Ein Hauch von Ewigkeit

Ich bin normal keiner, der behauptet, Glaube sei Privatsache. Seit gestern habe ich für diese Ansicht aber etwas mehr Verständnis. Und das kam so: Ich saß im ICE nach Berlin und ein paar Reihen weiter bemerkte ich eine Gruppe grauer Häupter. Stimmen drangen an mein Ohr, die sich mit erkenbar österreichischem Einschlag über Paulus und Kulturgeschichte, das Patriarchat, die Sünde und einen frühen Bischof von Passau unterhielten. Kommt nicht oft vor. Meistens bekommt man nur einseitige Telefonate über den Krause vom Controlling und das vergessene Exposé für den Kunden in Düsseldorf mit.

Hinter Jena, der Zug schlängelte sich das Saaletal hinab, wurde aus der alpenländischen Konversation plötzlich ein Sprechchor. Die Gruppe hatte an zwei benachbarten Vierertischen Platz genommen und begann ein liturgisches Gebet – nun sehr deutlich zu vernehmen. Die anderen Gespräche im Abteil kamen zum Erliegen (viele waren es eh nicht), meine Mitreisenden verstöpselten flugs die freien Ohren.

Ich konzentrierte mich auf mein Buch über positive Psychologie und dachte in meinem frisch angelesenen Optimismus, das geht bestimmt schnell vorbei. Man war ja auch schon über das Sündenbekenntnis hinaus bis zum Vaterunser vorgedrungen, was der Hoffnung auf ein nahes Ende Auftrieb gab. Aber dann kam ein Art Endlosschleife aus Ave Marias und anderen Elementen (bestimmt kann uns ein Katholik hier mit Erklärungen zur Liturgie weiterhelfen?). Wir anderen rutschten noch etwas tiefer in unsere Sitze, während die liebe Gottesmutter zum x-ten Male daran erinnert wurde, uns in der Todesstunde ja nicht zu vergessen.

Ich weiß nicht, wie das auf Maria wirkte – für meinen Teil werde ich ihre Fans so schnell nicht vergessen. Kurz überlegte ich, ob ich mich in diesem Fall vergessen und die Litanei unterbrechen dürfte, entschloss mich dann aber, das wie alle anderen mit buddhistischer Gleichmut zu erdulden und den allmählich aufkeimenden Wunsch auf eine Vorverlegung der erwähnten Todesstunde entschieden zurückzuweisen. Es ging schätzungsweise noch so ein Viertelstündchen dahin, gefühlte Ewigkeiten (aber ist das nicht der Clou am Beten, dass wir ans Ewige rühren?). Kurz vor Leipzig (das war offenbar geplant) erklang das finale, erlösende Amen.

Ich habe für die Rückfahrt eine Platzreservierung im Ruhebereich. Während ich dies niederschreibe, hält mein Zug in Wittenberg. Und ich weiß wieder ein bisschen besser, was ich an Luther mag: Sein Abendsegen ist so herrlich kurz. Und er gilt auch, wenn man ihn ganz leise sagt…

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5 Antworten auf „Ein Hauch von Ewigkeit“

  1. bestimmt kann uns ein Katholik hier mit Erklärungen zur Liturgie weiterhelfen?

    Ich denke, sie haben den Rosenkranz gebetet.
    Das Grundgebet des Rosenkranzes lautet:
    „Gegrüßet seist du, Maria,
    voll der Gnade, der Herr ist mit dir. (Lk 1,28)
    Du bist gebenedeit unter den Frauen
    und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. (Lk 1,42)
    [hier folgen wechselnd Aussagen aus dem Evangelium, etwa: Jesus, der für uns gekreuzigt worden ist.]
    Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder
    jetzt und in der Stunde unseres Todes.

    Deiner Beschreibung nach dürfte es um ein gemeinsames Rosenkranzgebet gehandelt haben.

  2. Hmm…da ich vorhin auch noch im ICE saß: Ich dachte immer, im Ruhebereich seien auch Notebooks etc. verboten?!?! (Oder hast du etwa handschriftlich notiert? ;-))

  3. Das lange Gebet lag sicher an der Fahrweise des Schaffners. 😉 Oder man hat sich tatsächlich einfach durch das katholische Diasporaland beten müssen.

  4. Vielleicht handelte es sich auch um einen ausgeschriebenen Wettbewerb der Erzdioezese Fulda:
    ‚Wie schaffen wir es mit einem verbalen Zeugnis am besten dem Rest der Mitmenschen, der noch nicht der kath. Skandale wegen allem Religiösen den Rücken gekehrt hat, den christlichen Glauben so unattraktiv wie möglich zu machen?

    Eine gelungene Aktion. Übrigens köstlich die ironischen Anmerkungen.

  5. Naja, Rosenkranzgebet mit Schuldbekenntnis? Zwar möglich, aber ungewöhnlich (ist auch keine Liturgie, sondern Meditation). Früher war das üblich, es auf einem Spaziergang zu beten oder so. Aber gut, die Zeiten ändern sich, heute wird stattdessen laut Musik gehört oder Zen-Meditation geübt 😀

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