor sich hin. Ich fand den Anblick erst skurril, irgendwie amüsant. Dann schaute ich noch einmal hin. Der Hund wandte seinen sehnsüchtigen Blick nicht von der Tür ab, hinter der sein Frauchen (vermutlich – oder würden auch Männer Hunde so anziehen?) verschwunden war. Und ich war mit einem Mal ziemlich gerührt.

Warten fällt uns schwer. So gespannt zu warten allemal. Wir haben weitgehend aufgehört, im Advent noch zu warten. Er ist, auch im kirchlichen Kontext, längst die Zeit der Vorwegnahme von Weihnachten. Wir singen Weihnachtslieder, wir essen Weihnachtsgebäck, wir öffnen kleine Geschenke aus unseren Adventskalendern, wir hören tausend Vorabversionen der Weihnachtsgeschichte. Wenn Weihnachten dann endlich kommt, ist es nur noch mehr vom Selben. Dieser Advent geht mir, obwohl erst halb vorbei, ziemlich auf den Spekulatius.

Fulbert Steffensky habe ich heute vom „Zwang zur lärmenden Heutigkeit“ sprechen hören, „in der kein Herr des Hauses mehr erwartet wird, der zu Mitternacht zum Gericht oder zur Hochzeit kommen könnte“. Recht hat er.

Vielleicht haben wir uns einfach schon zu viel genommen, um noch so eine tiefe Sehnsucht zu empfinden wie der kleine Pudel. Und geben uns genau deshalb mit viel zu wenig zufrieden. Wir warten, wenn wir Gott richtig verstanden haben, darauf, dass diese Welt eine andere wird. Dieses Warten ist am 24. Dezember noch lange nicht zu Ende.

Und Weihnachten bedeutet dann: Warten lohnt sich. Er kam schon einmal in eine Welt, die nicht (mehr) mit ihm gerechnet hatte.

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Nicht so unerlöst, Kollege!

Neulich hat sich ein Kollege zur Klimakatastrophe geäußert. Die Dramatik ist, wenn man nur einmal die Nachrichten dieser Woche Revue passieren lässt, ja kaum zu überschätzen:

Doch auch und gerade in den Kirchen gibt es Stimmen, die versuchen, jegliche Aufregung darüber zu dämpfen. „Unerlöst“ sei seine Sorge und Niedergeschlagenheit, musste der Kollege sich von einem kirchlichen Medienmenschen anhören.

Ich finde es theologisch wie pastoral unverantwortlich, wie hier oft argumentiert wird. Wenn in der Kirche kein Raum mehr ist, über bestens begründete Ängste und dystopische Zukunftsszenarien zu sprechen, wo denn dann? Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein großer Teil des politischen Spektrums – von den C-Parteien über die FDP bis zur AfD – „mehr Angst vor dem Klimaschutz als vor der Klimakatastrophe hat.“ Da wird auf Teufel komm raus verdrängt, verharmlost und beschwichtigt. Und wo das nicht greift, werden die Mahner als hysterische Spinner, selbstgerechte Fanatiker und wirtschaftspolitische Geisterfahrer hingestellt.

Photo by Markus Spiske on Unsplash

Was da nämlich als „erlöst“ propagiert wird, ist einfach nur die Fortsetzung der Verdrängung mit anderen Mitteln: Religion als Valium fürs Bürgertum. Ist es schlicht Wurstigkeit, oder die Angst vor einer Angst, die sich nicht wegmoderieren lässt? Spricht hier die Aversion der vermeintlich Gemäßigten gegen jede Art von Radikalität? Ist für die noch Platz in einer bürgerlichen Theologie und wohltemperierten Kirchlichkeit, die in der biblischen Apokalyptik und im Alarmismus der Protestbewegungen nur noch Gefahr und Schrecken erkennt?

Theologisch angemessen und pastoral verantwortlich wäre es, sich der Verzweiflung zu stellen und durch sie hindurch zu gehen, statt sie überspringen zu wollen. Wenn Menschen um Verstorbene trauern oder mit einer Depression kämpfen, kann ich ihnen ja auch nicht einfach zurufen, sie sollten doch erlöster aus der Wäsche schauen. Dasselbe Muster finden wir auch in der Tiefenökologie (ich habe hier darüber schon etwas geschrieben): Aktivismus wird nur dann nachhaltig sein können, wenn er dem Leid und der Verzweiflung – der eigenen und der anderer – nicht ausweicht, sondern sie an sich heranlässt.

