Allein im Advent

Als die Welt im März die Begriffe „Lockdown“ und „Social Distancing“ lernte, erschien im Fair Observer ein Artikel von Kate Bracht über Hannah Arendt. Der Inhalt hat auch in der zweiten Welle nichts an Aktualität verloren. Für den nun beginnenenden Advent wurden die Beschränkungen gerade verlängert. Weihnachtsmärkte und Geselligkeit an Glühweinständen fallen aus. Die Stille und Leere sind wir nicht gewohnt. Kann Hannah Arendt uns dafür einen Leitfaden geben?

Arendt unterscheidet in „Origins of Totalitarianism“ zwischen Isolation, Einsamkeit (loneliness) und Alleinsein (solitude). Letzteres könnte man vielleicht auch mit „Stille“ übersetzen, um den Unterschied zur Einsamkeit deutlicher zu machen.

Photo by Kristina Tripkovic on Unsplash

Isolation und Einsamkeit wirken sich destruktiv aus auf Menschen. Isolation entsteht, wenn Tyrannen Angst und Misstrauen verbreiten, so dass Bürger nicht mehr zusammenfinden, um sich für eine bessere Gesellschaft stark zu machen. Donald Trumps unablässige Diskreditierung der US-Wahlen ist nur das jüngste Beispiel für diese Strategie.

Einsamkeit entsteht, wenn eine Person Feindseligkeiten ausgesetzt ist oder es ihr nicht gelingt, von sich aus Verbindung zu anderen aufzunehmen. Das ist eine existenzielle Notlage. Und sie hatte schon Mitte des 20. Jahrhunderts epidemische Ausmaße erreicht.

Im Alleinsein steckt Potenzial

Überraschenderweise ist nicht Geselligkeit, sondern das Alleinsein für Hannah Arendt die Arznei gegen Einsamkeit und Isolation. Das Selbst ist zwar physisch allein, aber es leistet sich selbst Gesellschaft und vergegenwärtigt sich die Welt – und ist damit gerade nicht von ihr abgeschnitten, isoliert oder verlassen. Im Alleinsein entsteht der Raum zum Denken, das immer eine Art fruchtbares Selbstgespräch ist und dessen Ertrag dann ins Gespräch mit anderen einfließen kann. Ohne die Kunst des Alleinseins verflacht auch die Konversation.

Gedanken- und Gewissenlosigkeit gehören für Arendt eng zusammen. Insofern ist die Stille auch der Ort, wo sich das Gewissen melden kann und der moralische Kompass sich neu justieren lässt. Und weil Alleinsein uns auch schöpferisch und erfinderisch macht, liegt hier die Quelle zur Erneuerung der Welt, des Gemeinwesens und des öffentlichen Lebens. Ohne stetige Erneuerung – das haben die letzten Jahre bewiesen – erodieren Institutionen und stabilisierende Selbstverständlichkeiten mit der Zeit.

Erwartung kultivieren

Jetzt im Advent, wo die Tage kurz und die Nächte kalt werden, könnten wir das Alleinsein kultivieren. Wir könnten uns im Warten und in der Erwartung üben. Nicht nur der Erwartung, dass ein Impfstoff und die Frühjahrssonne die ersehnte Corona-Wende bringen und alles wieder wird wie früher. Es wäre zu wenig, nur etwas Auszusitzen. Es geht um so viel mehr. Kate Bracht schreibt dazu:

Our world is sorely in need of renewal, but renewal most likely won’t come from the top. It will come from below, in the everyday choices made by individuals. Ultimately, what solitude restores is the capacity for beginning, the ability to bring something new into the world. For Arendt, this capacity to bring something unique into a world needing renewal is a gift each of us receives at birth. For her, it constitutes a sort of miracle and is a source of faith and hope.

Kate Bracht im „Fair Observer“

Da wir schon bei Glaube und Hoffnung sind: Wenn wir das Alleinsein als ein Alleinsein im Angesicht Gottes verstehen, finden wir einen zusätzlichen Anreiz, die Stille zu suchen. Und gibt es einen stärkeren Gegensatz zum dauertweetenden Lügenpräsidenten, der sich pausenlos Nachrichten über sich selbst ansieht, oder zu den dauerempörten Querdenkern, deren Erregungsspirale keine Unterbrechung duldet?

Ganz ähnliche Gedanken wie Hannah Arendt kenne ich von Henri Nouwen. In seinem Klassiker „Reaching Out“ beschreibt er unter anderem das Potenzial in der Bewegung von der Einsamkeit zur Stille. Hier, hier und hier habe ich einiges davon zusammengefasst.

In diesem Sinne – einen nachdenklichen, empfänglichen und schöpferischen Advent Euch allen!

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