Gewaltlosigkeit – eine Zwischenbilanz

Sascha Lobo nimmt ja selten ein Blatt vor den Mund, und letzte Woche war der „Lumpen-Pazifismus“ an der Reihe. Exemplarisch wurde ein Statement des Friedensbeauftragten der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer, und ein taz-Interview der Friedensforscherin Véronique Dudouet kritisiert. Realitätsfern, selbstgerecht, gefühlskalt sei das.

Ich hatte beides gelesen und war bei Kramer über den Widerspruch gestolpert, dass er der Ukraine zwar das Recht auf Selbstverteidigung einräumt, Waffenlieferungen jedoch strikt ablehnt. Wenn die Ukrainer das wollen und dürfen, dann ist m.E. auch die Unterstützung vertretbar.

Dudouet referiert die gängigen Begründungen für gewaltfreien Widerstand. Die Beispiele, die sie bringt, sind bekannt, aber einen Kommentar zum Scheitern der friedlichen Opposition in Syrien oder Belarus (für mich die naheliegendsten Vergleichspunkte zur Ukraine) vermisse ich auch hier. Das war ja schon vor 6 Wochen meine Frage.

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Auch eine Ikone der Gewaltlosigkeit nimmt Lobo aufs Korn – Mahatma Gandhi. Der hatte 1938 den Juden in Deutschland geraten, Hitler gewaltlos entgegenzutreten und ihn durch Mut und Integrität umzustimmen. Nicht nur Lobo hat mit Gandhis Dogmatismus hier Mühe, sondern auch Martin Buber, der dem Grundgedanken der Gewaltfreiheit nicht abgeneigt war. Er schätzte nur die Situation besser ein: Da war ein skrupelloser Diktator zum Genozid fest entschlossen. Buber schrieb an Gandhi, aber seine Einwände blieben – ganz untypisch für Gandhi – unbeantwortet, wie Jyotirmaya Sharma dem ORF erklärt (Nachtrag: Vielleicht war Gandhi ja auch ein genialer Praktiker, der seine Theorie oder prinzipiellen Aussagen dann etwas überdehnte?).

Die Streitfrage zwischen Buber und Gandhi, zwischen Lobo und Kramer/Dudouet lautet also, ob Gewaltfreiheit immer und unter allen Umständen der beste Weg ist. Dass sie in den meisten Fällen einem bewaffneten Kampf vorzuziehen ist, ist damit gar nicht bestritten. Ebenfalls steht nicht in Frage, dass es für einen echten Frieden mehr braucht als einen militärischen Erfolg. Und keinesfalls kann es darum gehen, einen Krieg religiös zu bemänteln, wie das Patriarch Kirill gerade tut, oder Kriegsschiffe mit Reliquien auszurüsten.

Etliche Stimmen haben in den letzten Wochen darauf hingewiesen, dass die meisten von uns den Einsatz von Polizeigewalt gegenüber Bullies und Gangstern für gerechtfertigt halten. Gegen Rechte und Querdenker hätten sich viele ein robusteres Eingreifen zum Schutz der demokratischen Institutionen gewünscht. Und jetzt stehen wir vor der Frage, ob das für die Staatengemeinschaft nicht in ähnlicher Weise gilt. Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ermittelt ja schon. Nur fehlt dem die Polizei, die das Morden stoppt und die Schuldigen festsetzt.

Um diese Fragen hat sich nach dem 11. September 2001 die Diskussion zwischen Katholiken und Mennoniten in den USA gedreht. „Just Policing“ war das Stichwort, um das das Gespräch kreiste. Der Mennonit Gerald W. Schlabach hielt dazu fest: „Just as Mennonites must now contemplate a historic reversal to their rejection of governmental responsibilities, the concept of just policing would require Catholics to contemplate an equivalent transformation in political theology and pastoral practice.“

Auf der anderen Seite wissen wir alle, dass Polizeigewalt eben auch schnell aus dem Ruder laufen kann. Wir Deutschen sind da notorisch schlecht in der Aufarbeitung. Und die EU hat ein Riesenproblem mit Frontex. Das ist das bleibende Wahrheitsmoment des Pazifismus: Auch gerechtfertigte, legitime Gewalt verändert die, die sie ausüben. Gesunde Hemmungen werden herabgesetzt, und indem es den Täter mit dessen Mitteln bekämpft, wird das Opfer ihm in gewisser Weise ähnlich.

Es ist gefährlich, einen gerechten Krieg zu gewinnen. Mit der Erinnerung, dass wir „die Guten“ waren, lässt sich der nächste, nicht mehr ganz so gerechte Krieg viel leichter vom Zaun brechen. An den Siegermächte des Zweiten Weltkrieges lässt sich das gut ablesen, die Spur reicht von Vietnam bis in den Irak. Russland, das sich als Siegermacht im Osten sieht, hat 2016 den Internationalen Strafgerichtshof verlassen. Aber auch die USA und Israel haben den Vertrag bisher nicht unterzeichnet – zusammen mit Pakistan, Indien, China, Iran und der Türkei.

