Krokodilstränen

Es war nicht das erste Mal: Herr A. hatte eine Entscheidung getroffen, die ihm selbst Vorteile verschaffte, jedoch für Frau B. unangenehme Konsequenzen hatte; er hatte dabei großzügig darauf verzichtet, sie zu informieren, geschweige denn einzubinden. Als er sich mit ihren – moderaten, aber engagierten – Protesten und Unmutsbezeugungen konfrontiert sah, kehrte er erst seinen höheren Rang heraus, um kurz darauf eine halbherzige Entschuldigung nachzuschieben – dafür, dass die Form vielleicht nicht so ganz vollendet gewesen war.

Es tue ihm leid, hieß es in bestem Günther-Oettinger-Gedächtnis-Sprech, wenn sich andere von seinem Vorgehen verletzt fühlten. Aber um der gemeinsamen Sache willen müsse man nun doch bitte wieder nach vorne schauen und friedlich zusammenarbeiten. Ein Termin wurde für eine Aussprache anberaumt. Die Differenzen wurden besprochen. Frau B. musste verreisen, daher fertigte Herr A. ein für ihn ebenso stimmiges wie schmeichelhaftes Gedächtnisprotokoll an, dass er – die Zeit drängte ja – ohne Rücksprache an die gemeinsamen Vorgesetzten versandte. Frau B. widersprach Tage später der einseitigen Darstellung, doch ihr Einspruch verhallte weitgehend ungehört. Der oberste Chef sandte eine Mail in die Runde, dass man sich angesichts großer Chancen auf dem Markt im Augenblick nun wirklich keinen solchen Streit leisten könne, wie Frau B ihn gerade anzettele.

Frau B. zog die Konsequenz und kündigte. Herr A. bedauerte, dass jemand offenbar persönliche Empfindsamkeiten über das gemeinsame Projekt zu stellen bereit war. Der oberste Chef wies alle Beteiligten an, eine gemeinsame Erklärung zum Wechsel in der Abteilung zu verfassen. Herr A. und der Chef brachten sie zu Papier und Frau B. erfuhr aus der Hauspost davon. Frau B. monierte, Herr A. entschuldigte sich – wieder mal.

Als ich Frau B. so zuhörte, dachte ich: Mich erinnert das an den prügelnden Ehemann, der nach der Tat verkatert und zerknirscht auf seine Frau einredet, ihn nicht zu verlassen oder anzuzeigen. Beide wissen jedoch genau, dass er irgendwann wieder einen über den Durst trinkt und wieder ausrastet. Wenn „Vergebung“ nicht nur ein Deckmäntelchen sein soll, unter dem die alten hässlichen Muster von Machtmissbrauch fortbestehen können, dann muss man so wie Frau B. handeln und die Konsequenzen ziehen – und sich aus dem Machtbereich dessen lösen, der zu keiner konstruktiven Veränderung willens ist.

Denn vor (!!) der Aufforderung, siebzig mal siebenmal zu vergeben, steht in Matthäus 18 die Anweisung, andere für ihr Fehlverhalten zur Rede zu stellen und notfalls den Personenkreis zu erweitern, wenn der Konflikt nicht gelöst wird. Im schlimmsten Fall bricht man den Kontakt dann sogar ab. Das ist keine Anleitung zum frommen Mobbing und moralischem Pranger, sondern es sind sinnvolle Maßnahmen zum Schutz von Opfern vor übergriffigem Verhalten. Im besten Fall wird Versöhnung zu einem späteren Zeitpunkt möglich. Bei Frau B. wird sich Herr A. nun nicht mehr entschuldigen müssen. Das hat sie fürsorglich so eingerichtet. Ob er ihr dafür eines Tages danken wird?

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Solche und solche Beweise

Gottes Existenz kann von menschlichem Denken nie überprüft werden. All unsere Beweise sind nur Demonstrationen unseres Dursts nach ihm. Braucht der Durstige einen Nachweis seines Durstes?

Abraham Heschel, Man is not alone, 94

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Feurig beten

Es brennt im US-Bundesstaat Colorado, Zehntausende werden evakuiert, mein Facebook-Feed ist voller Gebetsaufrufe. Und ich bin innerlich gespalten. Freilich will ich nicht, dass irgendwem Schaden an Leib und Leben widerfährt, dass Menschen Hab und Gut verlieren und die Ökosysteme der großartigen Natur großflächig zerstört werden.

