Uli Eggers stellt in seinem einleitenden Artikel zum „Dossier Homosexualität“ im aktuellen Heft von „Aufatmen“ die entscheidende Frage: „Sind wir im wissenschaftlichen und theologischen Gespräch auf Stand und kennen die Argumente anderer Christen, die unsere Sicht nicht teilen? Haben wir tragende Antworten, die auch noch für unsere Kinder nachvollziehbar sind?“ Ich fühle mich zwar in keiner Hinsicht als Fachmann, fand gleichwohl, die Argumente anders Denkender hätten ruhig ausführlicher dargestellt werden können. Um diese selbst zu referieren, muss ich mich erst noch weiter einlesen, daher hier einstweilen ein weiterer prüfender Blick auf die Argumentation des Dossiers selbst.
Ich habe mich letzte Woche mit der Frage befasst, welche Gültigkeit die Vorschriften aus Levitikus 18-20 für uns heute haben und bin dabei auf größere Schwierigkeiten in der Anwendung gestoßen (zur jüdischen Auslegung des Gesetzes habe ich übrigens heute diesen Bericht in der taz gefunden). Anstatt nun weiter ins Neue Testament zu gehen, möchte ich zurück ins Buch Genesis. Denn beim Lesen in den Beiträgen des Dossiers hatte ich das Empfinden, dass der tiefere, eigentliche Grund für die negative Sicht von Homosexualität darin liegt, wie die Schöpfungsgeschichte hier verstanden wird. Was Paulus dann in Römer 1 und 1. Korinther 6 schreibt, kommt nur noch erschwerend dazu.
1. Die These und ihre Implikationen
Die Logik, und ich hoffe, dass ich das nun skizziere, aber nicht karikiere, ist folgende: Gott hat die Menschen als Mann und Frau geschaffen und sie dazu bestimmt, sein Ebenbild zu sein. Markus Hofmann schreibt in seinem Beitrag (S. 51) unter Verweis auf Johannes Paul II, die Gemeinschaft von Mann und Frau sei „die höchste Offenbarung des ebenbildlichen Seins und Existierens des Menschen, die Gott von Anfang an gemeint hat.“ Und Christoph Raedel (S. 61): „Die Gottebenbildlichkeit des Menschen verwirklicht sich im Aufeinander-Bezogen-Sein des männlichen und weiblichen Geschlechts.“
Mann- und Frausein wird hier komplementär verstanden. Männer als Männer (und Männer unter Männern) beziehungsweise Frauen als Frauen (und Frauen unter Frauen) sind also nur eine eingeschränkte Form von Ebenbild. Um Gott vollkommen widerzuspiegeln müssen Mann und Frau zusammenkommen – die (so verstanden ja buchstäblich „heilige“) Familie. Und was würde diese These schöner belegen als die Tatsache, dass zur Zeugung neuen Lebens Vater und Mutter gebraucht werden?
Das ist auf den ersten Blick ein sehr ansprechender Gedanke, weil er mit der Komplementarität auch die Parität der Geschlechter zu betonen scheint: Männer und Frauen brauchen einander, Kinder brauchen zur gesunden Entwicklung auch beide Bezugspersonen. Allzu patriarchalische Thesen lassen sich damit widerlegen, eheliche Treue wird dagegen geadelt.
Die unvermeidliche Konsequenz im Blick auf Homosexualität lautet dann freilich, dass dieses Verhalten (das von der Neigung konsequent unterschieden wird) das Bild Gottes im Menschen verdunkelt oder entstellt. Das wird gegebenenfalls dadurch leicht relativiert, indem man hinzufügt, das sei auch nicht schlimmer als andere Dinge wie … – und dann kann man beliebige andere Tat- und Unterlassungssünden einsetzen, an die wir uns ein bisschen zu sehr gewöhnt haben. Es bleiben also aus dieser Sicht nur die schon beschriebenen zwei legitimen (Aus-)Wege: Eine Veränderung der Neigung bzw. sexuellen Orientierung (und damit die Rückkehr zum biblischen Urbild) oder ein enthaltsames Leben als Single.