Es führt also kein direkter Weg von der Verdrängung hin zum inneren Frieden und der Gelassenheit des Glaubens. Es gibt keine Luftbrücke, bei der mich Engel auf Händen tragen würden; bleibt nur der Weg der Konfrontation mit der Realität, vor der wir seit über 40 Jahren kollektiv die Augen verschließen.

Johann Georg Hamann (1730-1788) hat aus eigener Erfahrung heraus gesagt: „Es gibt keine Himmelfahrt der Gotteserkenntnis ohne die Höllen­fahrt der Selbsterkenntnis.“ Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen bedeutet, mich auf diesen Weg einzulassen und alle anderen Sicherheiten und Gewissheiten aufzugeben.

Und falls es jemand lieber sozialwissenschaftlich-säkular möchte: Altmeister Ulrich Beck schrieb in „Die Metamorphose der Welt“ über einen „emanzipatorischen Katastrophismus„, der den entscheidenden Wandel zum Besseren herbeiführt. Über eine Welt, die erkennbar und nachweislich aus dem Gleichgewicht geraten ist, lässt sich nicht mehr ausgewogen im herkömmlichen Sinn reden. Warum also nicht klagen, trauern, protestieren und provozieren?

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Alltägliches zum Aufhorchen

Manchmal habe ich angesichts der täglichen Nachrichtenlage das Gefühl, es gibt mehr negative Überraschungen als positive; oder dass all das Negative eigentlich auch schon keine Überraschung mehr ist, sondern nur die logische Folge des bisherigen Geschehens.

Doppelt aufhorchen lassen hat mich diese Woche Coldplay. Zum einen, weil die Band bekannt gab, auf ihre nächste Tour zu verzichten und daran zu arbeiten, ihre Auftritte klimaneutral zu organisieren. Die Musiker sind sicher nicht arm, aber sie verzichten eben auch auf beträchtliche Einnahmen.

Respekt!

Zum anderen ist es das neue Album von Chris Martin & Co: Everyday Life. Schöne Musik, eher leise, recht vielfältig im Stil. Nachdenkliche Texte, aber nicht kopflastig. Nach dem ersten Hören habe ich den Eindruck, damit ließen sich gleich mehrere Gottesdienste bestücken.

BrokEn ist ein guter Einstieg:

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Columbas Küste

Kintyre im Westen Schottlands ist eine Ecke, an der die ganz großen Touristenströme vorbei fließen. Um so größer mein Staunen, als ich diesen Sommer entdeckte, dass es dort nicht nur prähistorische Steinkreise zu besichtigen gibt, sondern auch Spuren der frühen iroschottischen Kirchengeschichte.

Mull of Kintyre

Besonders hängen geblieben sind bei der Gelegenheit die Orte, an denen St. Columba (oder Columcille) der Gründer des Klosters von Iona genannt wird. Der südlichste davon liegt unweit des Mull of Kintyre und damit, selbst bei mittelprächtigem Wetter, in Sichtweite der irischen Küste: Keil Caves und St. Columba’s Footprints. Wenn jemand von Ulster aus übersetzt, dann ist das tatsächlich ein geeigneter Ort, um an Land zu gehen.

Ein ganzes Stück weiter nördlich, bei Ellary am Loch Caolisport, liegt St. Columba’s Cave. Auf dem Weg von Tarbert dorthin kommt man in Kilberry vorbei und kann dort ein paar alte Steinkreuze und Grabplatten mit keltischen Ornamenten besichtigen.

Die Spur führt weiter nach Norden, ins Zentrum des Königreichs Dal Riata, auf dem Burgfelsen von Dunadd. Columba stammte aus dem Adelsgeschlecht der Ui Neill, und hier regierten Verwandte. In den Ruinen der Burg findet sich wieder ein Fußabdruck. Man vermutet, dass Könige den Fuß zur Einsetzung in ihr Amt dort hineinstellten. Und von Columba ist bekannt, dass er bei Krönungszeremonien mitwirkte.

Von Dunadd aus sind es nur noch wenige Meilen zu den uralten Steinkreisen im Tal von Kilmichael. Das nahegelegene Museum lockt mit einem Coffeeshop und einer informativen Ausstellung zur wechselhaften Geschichte dieses Landstrichs. Und wenn man sich an der Mündung des malerischen Crinan Canal einschifft, dann ist Iona schon nicht mehr weit mit seiner Abbey (übrigens ab Juni 2020 wieder offen für Gäste) und den Königsgräbern.

Es war für mich ein unerwarteter Pilgerweg. Wer es gern still mag, ist hier gut aufgehoben.

