Corona und der andere Blick für den anderen

Nach all den Tagen im Lockdown, die noch eine ganze Weile abgestuft andauern werden, merke ich, wie sich mein Gefühl für räumliche und körperliche Nähe in der Öffentlichkeit verändert. Eine Art inneres 360° Radar schlägt an, wenn andere sich auf weniger als zwei Meter annähern. Ich werde unruhig. Wer weiß, wie wir alle in einem Jahr über angenehme Distanz und unangenehme Nähe fühlen und denken?

Diese Woche war ich mit meinem Sohn laufen. Hintereinander und nicht nebeneinander, damit andere auf dem Weg gut an uns vorbei passen. Ab und zu mussten wir einen Haken schlagen. Zum Beispiel um ein Kind, das mitten auf dem Weg stand. Prompt mokierte sich der Kleine über die „blöden Männer“, die da an ihm vorbeizogen. Sogar die Kleinen stehen schon unter Strom…

Photo by Evgeni Tcherkasski on Unsplash

Hier und da kamen uns auf diesem Lauf Leute entgegen, und manchmal waren hinter ihnen wieder andere ein paar Schritte schneller unterwegs. Nicht jeder hält in so einem Moment die gebotenen anderthalb Meter Distanz oder wartet kurz. Manche zwängen sich hastig durch zu enge Lücken.

Ich spüre gerade, dass ich das mittlerweile als aggressives Verhalten empfinde. Beinahe wie das Auto, das mich beim Radeln mit 50 Zentimeter Abstand und 50 Kilometer Geschwindigkeitsunterschied überholt. Es gibt offenbar Menschen, für die ist jedes Bremsmanöver ein Stück Sterben.

Vielleicht ist das auch eine Reaktion auf die allgegenwärtige Verlangsamung, dass es manche nun auf Fuß- und Radwegen drauf ankommen lassen; nach dem Motto: Wenn es die anderen stört, werden sie schon Platz machen. Der Unterschied zum SUV-Beispiel ist freilich, dass man sich auch selbst einem erhöhten Risiko aussetzt. Menschen mit ungebremster Wucht nahe zu kommen, wird in Zukunft zunehmend als rüde empfunden werden. Und nicht alle werden mit einem Achselzucken reagieren. Nicht, weil sie Mimosen wären, sondern weil sie ihre Sinne angesichts realer Risiken neu justiert haben.

Gestern habe ich übrigens Freunde nicht erkannt, die mir auf dem Fahrrad im Wald entgegenkamen. Ich war so darauf fixiert, am äußersten Rand des Weges zu fahren. Auch die Sehgewohnheiten ändern sich. Wie wird sich das verändern, wenn demnächst alle Masken tragen und man einander nur noch mit Mühe erkennt?

Was wird es künftig bedeuten, einen Blick für andere Menschen zu haben?

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