2. Die Aporien dieser These
Aus zwei Gründen erscheint mir diese Argumentation unbefriedigend:
Erstens wird uns im Neuen Testament unisono Christus als „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ vor Augen gestellt. Wäre die Komplementaritätslogik im Blick auf Genesis 1 richtig, hätte Gott dann nicht als Ehepaar in die Welt kommen müssen?
Dass die katholische Theologie, die hier Maria immer noch ins Spiel bringen (oder sich zumindest gut sichtbar an der Seitenlinie der Gotteslehre warmlaufen lassen) kann, den Gedanken der Komplementarität nicht ganz aufgibt, mag diese Spannung noch lindern. Ebenbildlichkeit ist aber streng christologisch zu verstehen. Als Evangelischer hat man nun die Wahl, ob man sagt, Gott ist eben doch eher männlich – und dann greift man vielleicht auf das antike Paradigma vom Mann als dem aktiven und der Frau als dem passiven Part zurück und sagt, im Blick auf Gott (etwa als actus purus) sind wir ja alle passiv, „weiblich“, die „Braut“ aus der Offenbarung des Johannes und dem Brief an die Epheser (was – noch weiter gedacht – sofort die Frage aufwirft, ob solche Redeweisen von Braut, Hochzeit, ehelicher Liebe und Treue am Ende gar implizieren, dass zwischen Gott und Menschheit ein solch komplementäres Verhältnis besteht, in dem einer – problematisch wird der Gedanke im Blick auf Gott – ohne den anderen nicht „vollständig“ ist).
Oder – und das läge mir jetzt viel näher – man sagt eben, Gott steht jenseits all dessen, was menschliche Geschlechtlichkeit ausmacht. Er ist auch mehr als nur die komplementäre Einheit der Unterschiede (als ginge es um eine Art Yin und Yang). Der Gott, der sich in Christus offenbart, kann sich in einem Mann genauso wie in einer Frau widerspiegeln und natürlich erst recht in seiner Kirche aus vielen Männern und vielen Frauen – aber diese Unterscheidung erscheint nie allein, sondern sie wird (etwa in Galater 3,28) durch soziale (Sklaven/Freie) und ethnische (Juden/Griechen) Kategorien eingerahmt, die damals in der Regel ebenfalls durch qua Geburt galten. Was wiederum zeigt, dass es sich hier um Geschlechterrollen handelt und diese nicht als biologisches, sondern als kulturelles Phänomen begriffen werden. Die körperlichen Unterschiede bleiben ja bestehen.
So würde sich zweitens auch leichter erklären, warum Jesus im Blick auf die kommende Welt (oder die „Ewigkeit“) die Ehe relativiert und – das wird in diesem Zusammenhang oft vergessen – natürlich nicht zur Flucht aus der Ehe oder Untreue ermuntert, aber die damals so mächtigen Familienbande zugunsten der Nachfolge relativiert und zölibatäres Leben als gleichwertige Option der Lebensgestaltung unter Gottes Verheißung verstanden wird.
Es spricht also alles dafür, dass Gott sich auch für Jesus im einzelnen Menschen wie auch in der Gesamtheit des Gottesvolkes widerspiegelt, Ehe und Familie dagegen keine eigene, darüber hinaus gehende „Offenbarungsqualität“ besitzen. Sonst wäre ja zu erwarten, dass sich dieses Element verstärkt, wenn Gottes Herrschaft in ihrer ganzen Fülle kommt. Zudem wäre die oben erwähnte Aufforderung zum zölibatären Leben ja auch nur eine sehr unbefriedigende Lösung für den Fall, dass heterosexuelles Empfinden fehlt. Die geforderte Ergänzung bleibt ja in jedem Fall aus. Und selbst wenn es so wäre – ergibt sich daraus denn zwingend der Schluss, dass eine Partnerschaft unter Männern oder unter Frauen, anders als der bewusste Verzicht, das Ideal der Ergänzung noch viel umfassender untergräbt oder verfehlt?