Kilmartin

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Die Frau in der Nische

Manchmal lässt sich ein ganzes Kapitel Kirchengeschichte in einem Symbolbild beschreiben. So erging es mir, als ich kürzlich in der Kathedrale von Lichfield hinter dem Hochaltar stand. Er ist auf beiden Seiten von jeweils sechs Figuren eingerahmt. Wenn ich das richtig gesehen habe, sind das fast alles Männer.

Fast, weil ein Bildhauer (wohl erst im 19. Jahrhundert) die Heilige Perpetua hineingeschmuggelt hat. Sie ist auf meinem Foto ganz rechts zu sehen. Aus dem Kirchenschiff bzw. Chor heraus kann man sie allerdings nicht erkennen, weil sie von einem Pfeiler verdeckt wird – und weil sie dem Betrachter den Rücken zukehrt. Nur von hinten ist sie sichtbar.

Vorne also die Männer, die Frau ganz am Rand, in der Nische. Ein Anblick, der eigentlich alles sagt. Über die Zeit, aus der er stammt, und über ein beschämendes Erbe, das noch nachwirkt.

Und ich denke mir: Luthers berühmtes Diktum aus der Heidelberger Disputation, dass man Gott eigentlich nur von hinten richtig sieht, lässt sich auch auf diesen Hochaltar anwenden. Wer nur von vorn draufschaut, der hat die Kirche (für die die Statuen ja stehen) noch gar nicht richtig erkannt.

Ebenso gilt: Aus der Sicht dieser Frau sieht diese Kirche ganz anders aus als aus der Perspektive der männlichen Kollegen. Der weibliche Blick ist der hinter die Fassaden der Hierarchie. In diesem Fall zumindest, aber das dürfte eben längst nicht der einzige sein.

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Baumtheologie – die Hoffnung ist grün

Was sagt die Bibel eigentlich über Bäume und Wald? Ist das eher so ein germanisches Ding, Gott, Geist und Bäume zusammenzubringen, oder wussten auch die Hebräer dazu schon etwas zu sagen?

Die Frage stellte sich mir im Blick auf den letzten Waldgottesdienst in Zabo. Zugleich ist eine ArboTheologie vielleicht auch ein Baustein für eine christliche Haltung zu all den ökologischen Aufgaben, vor denen unsere Zivilisation steht. Ich versuche mich mal an ein paar Thesen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und umfassende Geltung. Vielleicht wird ja irgendwann eine veritable Feld-Wald-und-Wiesen-Theologie draus. 🙂

Mitgeschöpfe

In der Alten Welt wussten die Menschen noch nicht, dass wir den Sauerstoff in der Luft den Pflanzen verdanken. Aber in Genesis 1,29 sagt der Schöpfer zu den Menschen: „Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.“ In der Idealvorstellung, die dort beschrieben wird, leben Menschen von den Früchten, die auf Feldern und Bäumen wachsen: Getreide, Oliven, Datteln, Granatäpfel, Wein, Hülsenfrüchte und einiges mehr. Fleischkonsum ist da überhaupt nicht vorgesehen.

Insofern könnte man sogar sagen, dass das Verhältnis zu den Tieren (die bekommen alles „Kraut“ als Nahrung, obwohl die Schreiber natürlich wussten, dass ein Löwe kein Gras frisst) weniger wichtig und innig ist. Und prompt spielt ein (freilich ganz besonderer) Baum auch eine wichtige Rolle in der Begegnung mit der Stimme der Versuchung ein paar Kapitel später.

Bäume als Mitgeschöpfe sind dazu aufgerufen, in das Lob Gottes einzustimmen („Jubeln sollen alle Bäume des Waldes“- Ps 96,12). Auch das spricht dafür, dass sie mehr sind als nur ein Rohstoff.

Platzhalter

Der Unterschied zu den Germanen dürfte darin liegen, dass Bäume in der Bibel nie als Chiffre für Gott und das Göttliche dienen. Sie sind fest verwurzelt in der Sphäre des Geschöpflichen.

Immer wieder werden Menschen und menschliche Verhältnisse im Bild von Bäumen beschrieben: Der Gerechte aus Psalm 1 ist ein immergrüner Baum am Wasserlauf, beständig und voller Lebenskraft. Die jungen Männer etwa werden mit aufstrebenden Bäumen verglichen (Sirach 39,13; Psalm 144,12).

