Newbigin (15) Das Evangelium und die Kulturen

Nur indem wir treue Teilnehmer einer supranationalen, multikulturellen Familie von Kirchen sind, finden wir die Mittel, um unsere Kulturen treu zu erhalten und zu pflegen und ihnen zugleich treue Kritiker zu sein. (S. 197)

Religiöser und kultureller Pluralismus sind verschiedene Dinge, auch wenn sie gelegentlich verwechselt werden. Gunrdsätzlich können Religionen aber multikulturell sein. Das beginnt mit der Sprache. Im Unterschied zum Islam, der darauf besteht, dass der Koran offiziell auf Arabisch zu lesen ist, steht an der Wiege des Christentums das Sprachwunder von Pfingsten – mit weit reichenden theologischen Implikationen.

Doch das Bekenntnis zur kulturellen Pluralität führt sofort zu der Frage, ob alle Elemente einer Kultur damit gut geheißen werden, etwa das Kastensystem in Indien oder Polygamie in Afrika. Oft war die Kritik der Missionare an diesen Strukturen mehr in der europäisch-individualistischen Kultur begründet als im Evangelium. Das bedeutet andererseits nicht, dass keine Veränderung nötig wäre.

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Der Afrika-Missionar Ronald Wynne hatte sich für seine Missionsarbeit in Botswana acht Jahre in die Stammeskultur eingelebt, bis er zu ersten Mal von Jesus sprach. Dann aber war es ihm und seinen Hörern klar, dass diese Botschaft das gesamte Leben des Stammes der Hambukushu verändern würde, und so geschah es auch. Im Unterschied dazu hatten Missionare, die auf die Bekehrung einzelner setzten, nur ein sehr oberflächliches Christentum bewirkt.

Ich war kürzlich in einer Veranstaltung, wo ein Missionar auf Heimatbesuch aus Afrika anmerkte, wie er erstaunt herausfand, dass befreundete afrikanische Christen, wenn es um eine schwierige Entscheidung ging und obwohl sich aufrichtige, ernsthafte Christen waren, sich bei der Entscheidung von der traditionell afrikanischen Denkweise leiten ließen. Ihm schien gar nicht bewusst zu sein, dass dasselbe ganz offenkundig auch auf englische und amerikanische Christen zutraf. Der einzelne hatte das Evangelium angenommen, aber die Kultur war nicht bekehrt worden. Oder, um es genauer zu sagen, ein Teil des Menschen war bekehrt, aber nicht die ganze Person. (S. 189)

Es gibt aber keine “reine”, kulturell völlig neutrale und damit “körperlose” Form des Evangeliums. Oft ist es erst die zweite oder dritte Generation von Christen, die kritisch über das Evangelium und seine Bedeutung für die eigene Kultur nachdenken. Die Missionsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte ist voller Brüche und überraschender Wendungen: Im neunzehnten Jahrhundert brachten die Missionare den Frauen im Südpazifik bei, sich mehr zu bekleiden. Dann wurden sie dafür im Westen kritisiert, während viele Frauen dort den Wandel als einen Gewinn an Würde empfanden. Heute stören sich die Christen im Südpazifischen Raum an der schlechten oder fehlenden Kleidung westlicher Touristen.

Im Westen haben die Umbrüche inzwischen zu einer Art Kulturpessimismus geführt. Die Frage ist nun, ob und wie uns das Evangelium hilft, ein kritisches Verhältnis zur im Zusammenbruch begriffenen westlichen Aufklärungskultur zu finden. Natürlich sind die biblischen Überlieferungen auch von der jeweiligen Kultur geprägt, ebenso wie die Jesusbilder der Kirchengeschichte. Aber das Evangelium ist mehr als bloß das Produkt dieser Prozesse. Im Dialog der unterschiedlichen kulturellen und geschichtlichen Perspektiven gilt es zurückzufragen nach dem Mann, von dem die Evangelien berichten, der eben nicht irgend eine gesichtslose, austauschbare Figur ist. Dann gelingt auch eine lebendigere Wahrnehmung. Auch diese Pluralität ist im Kanon der Bibel schon angelegt, weil es vier unterschiedliche Evangelien gibt und das im Christentum (anders als im Islam) auch nicht als Problem betrachtet wird.

Christen leben bewusst sowohl in der jeweiligen Kultur als auch in der biblischen Tradition. Das Kreuz steht für den Widerstand und die Auflehnung menschlicher Kulturen gegen Gott und seinen Messias, beziehungsweise für Gottes Gericht über dieselben. Die Auferweckung Christi steht für Gottes festen Willen zur Erhaltung und Neuschöpfung der Welt – und der Kulturen. Christen werden je nach Situation das eine oder das andere betonen, ohne das andere aus dem Auge zu verlieren. Im ersten Weltkrieg waren fast alle Christen Europas dem Nationalismus erlegen. Im zweiten Weltkrieg wiederholte sich dieser Fehler nicht im selben Maß und unmittelbar nach Kriegsende arbeitete man beim Wiederaufbau Europas zusammen.

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