3. Ein Blick in die Urgeschichte
In der Regel wird die biblische Urgeschichte heute als Antwort Israels auf altorientalische Schöpfungsmythen wie das Gilgamesch-Epos verstanden, die deren Projektionen entlarven und die Götterwelt entzaubern (die interessanterweise aus männlichen und weiblichen Göttern besteht, die einander begehren, betrügen oder bekriegen). Mein Eindruck ist, dass Homosexualität hier gar nicht in den Blick kommt, auch nicht in Abgrenzung gegen das Heidentum. Vielleicht aber sehen wir eine Distanzierung vom sexualisierten Gottesbild der Nachbarvölker. Die erste biblische Erzählung hat einen sehr universalen Horizont, die zweite spiegelt die Lebenswelt des Ackerbauern wider. Sowohl in Genesis 1 als auch in Kapitel 2 treffen wir auf die grundlegende Dualität der Geschlechter. Im ersten Kapitel wird festgehalten, dass die Menschheit aus Mann und Frau besteht:
Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.
Geschlechtlichkeit als biologische Gegebenheit ist etwas, das wir Menschen mit den Tieren (die ja im Kapitel 7 auch paarweise in die Arche kommen) gemeinsam haben, aber eben nicht mit Gott. In puncto Ebenbildlichkeit steht der Mensch hier nämlich im Singular. Will man aus diesen Sätzen eine Kritik homosexueller Beziehungen ableiten, dann müsste man aus Sicht von Gen 1 wohl das Argument der fehlenden Fruchtbarkeit anführen. Nur ist es heute ja so, dass wir zwar das Leid unwillentlicher Kinderlosigkeit achten, es aber nicht mehr als einen lebensmindernden Fluch begreifen. Die meisten Christen haben zudem einen pragmatischen Umgang mit Empfängnisverhütung gefunden.
In Genesis 2,20-24 wird etwas mehr über Mann und Frau gesagt, der Text wird ja bei jeder Trauung vorgelesen:
Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht. (21) Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. (22) Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. (23) Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen. (24) Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.
Der Aspekt Fruchtbarkeit wird hier gar nicht thematisiert, sondern die Frage des passenden Gegenübers. Interessanterweise wird „passend“ hier ausdrücklich im Sinne von „Ähnlichkeit“ verstanden und nicht im Sinne komplementärer Differenz – denken wir nur an Luthers Übersetzung „Männin“. Beim Mann/Menschen dagegen wird das Bedürfnis nach einer intimen Bindung hervorgehoben. Intimität ist im Vergleich zur Sexualität der tiefere, umfassendere und dauerhaftere Antrieb im Menschen. Wir müssen also Sexualität von Intimität her denken, nicht umgekehrt – von der Sehnsucht also, sich einem Gegenüber in der Tiefe zu offenbaren und mitzuteilen, sich zu verschenken und von einem anderen beschenken zu lassen. Das hat nun für mein Empfinden weder etwas spezifisch Männliches noch typisch Weibliches, sondern Männer und Frauen sind sich darin ja gerade gleich.
Dass hier nur von Mann und Frau die Rede ist, kann man nun entweder deskriptiv verstehen – Menschen gibt es nun einmal als Männer und Frauen und der statistische „Normalfall“ (wer wollte das bestreiten?) bleibt natürlich die heterosexuelle Paarbeziehung – oder aber präskriptiv als Ordnung, als das einzig gewollte und erwünschte Muster. Das aber, so scheint mir, ist eine Entscheidung des Auslegers und wohl auch seines kulturell geprägten Vorverständnisses.
Ach ja, in den Kommentaren bitte wieder beim Thema bleiben und Diffamierungen aller Art meiden…