Das funktioniert auch im Negativen: In Richter 9 wählen die Bäume einen Herrscher aus ihren Reihen – die Karikatur des Königtums in Israel. Und bei Ezechiel (vgl. Kapitel 31) und Daniel (4,7ff) können Bäume zur Chiffre für Großkönige und ihre Reiche werden, beziehungsweise für deren drohenden Sturz. Dieses Motiv des Gerichts reicht bis in die Passionsgeschichte – da lässt Jesus als Zeichen desselben einen Feigenbaum verdorren.

Leidensgenossen

Menschen und Bäume leiden unter denselben Dingen: Dürre und Hitze, Sturm und Hagel, Krieg und Plünderung. Für letztere sind die Menschen verantwortlich.

Dass den Menschen, wie es in Psalm 8 heißt, „alles zu Füßen gelegt“ ist, bedeutet freilich nicht, dass es mit Füßen getreten werden darf. Das spiegelt sich auch in anderen, für uns freilich befremdlichen, Zusammenhängen wider. Deuteronomium 20,19 legt fest, dass sich Belagerungstruppen nicht am Baumbestand der belagerten Stadt vergreifen dürfen. Gegen Bäume soll kein Krieg geführt werden. Eine Strategie der verbrannten Erde wäre also ein Kriegsverbrechen. Ich denke unwillkürlich an Bolsonaros Plünderungsfeldzug gegen den Regenwald im Amazonasbecken. Seine pentekostalen Anhänger nehmen die Bibel offenbar nur sehr selektiv zur Kenntnis.

Freilich kam es auch damals regelmäßig vor, dass Wälder von Kriegs- oder Bautrupps gerodet wurden. Jesaja 10,34 spielt darauf an: „Und der dichte Wald wird mit dem Eisen umgehauen werden“. Wenn es den Bäumen ans Leder (oder besser: an die Rinde) geht, dann ist das auch für die Menschen bedrohlich.

Hoffnungsverstärker – die pfingstliche Dimension

In den Texten über die Rückkehr aus dem Exil taucht das Motiv der Neuschöpfung immer wieder auf. Und wieder spielen Bäume eine Rolle darin. Wenn die Verbannten zurückkehren, dann jubeln auch Bäume und Wälder:

Jauchzet, ihr Himmel, denn der Herr hat’s getan! Jubelt, ihr Tiefen der Erde! Ihr Berge, frohlocket mit Jauchzen, der Wald und alle Bäume darin! Denn der Herr hat Jakob erlöst und ist herrlich in Israel.

Berge und Hügel brechen bei eurem Anblick in Jubel aus, alle Bäume auf dem Feld klatschen Beifall.

Jes 44,23 und 55,12

Ausgesprochen pfingstlichen Charakter hat unter all diesen Aussagen Jesaja 32,15: „Wenn aber der Geist aus der Höhe über uns ausgegossen wird, dann wird die Wüste zum Garten und der Garten wird zu einem Wald.“ Mit anderen Worten: Gottes Geist hebt das Leben insgesamt auf ein neues Niveau: Aus Ödland wird Ackerland und aus Ackerland Wald. Der Wald ist höchste Stufe dieses künftigen „Upgrades“ an Fruchtbarkeit und Reichtum. Ein Reichtum, der allen zugute kommt und nicht, wie im Landgrabbing des Plünderungskapitalismus, nur wenigen Superreichen und deren Günstlingen.

An der Heilung der Welt haben die Bäume auch einen aktiven Anteil. In der großen Tempel-Vision des Ezechiel wachsen entlang des stetig anschwellenden Stromes aus Gottes Tempel Bäume, deren Blätter Heilkraft besitzen:

An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihr Laub wird nicht welken und sie werden nie ohne Frucht sein. Jeden Monat tragen sie frische Früchte; denn das Wasser des Flusses kommt aus dem Heiligtum. Die Früchte werden als Speise und die Blätter als Heilmittel dienen. 

Ezechiel 47,12

Ein Fazit

Das theologische Waldbaden ergibt also:

  1. In der Bibel gibt es so etwas wie eine Solidarität der Geschöpfe. Und darin eine Verbundenheit zwischen Bäumen und Menschen, in denen die einen auf die anderen angewiesen sind: Die Menschen auf Bäume als Nahrungsquelle (und Holz als Werkstoff); die Bäume auf Menschen, die maßvoll und nachhaltig wirtschaften. Bäume sind ein Zeichen der Fürsorge des Schöpfers – man könnte womöglich von „Realsysmbolen“ sprechen, denn Gottes Fürsorge vermittelt sich durch die Atemluft und Nahrung, die sie spenden.
  2. Wenn die Welt aus den Fugen gerät, leiden die Wälder ganz ähnlich wie die Menschen. An ihrem Zustand lässt sich also etwas ablesen über den Zustand der Welt ingesamt. Damit sind sie – als seufzende Kreatur, wie Paulus in Römer 8,22 sagt – ein Spiegel unserer Verhältnisse: Von Mensch und in Mitleidenschaft gezogener Natur und des sozialen Gleichgewichts unter den Menschen.
  3. Bäume sind einbezogen in die Erlösung der Welt. Wir teilen mit ihnen auch Gottes Zukunft. In ihnen schlummert ein Potenzial, das noch nicht geweckt wurde. So wie in uns und der übrigen Schöpfung. Wenn Gott die Welt heilt, werden viele Bäume sprießen.

