Vom Fels zum Treibsand und zurück

In Kriegszeiten zerfällt die Welt in Freunde und Feinde, Helden und Feiglinge. Wer sich nicht sofort und eindeutig auf eine Seite schlägt, gerät in Verdacht, ein Verräter zu sein. Verräter werden „ausgespuckt wie eine Mücke, die einem in den Mund geflogen ist“, drohte jüngst Wladimir Putin allen, die seinen Vernichtungskrieg nicht unterstützen und seine Propaganda anzweifeln. 

Freilich gibt es auch in Friedenszeiten solche Erlebnisse: Ich vertraue jemandem, und der lässt mich hängen oder fällt mir in den Rücken. Unter Freunden ist das ganz besonders bitter. Berühmt ist die Klage von Martin Luther King über das Schweigen der Freunde.

Nun ist Petrus nicht der typische Verräter: Er lässt sich nicht kaufen, er schleicht sich nicht ins Vertrauen. Als Jesus verhaftet wird, zieht er sogar das Schwert und will kämpfen – was Helden halt so tun. Jesus stoppt ihn und lässt sich widerstandslos abführen. Petrus schleicht hinterher. Am Feuer im Hof des Hohepriesters wird er erkannt und angesprochen. Er streitet er ab, irgendetwas mit diesem ohnmächtigen, gar nicht heldenhaft-souveränen Jesus zu tun zu haben. Danach versteckt er sich wie die anderen Jünger. Den Weg zum Kreuz geht er nicht mehr mit. 

Petrus, der Fels, ist zu Treibsand zerbröselt. Simone Weil, die große Mystikerin und Aktivistin, hat über diese Szene geschrieben: „Man stirbt für das, was stark, nicht für das, was schwach ist, oder zumindest für etwas, das in seiner augenblicklichen Schwachheit einen verklärenden Glanz der Stärke bewahrt. Zu sterben für das, was stark ist, nimmt dem Tod seine Bitterkeit. Und, gleichzeitig, seinen ganzen Wert.“

Wenige Tage nach Ostern ist Petrus wieder dort, wo alles anfing mit Jesus, am See Genezareth. Der Auferstandene erwartet seine Jünger, früh am Morgen. Er hat Feuer gemacht und Fisch gebraten. Petrus erkennt ihn vom Boot aus, stürzt sich ins Wasser und schwimmt ans Ufer.

Nach dem Frühstück sagte Jesus zu Simon Petrus: 
»Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als irgendein anderer hier?«
Er antwortete ihm: »Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.«
Da sagte Jesus zu ihm: »Sorge für meine Lämmer!«
Dann fragte er ihn ein zweites Mal: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?«
Petrus antwortete: »Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe!«
Da sagte Jesus zu ihm: »Führe meine Schafe zur Weide!«
Zum dritten Mal fragte er ihn: »Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb?«
Da wurde Petrus traurig, weil er ihn zum dritten Mal gefragt hatte: »Hast du mich lieb?«
Er sagte zu Jesus: »Herr, du weißt alles! Du weißt, dass ich dich lieb habe!«
Da sagte Jesus zu ihm: »Sorge für meine Schafe!
(Joh 21,15-17)

„Nach dem Frühstück“ – als erstes gibt Jesus dem Verräter etwas zu essen. Und einen Platz am wärmenden Feuer. Am Feuer hat Petrus ihn verleugnet; nun sitzen sie hier gemeinsam mit den anderen.

Aber die beiden haben sich noch nicht ausgesprochen. All die Scham über Petrus’ Versagen ist noch da. Da fragt ihn Jesus: „Liebst du mich mehr als irgendein anderer hier?“ Mehr als alle anderen, so redet der übermotivierte Petrus von früher. Der Petrus von heute hört die Anspielung auf seine Fallhöhe heraus und antwortet: „Du weißt, dass ich dich lieb habe“. Mehr als – das kommt ihm nicht über die Lippen. Das heroische Pathos ist weg. „Zu Christus sagen: ich werde dir treu bleiben, hieß schon, ihn verleugnen; denn es hieß annehmen, der Urquell der Treue entspringe in einem selbst und nicht in der Gnade,“ schreibt Simone Weil.

Aber es geht auch für Jesus in diesem Gespräch um etwas Wichtiges. Seine Frage an Petrus ist: Ich habe dir vergeben, aber kann ich mich auf dich verlassen? Er hört die Einsicht in der Antwort des Petrus und sagt: „Sorge für meine Lämmer“ – führe das weiter, was ich begonnen habe.

Jesus fragt Petrus noch einmal, ob er ihn liebt. Und ein drittes Mal. Spätestens jetzt begreift Petrus, dass Jesus um die dreimalige Verlegung weiß. Und ihm schon vergeben hat, bevor er darum bitten konnte. Er antwortet: „Herr, du weißt alles! Du weißt, dass ich dich lieb habe!“

Sinngemäß fragt Jesus: Liebst du mich, auch wenn ich dich durchschaue und an deinen schwärzesten Moment erinnere? Denn nur so bist du bereit, dein Leben einzusetzen – nicht für trügerische Stärke, sondern für schwache Menschen, wie du selbst einer bist. Wenn dein Verrat diese Selbsterkenntnis bewirkt hat, dann trennt er uns nicht mehr, sondern schweißt uns zusammen.

An der Via Appia in Rom gibt es eine kleine Marienkirche Santa Maria in Palmis, die durch den Roman (und später Film) „Quo Vadis“ bekannt wurde. Im Fußboden der Kirche ist altes römisches Straßenpflaster zu sehen und auf einem hervorgehobenen Marmorblock zwei Fußabdrücke. Der Legende nach stammen sie von Jesus, der an dieser Stelle dem Petrus begegnete. Der war gerade dabei, vor dem drohenden Martyrium davonzulaufen, aber dann machte er kehrt und folgte Jesus zurück in die Stadt.

Als ich letzte Woche dort stand, fielen mir die folgenden Worte von Brian McLaren wieder ein:

Am meisten zählt unser Ja, wenn wir ungerechte Behandlung statt Lob erfahren für unsere Mühen. Deshalb ist das Thema des Leidens für gute Taten so zentral in allen unseren spirituellen Traditionen.
Ja zu sagen zum Tun des Guten und dann ignoriert zu werden, Ja zu sagen zum Tun des Richtigen und dann missverstanden und kritisiert zu werden, Ja zu sagen zum Handeln aus Liebe und dann geschmäht und sogar gekreuzigt zu werden – das ist das Terrain, auf das wir eines Tages alle eingeladen werden.
Das ist das Ja des nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.
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