Immer wieder haben sich in der Kirchengeschichte Menschen zurückgezogen, um sich zu sammeln. Viele zieht es zumindest zeitweise an solche stillen Orte. Aber Stille ist vor allem eine Sache des Herzens, die vom äußeren Rahmen nicht unbedingt abhängt. Wer sie gefunden hat, wird nicht mehr von allen möglichen Reizen hin- und hergerissen. Wer diese aufmerksame Ruhe kennt, fühlt sich auch nicht mehr leer und einsam.
Aber meistens schwanken wir uns zwischen diesen Polen von Einsamkeit und gefasster Stille. Und das innere Gleichgewicht können wir nur bedingt beeinflussen. Alles spirituelle Leben beginnt mit dieser Achtsamkeit, mit der wir auf die Stimmen aus uns selbst hören. Oft gehen wir mit unseren Fragen ratsuchend zu anderen, um Antworten zu bekommen. Aber manchmal müssen wir lernen, erst einmal uns selbst wirklich wahrzunehmen und unsere tiefsten Wünsche und Sehnsüchte richtig kennen zu lernen.
In der Verwandlung von Einsamkeit in Stille beginnen wir, die Stimme unserer Berufung zu hören. Unsere Fragen, Anliegen und Probleme müssen diesem Test ausgesetzt werden, um zu reifen, wie Rilke schrieb:
Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.
In der Stille werden wir für uns selbst gegenwärtig und beginnen, wirklich im hier und jetzt zu leben. Das war auch die Erfahrung von Thomas Merton: Die Stille öffnete ihn erst für andere. Jenseits aller Unterschiede verbindet uns die Tatsache, dass wir Gott gehören, mit allen anderen Menschen – und mit Gott selbst, der Mensch geworden ist um unseretwillen. Menschliche Sorgen und Kummer erscheinen in einem anderen Licht. Wir sind uns die Stille also auch um der anderen willen schuldig. Denn ohne sie erleben wir andere nicht als von uns selbst verschieden, als eigenständige Wesen, sondern nur als Verlängerung unseres Ego, die der Erfüllung unserer (verborgenen?) Wünsche dient.
Das Mysterium der Liebe ist, dass sie das Alleinsein des anderen achtet und ihm den Raum lässt, aus seiner Einsamkeit in eine schließlich gemeinsame Stille zu finden. Dann entdecken wir die Gegenwart Christi in der Gegenwart des anderen – auf diesem “heiligen Boden” entsteht wahre Gemeinschaft. Solche tiefen Begegnungen erweitern die Kapazität unserer Stille, so dass daraus wieder mehr Raum für Gemeinschaft mit anderen entsteht. Für diese Art von Freundschaft spielt dann auch die räumliche Nähe nur noch eine untergeordnete Rolle. Manchmal fühlt man sich anderen sogar näher, wenn sie abwesend sind.
Gemeinsames Leben kann eine große Freude sein, aber nur, wenn es nicht zum Selbstzweck wird, aus dem wir unseren Wert und unsere Zufriedenheit beziehen. Wenn Besuche und Anrufe nötig sind, um die Panik der Einsamkeit fern zu halten, sind wir Opfer unseres Jammerns geworden. Freundschaft und Gemeinschaft sind nicht planbar, machbar und können nicht eingefordert werden, aber wenn wir uns – auch inmitten quälender Einsamkeit – innerlich dafür bereit machen, werden sie uns vielleicht geschenkt.
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