Insofern ist jeder Baum auch eine lebende Verheißung. Die Farbe der Hoffnung ist grün.

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Good News

Zum Motto des Sommerfestes in Zabo habe ich einen kleinen Text geschrieben – als Antwort auf die Frage „Ist da jemand“ von Adel Tawil und auf die Frage, was denn die gute Nachricht ist, von der unter Christen immer die Rede ist. Bisschen zu lang, um es noch unter „elevator pitchlaufen zu lassen. Aber das war auch nicht die Vorgabe für den Festgottesdienst. Andere sagen das garantiert anders, aber das Ziel ist ja eher, es auf möglichst viele unterschiedliche Weisen zu sagen.

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Da ist jemand, der uns und unsere Welt mit ihrer Schönheit und ihrem Wahnsinn liebevoll anschaut. Mitfiebert, ob wir im Leben klarkommen, sich manchmal eher unmerklich einmischt und manchmal merklich zurückhält. Jemand, der sich bei allem, was wir so treiben, mitfreut und mittrauert. Jemand, dessen Wesen es ist und schon immer war, Anteil zu nehmen.

Da ist jemand, dessen Energie und Einfühlungsvermögen unerschöpflich ist, der sich nicht müde, gelangweilt oder wütend zurückzieht. Jemand, der immer wieder neue Versuche unternimmt, auf uns Erdlinge zuzugehen, die guten Kräfte zu stärken und die Zerstörung zu begrenzen.

Da ist jemand, der in seiner Liebe – wie alle Liebenden – immer schon wehrlos und verletzlich war. Und der sich schließlich als verletzlicher, wehrloser, einfacher Mensch ohne Bodyguards unter die Leute mischt und alles abkriegt: Freundschaft und Verrat, Beifall und Spott, die Liebe der Kinder und die Brutalität eines Regimes, das Menschen kreuzigt. Seine Anteilnahme kennt keine Grenzen, nicht die zwischen Freund und Feind, auch nicht den Tod.

Da ist jemand, der Hoffnung verbreitet und Menschen die Augen öffnen für eine bessere, gerechtere, gewaltfreie und menschenfreundliche Welt. Er überwindet den Tod und zeigt, dass die Liebe – seine Liebe – größer und mächtiger ist als alles Dunkle und Böse. Diese ebenso hartnäckige wie zärtliche Anteilnahme hat die Kraft, Menschen und Verhältnisse zu verändern.

Da ist jemand, dessen unerschöpfliche göttliche Energie Menschen dazu bringt, über sich hinauszuwachsen: Not zu lindern, Versöhnung zu wagen und Frieden zu stiften. Kein Ort der Welt ist vor ihm sicher, keine Schuld zu groß, keine Verzweiflung zu tief, keine Resignation zu endgültig. Er startet eine Bewegung, die auch nach 2.000 Jahren nicht gestoppt ist. Jede*r kann dabei sein: Plätze sind frei, Türen stehen offen, alle Begabungen sind gefragt.

Und weil Gott noch nicht fertig ist mit uns und der Welt, sind das immer noch Neuigkeiten.

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„Geh aus, mein Herz“ – aber überleg‘ dir, wohin…

Immer schon hat es mich in den Wald gezogen. Grünkraft habe ich gespürt noch lange, bevor ich den Begriff der Hildegard von Bingen kannte. Wenn die Geräusche der Stadt und der Straßen in die Ferne rücken, nur noch die Vögel singen und der Wind rauscht, kommen mir die besten Gedanken. Und manchmal lehne ich mich ganz still an eine der großen Eichen oder Buchen und schließe die Augen. Ich gehe betrübt hinein und komme getröstet heraus. Oder besser: ich ging.

Dieses Jahr funktioniert das nicht mehr so richtig. Ich komme meist mit schwerem Herzen aus dem Wald zurück.

