Als ich vor 14 Tagen zum ersten mal seit Wochen wieder in einem Zug saß, erinnerte die Stimme aus dem Lautsprecher an die Pflicht, eine Gesichtsmaske zu tragen. Auf DB-Englisch hieß das dann „please cover your mouse and nose“. Ein paar Fahrgäste schräg gegenüber hatten das offenbar weder auf Deutsch noch auf Englisch verstanden. Ihr Mundschutz baumelte unterm Kinn, damit sie sich besser unterhalten konnten.
Zwei Welten
Dieses Gefühl, in zwei Welten gleichzeitig zu leben, werde ich gerade nicht los. Da ist die Welt der Behutsamen und Verantwortungsbewussten. Diese Woche tauschte sich unser Pfarrkapitel über Hygienemaßnahmen aus. Sie sind oft beschwerlich einzuhalten, es gibt Änderungen in kurzer Abfolge und immer wieder stellt sich die Frage, ob das bisher übervorsichtig war oder inzwischen schon wieder fahrlässig ist. Aber alle sind sich einig darin, dass wir die geltenden Regeln einhalten und niemanden gefährden wollen. Die meisten haben mit Menschen aus Risikogruppen zu tun, manche gehören selber dazu.
Auf dem Heimweg komme ich an einer Imbissbude vorbei, die auf dem Parkplatz eines Baumarktes steht. Die Kund*innen stehen alle mit Gesichtsbedeckung an, drinnen hängt zwei fröhlichen Mitarbeitern der Mundschutz lässig unterm Stoppelbart. Als ich einen darauf anspreche, sagt er, es sei halt einfach zu warm dafür. Als wäre das eine Empfehlung, der man nur so lange zu folgen braucht, wie es einen nicht stört. Er zieht den Mundschutz widerwillig ein Stück hoch, aber die Nase schaut immer noch heraus. Es ist nicht das erste Mal, dass mir diese Reaktion begegnet. Letzte Woche grinste mich das Personal eines anderen Straßenverkaufs ebenso unverhüllt wie unverhohlen an und fragte, ob ich denn ernsthaft glaube, was die Regierung sagt.
Der garstige breite Graben
Ab und zu überrascht mich diese Spaltung auch im Bekanntenkreis. Da wird natürlich wie überall munter diskutiert und die einen drängen auf mehr Lockerungen während andere das Risiko einer zweiten Welle im Blick haben. Doch dann gibt es vereinzelt Stimmen, die offenbar jegliches Vertrauen in Politik, öffentliche Institutionen und gesellschaftliche Diskurse verloren haben. Zugleich aber berufen sie sich auf „Forschungs“-Websites ohne Impressum und obskure Youtube-Experten, die alles viel besser wissen als Christian Drosten und das RKI. Und werfen mir vor, ich würde unkritisch den Mainstream nachplappern statt differenziert und selbständig zu denken. Da stehen wir nun vor dem garstigen breiten Graben. Bei Lessing verläuft er zwischen Glaube und Vernunft. Ist es heute Verschwörungsglaube und Vernunft? Hilft diese Polarität überhaupt noch weiter?
Brüche über Brüche
Seit ein paar Jahren scheint jede neue Krise neue garstige Gräben mit sich zu bringen. Ich denke an Gespräche mit einem Bekannten, er links und Agnostiker, ich grün und Theologe, genug gemeinsame Perspektive auf das Leben für lange, gute Gespräche. Irgendwann entdeckte er das Thema „Islamkritik“ und die Verständigung wurde zusehends schwieriger. Nach 2015 ging dann gar nichts mehr. Der Bruch lag quer zur alten Frontstellung von konservativ und progressiv, wie auch dem jüngeren Antagonismus von Kapitalismuskritik und Neoliberalismus. Freilich profitierte die extreme Rechte enorm von der neuen Entfremdung. Auch deshalb, weil (das soll hier nicht unerwähnt bleiben) zahlreiche Vertreter „bürgerlicher“ Parteien (sprich: Union und FDP) versuchten, aus den Ressentiments gegen Zuwanderer und Muslime Kapital zu schlagen.
Die nahende Klimakatastrophe brachte die nächste Spaltung. So weit ich sehe, hat sich das rechte Lager weitgehend geschlossen auf der Seite der Klimaleugner versammelt. Aber es bildeten sich zusätzliche Empörungsbrüche, bei denen nun auch Alter und Geschlecht eine Rolle spielten. Kein Wunder, das Ganze fiel ja in die Ära narzisstischer Alpha-Männchen mit problematischen Beziehungen zu Frauen, zur Gewaltenteilung und zur Wahrheit.