Auch wenn wir uns über die Waffenlieferungen an die Ukraine nicht einigen werden, wäre das ja eine Frage, die alle angeht: Wie helfen wir den derzeitigen Kriegsparteien – vor allem natürlich der Ukraine – die Wunden der erlittenen Gewalt zu heilen und die Folgen der verübten Gewalt konstruktiv und gründlich zu verarbeiten? Welche Fähigkeiten sind gefragt, welche institutionellen Rahmenbedigungen werden wir dafür brauchen, und wie können wirdas jetzt schon auf den Weg bringen?

In Kürze dann wieder weiter mit Judith Butler. Vielleicht hat sie uns zu dieser Frage noch etwas zu sagen.

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3 Antworten auf „Gewaltlosigkeit – eine Zwischenbilanz“

  1. Ich nehme meine Gedanken von Facebook mal hier auf den Blog:
    anke für die wie immer gut reflektierten und dabei lesbaren Gedanken.
    Ich muss leider kurz Abnerden, weil ich mich viel mit Just Policing beschäftigt habe:
    2014 In Heidelberg war dieser Ansatz im systematischen Proseminar zur Frage „Gibt es einen Gerechten Krieg?“ – (so hieß es, ohne jegliche Würdigung des friedensethischen Prozesses der Evangelischen Kirche in Baden, der da schon auf Hochtouren lief) noch zu links außen.
    Meine Proseminarbeit zum Thema wurde grade so angenommen.
    Bei Anabaptist Mennonite Biblical Seminary hatte ich 2018 dann einen Kurs zu Soziologie & Theologie, wo wir uns als Fallbeispiel die Polizei als „Macht“ (im Winkschen Sinne: gut geschaffen, gefallen und erlösungsbedürftig) ansahen. Wir redeten mit dem örtlichen Polizeichef (dessen Vorgesetzter gerade wegen eines krassen Falls von Polizeigewalt im Gewahrsam seinen Job räumen musste) und lasen neben soziologischen Texten auch Kritiken aus der Black Lives Matter Bewegung und Quellen von christlichen Polizeiseelsorgern. Und eben auch Texte aus der Just Policing Debatte ansahen.
    Angesichts der veränderten Debattenlage und des höheren Bewusstseins für die endemische Polizeigewalt, deren Verhalten in den Vierteln der Armen eher einer Invasionsarmee ähnelte, klang es sehr seltsam wie idealisierend da von einer „polizeilichen Logik“ gesprochen wurde, die so ganz anders sei, als die militärische.
    Auch Schlabach (der übrigens nach eigener Aussage mennonitisch-katholisch ist, aber definitiv katholisch wiedergetauft) betont derzeit vielmehr die andere Seite seines Arguments, nämlich, dass alle Christenmenschen der normativen Gewaltfreiheit in ihrem Leben Gestalt geben müssen.
    Ich finde es immer wieder spannend bis seltsam, dass in der deutschen Rezeption Schlabach hauptsächlich gegen die „radikal-pazifistische“ Haltung gelesen wird. Unter den Tisch fällt natürlich dabei, dass es gerade „radikal-pazifistische“ Gruppen sind, die Initiativen wie Community Peacemaker Teams oder Nonviolent Peaceforce initiieren, um gewaltfreie Wege der Sicherheit zu entwickeln und mit ihrem Leben für die Sicherheit anderer eintreten.

    PS: Übrigens ist Schlabach auch ein Fan einer zivilen Verteidigungsstrategie und fordert sogar die Kirche(n) sollten hier mutig selbst vorangehen:
    „Until governments invest in the strategies and institutions of civilian-based defense, and thus commit to a process of transarmament, the Church should explore doing nothing less than developing a transnational, nonviolent army or peace force of its own.“ Just Policing, S.429
    PPS: Kennst du John Paul Lederach? Sein Buch Moral Imagination ist m.E. immer noch einer der besten Texte zu den Fragen, wie inmitten von Krieg Frieden wachsen kann.
    Das Stichwort einer Vorstellungskraft, die sich eine Zukunft vorstellen kann, in der die Wunden verheilen, und dann fragt, was können wir jetzt tun, um diese Zukunft möglich zu machen.

    1. Kirchliche Peace Force wäre sicher eine gute Idee. Danke für die Anmerkungen zum Just Policing. Verrückt, dass das zu links erscheinen konnte.
      Lederach kenne ich nicht, wäre aber wohl einen Blick wert, so wie Du es beschreibst. Das liegt auch auf der Linie von Daniels Kommentar, scheint mir.

  2. Beim Lesen des letzten Absatzes kam mir der Gedanke, dass es ja etablierte Systeme gibt, um nach Kriegsende Wiederaufbau zu betreiben. Fabriken, Wasser, Strom… da gibt es Experten zum Wiederaufbau. Für eine dauerhafte „Schadensbehebung“ ist aber auch und gerade Versöhnungsarbeit zwischen beiden Konfliktparteien notwendig, damit Wunden heilen und zukünftige Kriege vermieden werden können. Hierfür gibt es noch keine „Schnelle Eingreiftruppe“ o. ä. und eine solche zu schaffen könnte eine gute Idee sein.

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