Im Herbst konnte man schon sehen, dass die Dürre ihren Tribut gefordert hat. Im Winter warfen ein paar Tage stürmisches Wetter hundert Jahre alte Fichten einfach um. Die Wurzeln konnten sie nicht mehr im Boden halten. Ein paar hundert Meter von unserem Haus klafft seither ein Loch im Wald, das größer ist als ein Fußballplatz. Als nach dem Winter wieder alles Grün wurde, war das auch längst nicht mehr alles. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so viele kranke und tote Bäume gesehen zu haben. Überall in der Region: Die Erlanger ereiferten sich im Frühjahr über die kranken Bäume an den Kellern. Und ganz Zabo redete sich die Köpfe heiß über den mächtig ramponierten Siedlerwald.

Der Wald stirbt.

Im Buckenhofer Forst

Und schon wieder ist es heiß und trocken. Die Grundwasserstände sind wieder so niedrig wie vor einem Jahr. In der Zeit lese ich, dass die Förster in Thüringen von einer „schleichenden Katastrophe“ sprechen. Dem Befall durch Borkenkäfer kann man noch etwas Positives abgewinnen. Aber nur noch eine von 20 Eichen ist noch gesund.

Der Waldzustandsbericht sollte doch besser wieder in „Waldschadensbericht“ umbenannt werden. In der aktuellsten Fassung sind die Schäden der letzten Monate noch gar nicht verzeichnet. Aber schon im vergangenen Jahr waren nur 28% der Waldbäume frei von sichtbaren Schäden, im Zeit-Bericht aus Thüringen lese ich von aktuell 19%. Buchen und Eschen sterben von den vertrockneten Wurzeln her.

Die Fieberkurve auf der Website von Robin Wood wird weiter ansteigen. Die Folgen liegen auf der Hand: „Je labiler die Wälder werden, desto geringer ist auch ihr Beitrag, die Klimaerwärmung zu begrenzen.“ Es geht ja nicht um ein bisschen grüne Kulisse zum Relaxen.

Geh aus mein Herz und suche Freud – das fällt schwer im Sommer 2019. Die reine Freude ist es nur noch sehr punktuell.

Ich gehe trotzdem in den Wald und denke an Joana Macys Active Hope. Dort spricht sie davon, dass auch der Schmerz über die Zerstörung einen Raum bekommen muss (Martin Horstmann hat das hier zusammengefasst). Es gibt die Verbindung zu unseren Mitgeschöpfen nicht nur über Empfindungen wie Schönheit, Freude und Dankbarkeit, sondern auch darüber, dem Schaden ins Auge zu sehen und den Kummer mitfühlend auszuhalten. Ohne dieses Aushalten gibt es keine rechte Transformation.

Und dann gehen mir biblische Aussagen über Bäume durch den Kopf: Die stolzen Zedern des Libanon, die „Bäume der Gerechtigkeit“. Wenn Gott seinen Geist ausgießt, sagt Jesaja, dann wird Wüste zu Ackerland und Ackerland zum Wald. Was für ein Upgrade der Botanik: Ein Wald, der jubelt und Bäume auf dem Feld, die in die Hände klatschen.

Aber das liegt in der Zukunft. Stoff für einen neuen Blogeintrag vielleicht. Und für Hoffnungsbilder, die ich dem neuen Waldsterben entgegenhalte, um die schmerzliche Gegenwart aushalten zu können.

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Der Staub an den Füßen

Es gibt theologische (und andere) Debatten, bei denen man sich verkämpfen kann. Ob es der Ausschluss der Frauen vom Priesteramt ist oder der (öffentlich sanfter formulierter, hinter verschlossenen Türen häufig unverblümte) Ausschluss gleichgeschlechtlich Liebender, es haben sich vielfach Fronten gebildet, die einen hohen Grad von Verhärtung aufweisen. Dass die theologische Auseinandersetzung dann zuweilen auch noch über Facebook und Twitter stattfindet, macht es nicht einfacher. Man beißt auf Granit. Wie Flüchtlingshelfer oder Fahrradfahrer in der CSU.