Die Gretas und Luisas von Fridays for Future hören auch dann, wenn es ihrem Anliegen kurzfristig schadet, auf die Wissenschaften. Sie protestierten daher während der letzten Wochen im Netz. Doch nun kapern andere die verwaiste Bühne. Sie beklagen die große Freiheitsberaubung unter dem Deckmantel des Seuchenschutzes. Und wieder sind es vor allem Männer, die die Welt „retten“: Attila Hildmann, Sido, Gerhard Ludwig Müller. Eben wurde noch vor der drohenden Ökodiktatur gewarnt, jetzt ist auf einmal das Virus der Knüppel der Herrschenden. Eine neue Echokammer tut sich auf. Und wieder verlieren wir ein paar Mitstreiter, weil die den Corona-Knoten lieber durchschlagen würden als sich auf mühsame Diskussionen und langwierige Prozesse einzulassen. Sie haben nach zwei Monaten Krise und Verunsicherung schon wieder den Boden absoluter Wahrheiten unter den Füßen. Und erleben nach dem Stillhalten im Lockdown wieder das gute Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Vernunft im Rückwärtsgang
Bei „Swiss Propaganda Research“ berufen sich die anonymen Betreiber und Autoren auf die Vernunft, indem sie aus einem NZZ-Interview mit Slavoj Žižek (für seine Bücher hat’s leider nicht gereicht) zitieren: »Das Großartige an der Aufklärung bestand ja von Anfang an darin, dass rationale Argumente ihren Wert unabhängig davon haben, wer sie äußert.« Freilich stellen sie damit Žižeks Intention auf den Kopf. Der meinte, dass alle Menschen verdienen, gehört zu werden – auch die, die keine Macht und keinen Status haben. Hier dient das Zitat als Vorwand, die Selbstdarstellung als „Fachleute“ jeglicher Überprüfung von außen zu entziehen. Auf den Status legen die Unkenrufer also durchaus Wert. Aber wie Donald Trump scheuen sie davor zurück, echte Verantwortung für ihre Aussagen zu übernehmen. Im Grunde machen sie die Gleichung auf anonym = rational/glaubwürdig – und die Gegengleichung etabliert = irreführend/unglaubwürdig. Das ist – mit Nils Markward gesprochen – eine Form von relativistischer Denunziation, die nur noch Meinungen kennt und überall niedrige Motive unterstellt.
Žižeks letzter Satz an seinen neoliberalen Gesprächspartner aus der Steueroase lautete übrigens ebenso passend wie ernüchternd: „Wir leben – sorry – in ziemlich beschissenen Zeiten.“ Der grimmige Ausblick trifft auch jetzt noch zu, vier Jahre später. Weil die Klimakrise ja nicht verschwunden sein wird, wenn Covid-19 irgendwann gebändigt wurde. Sie wird selbst bei mildem Verlauf, der kaum noch erreichbar scheint, mehr Menschen betreffen und deutlich länger anhalten als ein paar Jahre. Wenn wir uns jetzt nicht einmal kurzfristig zusammenraufen können, um gemeinsam Lösungen zu finden, wie wird es dann erst aussehen? Wer demonstriert nach all dem falschen Alarm noch, wenn die Demokratie eines Tages wirklich in Gefahr ist?
Düstere Aussichten?
George Packer beschrieb die Lage in den USA kürzlich so: „Im ganzen Land eine von Zynismus und Erschöpfung geprägte Stimmung, ohne jegliche Vision einer gemeinsamen Identität oder Zukunft.“ Davon sind wir zum Glück noch ein ganzes Stück entfernt. Merkel und Steinmeier sind erfreulich anders als Trump. In Bund und Ländern sind Parteien und Mandatsträger zu Koalitionen und zur Kooperation fähig und nicht nur auf Krawall gebürstet. Ehrlich: Wie kann man noch von Corona-Diktatur schwadronieren, wenn man dieses Interview mit Bodo Ramelow liest?
Aber Zynismus und Erschöpfung nehmen auch unter uns zu. Die Ohnmachtsgefühle angesichts der von all diesen garstigen breiten Gräben zerfurchten Gesellschaft machen müde und mutlos. Am Vernünftigsten ist es wohl, nicht allzu viel Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit zu verbrennen im Umgang mit Meinungen, die wir offenbar nicht ändern können, und Geraune, das aus dubiosen Quellen aufsteigt.
Hygiene für den gestressten Geist
Ein anderer Kommentar aus diesen Tagen brachte es für mich gut auf den Punkt:
Die zentrale Frage der nächsten Monate lautet mit großer Wahrscheinlichkeit nicht: Wie bescheuert sind eigentlich diese Aluhutträger? Sondern vielmehr: Wie vertrauenswürdig, ehrlich, gewaltfrei und ernsthaft solidarisch wird sich der angeblich aufgeklärte Rest verhalten?
Anselm Neft
Und da sind durchaus Überraschungen möglich. Heute kam eine solche von Sven Giegold aus dem Europäischen Parlament: Eine breite Mehrheit der Abgeordneten sprach sich für einen solidarischen Corona-Wiederaufbaufonds aus, der den Green New Deal unterstützt.
Und mir fällt auf einmal ein Satz aus dem Philipperbrief ein. Paulus hatte in seiner noch jungen Bewegung mit Spaltungen, Misstrauen und Rivalität zu kämpfen. Seine apostolische Version des „please cover your mouse and nose“ – was wir aus der belasteten Atmosphäre aufnehmen und in sie abgeben – lautet so:
Was wahr ist, was achtenswert, was gerecht, was lauter, was wohlgefällig, was angesehen, wenn immer etwas taugt und Lob verdient, das bedenkt!