Die Macht der Netze

Wie spannend Sozialforschung sein kann, zeigt ein Artikel des Spiegel: Übergewicht, Depressionen oder Alkoholismus verbreiten sich über Beziehungsnetze, irgendwie ja auch passend zum 15. Geburtstag des Internets:

„Soziale Netze haben die Fähigkeit zu verstärken, was in ihnen ausgesät wird“, sagt der Soziologe. Oft ist für einen Übersprung von Mensch zu Mensch ein direkter Kontakt gar nicht vonnöten. „Es genügt, dass der Freund meines Freundes dick wird“, erklärt Christakis. „Auch wenn ich gar keinen Umgang mit ihm habe – ich registriere, dass meine Freunde ihn seiner Fettsucht wegen nicht missachten. Und dieser Umstand verändert mein soziales Netz.“

Die Forscher stießen immer wieder auf Überträger, die selbst nicht dick wurden, nicht tranken oder dem Trübsinn verfielen – und doch verbreiteten sie die jeweiligen Verhaltensmuster. Ein Netz ist eben mehr als die Summe seiner Einzelbeziehungen.

Die Autoren vermuten, dass sich Religionen ähnlich verbreiteten. Einerseits mag das für viele nichts Neues sein. Wichtig aber ist die Bedeutung, die hier den etwas oberflächlicheren Bekanntschaften (statt den ganz engen Freundschaften oder der Intimität der Kernfamilie) zugemessen wird. Wenn man die wenigen ganz tiefen Beziehungen weg nimmt, leidet das Netz kaum. Fazit der Forscher:

Es sind vor allem die mittelguten Bekanntschaften, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Sie sorgen für den Austausch zwischen Kleingruppen aller Art, die sonst isoliert wären.

Und Nicholas Christakis formuliert es so:

Ob jemand trinkt oder nicht, hängt weniger von seiner Zugehörigkeit zu einem sozialen Typ oder zu einer Schicht ab als vielmehr von seinen Freunden und deren Freunden. Also: nicht arme Menschen trinken, sondern vernetzte Gruppen von Menschen trinken.

Bevor jetzt vielleicht mal wieder allzu eilig missionarische Anwendungen daraus gestrickt werden: Vielleicht sollten wir aufhören, andere Nationen als oberflächlich zu bezeichnen, weil sie weniger tiefe, aber mehr oberflächliche Kontakte pflegen, und lieber von ihnen lernen: Wie Briten mit jedem Small Talk hinbekommen, wie Italiener feiern, wie Amerikaner einen nach einer Begegnung als Freund bezeichnen.

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2 Antworten auf „Die Macht der Netze“

  1. Sehr interessent – bei Joe Myers bekommt der Bereich der „sozialen Kontakte“ (oder hier: mittelgute Bekanntschaften) ja auch viel positivere Attribute als bei denen, die persönliche und intime Beziehungen gerade auch in Glaubensdingen als das Nonplusultra ansehen. Bei ihm sind sie auch gerade deswegen wichtig, weil sie zur eigenen Identitätsbildung beitragen, weil ich in diesen Bekanntschaften noch einmal ganz anders und verkürzt über mich selbst sprechen muss als dass bei engeren Kontakten der Fall ist.

    Dass aber das Netz kaum leidet, wenn man die tiefen Beziehungen weg nimmt, geht ja noch darüber hinaus und ist echt interessant. Wobei ich denke, dass allerdings doch die einzelnen im Netz auf Dauer leiden dürften – und das wiederum prägt dann doch auch das Klima des großen Ganzen, oder?

  2. Klar – der einzelne leidet, aber das Netz bleibt intakt und davon profitiert dann der einzelne. Das heißt, so lange er über sein soziales Netz nicht zum Säufer oder Nazi wird…

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