Hier und da sind Menschen, die ich kenne und schätze, in solche Konflikte verstrickt. Sie möchten ihre kirchliche Heimat nicht verlieren, aber sie finden kein Gehör, erst recht keine Zustimmung, bei den Entscheidungsträgern. In der „Eule“ hat Thomas Wystrach kürzlich die Spannung aufgegriffen, in der sich die Bewegung Maria 2.0 befindet. Er zitiert darin einen Satz, der sich mit meinen Empfindungen deckt:

Warum bist du noch dabei, werde ich immer häufiger gefragt. Ich stammle dann etwas von Nostalgie und Biografie. Aber eigentlich denke ich ganz böse: Wir Geduldigen sind Komplizen. 

aus einem Blogpost von Christiane Florin

Taktische Selbstkritik

Ich bin kein katholischer Insider und ich möchte auch kein Zyniker sein. Aber die Aussichten, innerhalb dieser und/oder der nächsten Generation die Dominanz der Männer in den Ämtern der Weltkirche aufzubrechen, erscheinen mir herzlich gering. Immer wieder mal wird sich ein anderes Mitglied der deutschen Bischofskonferenz vor ein Mikrofon stellen und sagen, dass er Priesterinnen nicht für unvorstellbar hält, während seine Kollegen in Rom oder Regensburg business as usual machen. Etwa, indem sie im nächsten Atemzug gemeinsam alte Karikaturen und Vorurteile über Genderforschung verbreiten.

Oder jemand aus dem Hauptvorstand der Evangelischen Allianz (ähnlich wie die Bischofskonferenz ein Gremium, das nicht durch Wahlen von der Basis, sondern Berufung von oben bzw. von innen heraus konstituiert wird) sagt etwas Nachdenklich-Selbstkritisches über Homophobie. Laut genug, um den loyalen Dissident*innen einen Funken Hoffnung zu geben, leise genug, um das System nicht in Aufruhr zu versetzen. Das Beschwichtigungsritual ist erprobt und bewährt.

Was könnte man mit der Energie, die da seit vielen Jahren schon verloren geht, nicht alles positiv bewegen? Gerade wenn man Kirche von ihrer Sendung her denkt, kann man sich mit diesen Selbstblockaden schwerlich abfinden. Jesus weist seine Jünger an, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie mit ihrer Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft in der Dorfgemeinschaft auf taube Ohren stoßen. Eine radikale, schroffe Geste.

unsplash-logoBen White

Wenn Weitergehen nicht reicht

Aber sie deutet etwas Wichtiges an. Weitergehen alleine reicht nämlich nicht, wenn ich dabei die alten Frontstellungen verinnerliche und mitnehme. Auch nicht in der treuen oder reflexhaften Negation – wie Jan Fleischhauers Abschiedsworte auf Spiegel Online diese Woche schön zeigen:

Mir bleibt einstweilen nur, mich bei meinen Lesern zu bedanken: bei denen, die mich geschätzt haben, und bei denen, die mich hassten. Sie haben mir über all die Jahre die Treue gehalten.

Jan Fleischhauer

Der „Shitstorm“ gehört bei ihm ja zum Geschäftsmodell. Er dient als Beweis der Ignoranz und Intoleranz seiner Kritiker. Daher zählt Fleischhauer auch genüsslich die Millionen Klicks auf, die seine Beiträge erzielten. Man kann ihn lesen und sich verstanden fühlen oder sich ärgern. Brücken der Verständigung, Bewegung im Diskurs entstehen dabei allerdings kaum. Es geht nicht genug weiter. Die Blockade bleibt – im Kopf.

Gesucht: fruchtbare statt furchtbare Debatten

Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade „Digital Minimalism“ von Cal Newport lese: Solche Debatten mit hohem Erregungsgrad haben ein gewisses Suchtpotenzial. Man kann auch als Repräsentant der Minderheitenmeinung eine Menge Aufmerksamkeit und Zuspruch bekommen. Fleischhauer zeigte das bisher als Konservativer im Spiegel-Milieu, andere eben vor dem Hintergrund des römischen Klerikalismus oder im Lager der „Evangelikaner“ (um mal eine ausgesprochen passende Wortschöpfung des ZDF zu verwenden).

Vor einiger Zeit rief mich ein Redakteur eines stramm konservativ christlichen Blattes an und schlug mir vor, meine Position zu einer damals gerade aktuellen Kontroverse dort darzulegen. Ich entschied mich dagegen. Weder wollte ich als liberales Feigenblatt fungieren, noch anderen einen Anlass geben, ihre ewig gleichen Gegenpositionen erneut breitzutreten. Ich war an einen Punkt gekommen, wo ich meine Energie und Lebenszeit nicht mehr in solche Debatten mit hoher Aussicht auf Erregung, aber geringer Aussicht auf Ertrag investieren wollte. Es war eine gute Entscheidung. Als ich vor ein paar Wochen Frank Rieger auf der re;publica über Fragen von Desinformation und Cyberwar zuhörte, blieb mir diese Schlussfolgerung im Gedächtnis: „Vielleicht liegt die Zukunft in (halb)geschlossenen Benutzergruppen mit freundlichen, vertrauenswürdigen Menschen“. Andere Baustelle, ähnliche Strategie.

Weniger Erregung und Kontroverse bedeutet auch erst einmal weniger Aufmerksamkeit und Dringlichkeit. Auch das kann ein Grund sein, mich aus solchen Debatten nicht zu verabschieden und wenn schon nicht Menschen, dann doch Prämissen und Positionen die Treue zu halten, die ich ablehne.

Noch eine Analogie: In der hitzigen Phase der Flüchtlingsdebatte habe ich einige CSU-Mitglieder erlebt, die unter großen inneren Schmerzen aus ihrer Partei ausgetreten sind, weil ihnen ihre christliche Überzeugung wichtiger war. Auch sie haben ein Stück Heimat aufgegeben. Dabei hätte das Konzept „Bleiben und Verändern“ in einer demokratisch strukturierten Partei ja noch eher Aussicht auf Erfolg als in jenen kirchlichen Institutionen, die von weitgehend geschlossenen Zirkeln geführt werden. Ich fand es trotzdem richtig und konsequent. Und wenn Markus Söder momentan spürbar milder daherkommt als noch vor Monaten, dann liegt das auch am Mut dieser Ehemaligen.

Hier kommt die Frage:

Ist am Ende nicht das Bleiben, sondern das Verlassen der Schritt, der nicht nur den eigenen Seelenfrieden rettet, sondern auch den entscheidenden Impuls zum Wandel der Institution setzt? Also nicht nur ein Akt der Selbstfürsorge, sondern auch der Nächstenliebe? Wir kommen ja alle aus einer spirituellen Tradition, die mit dem Ruf beginnt, die Heimat zu verlassen und dem unsichtbaren Gott zu folgen. Die Frage sollte, biblisch gesprochen nicht sein, mit wem ich die Vergangenheit geteilt habe. Sondern mit wem ich die Zukunft teilen will.

Wann dieser Punkt erreicht ist, das kann nur jede(r) selbst entscheiden. Thomas Wystrach gehört seit 2009 der altkatholischen Kirche an. Er beschreibt das Dilemma derer, die in der katholischen Kirche etwas verändern wollen, mehr als er es kommentiert.

Ich habe hier vor vier Jahren einen Abschiedsgruß an die evangelikale Bewegung geschrieben, in der ich eine Weile zu Gast war. Freundliche Kontakte gibt es nach wie vor, aber im Moment kann ich mir eine Mitarbeit in der Evangelischen Allianz nicht vorstellen. Und am postevangelikalen Gespräch habe ich auch nicht mehr groß teilgenommen. Das hat Disziplin gekostet. Aber wenn man sich auf Fragestellungen wie „Erlaubt die Bibel homosexuelle Beziehungen?“ einlässt, hat man schon verloren. Die Frage ist nicht, was die Bibel „erlaubt“, sondern wie wir heute mit der geschlechtlichen Vielfalt unter uns umgehen und wer dabei über wen bestimmen darf. Dazu würde ich dann auch gern wieder die Bibel ins Spiel bringen.

Die Kirche, in der ich arbeite, hat ihre Schwächen und Fehler. Außer dem faktisch sakrosankten Kirchsteuer- und Beamtenwesen (schade, aber verschmerzbar) gibt es freilich kaum Tabus. Dafür einen halbwegs anständigen Binnenpluralismus. Sie hat eine synodale, demokratisch legitimierte Struktur. Und sie hat sich mit einer recht unabhängigen wissenschaftlichen Theologie genug Läuse in den Pelz gesetzt, um nicht intellektuell träge und selbstzufrieden zu werden. Das sind für mich ausreichende Voraussetzungen für eine Beheimatung.

Keine Zeit mehr zu verschenken

Wir stehen gerade vor gewaltigen Aufgaben. Wenige Jahre bleiben uns noch, unsere Gesellschaften so umzubauen, um der ganz großen Klimakatastrophe zu entgehen. Die Welt gerät an so vielen Stellen aus den Fugen – politisch, sozial, religiös. Was tragen wir Christen zur Lösung dieser Fragen bei? Möchte ich da meine Zeit mit Leuten verplempern, die immer noch meinen, das Höllenfeuer sei schlimmer? Oder die auf dem Islam herumhacken? Die das Patriarchat als Gottes unumstößlichen Schöpferwillen ausgeben? Mit denen werde ich hin und wieder reden, aber nicht auf ihrem Turf und nicht zu ihren Prämissen.

Diesen Staub kann ich an meinen Füßen gerade nicht brauchen.

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