Zugleich steckt da aber auch dieser Gedanke im Hinterkopf: Die USA sind maßgeblich verantwortlich für die Verschwendung fossiler Brennstoffe, einen Immensen Ausstoß an Treibhausgasen und eine Verschleppung der weltweiten Bemühungen zur Verhinderung einer wahrscheinlichen Klimakatastrophe. Und Amerika denkt erfahrungsgemäß nur dann (und auch dann nur vielleicht…) um, wenn die Katastrophe zuhause einschlägt.

Wenn diese Feuer {verschwindend klein, wie diese Hoffnung auch sein mag) zu einem Umdenken und nachhaltigen Bewusstseinswandel führen, dann würden sie für viele Menschen in der Zukunft unter Umständen Gutes bewirken, überall auf der Welt. Das schmälert das Leid der Betroffenen nicht, aber die wohnen wenigstens in einem wohlhabenden Land.

Geht hingegen alles noch glimpflich ab, dann wacht davon niemand auf, alles geht weiter wie bisher und wenn die nächsten Brände, Fluten oder Stürme in irgendeiner abgelegenen und armen Region eintreten, rüttelt das auch niemanden mehr auf.

So. Was wollte ich jetzt eigentlich genau beten?

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Nichts für schwache Nerven (2)

Ich habe vor Kurzem schon ein paar Eindrücke von den kontemplativen Exerzitien hier zusammengestellt, die sich im Wesentlichen auf die erste Hälfte der Zeit dort bezogen. Am fünften Tag war ich innerlich so richtig angekommen. Sorgen und Geschäftigkeit waren in den Hintergrund gerückt, die Nervosität über die Zumutung des Stillhaltens hatte sich gelegt, allmählich ging eine große Tür nach innen auf, nicht nur zu mir selbst, sondern auch zu Gott.

Rückblickend finde ich es bemerkenswert, dass alle sich wesentlichen Begegnungen und Einblicke tatsächlich in der kleinen, meist von Sonnenlicht durchfluteten Kapelle abspielten, und nicht wenn ich allein Spazieren war im Wald oder in meinem schlicht eingerichteten Zimmer. Vielleicht liegt es daran, dass selbst in Zeiten der Stille die Anwesenheit anderer mich wundersam trägt und öffnet für Gott?

Dieser fünfte Tag begann mit einem kleinen Pfingsterlebnis, ausgelöst von der gemeinsam gesprochenen Schlussdoxologie des Vaterunsers, die in der Stille plötzlich wie ein Allegro furioso zu klingen schien und mir die Verheißungen Matthäus 6 von den Lilien auf dem Feld und den Vögeln am Himmel in Erinnerung rief, deren Schlussakkord der Aufruf bildet, zuerst nach dem Reich Gottes zu trachten: Sorglosigkeit und Konzentration auf das eine Große und Verborgene, was Gott in dieser Welt tut. Es sprudelte wie ein artesischer Brunnen aus dem Untergrund heraus, ganz klar und frisch. Ich war überrascht und überwältigt – so fröhlich hatte ich mir das Ganze gar nicht vorgestellt.

Die Freude blieb bis zuletzt und sie ist eigentlich immer noch da. Aber aus diesem Getragensein heraus wurde es möglich, dass ich mich in den nächsten zwei, drei Tagen so ehrlich und intensiv wie noch nie mit Fragen beschäftigen konnte, die mir bis dahin zu angstbesetzt und bedrohlich schienen. Manchmal musste ich meinen ganzen Mut zusammenkratzen, aber es wurde, trotz gelegentlichen Schauderns am inneren Abgrund, mit jedem Schritt leichter, weil ich spürte, wie das Wasser unter meinen Füßen (ich wechsle die Metapher, aber so fühlte es sich an) mich tatsächlich trug. Und am Ende sah ich nicht nur besser, was sich da im Schatten verborgen hatte, sondern ich verstand auch Lebensmuster, die mir bis dahin immer Rätsel aufgegeben hatten. Und zwar just in dem Moment, wo ich weder etwas rechtfertigen musste noch kapieren und erklären wollte. Eher war es ein Aha-Erlebnis, wie man es hat, wenn man aufhört damit, sich krampfhaft an einen vergessenen Namen zu erinnern, und dann ist er scheinbar mühelos ganz urplötzlich da.

In dieser Zeit und an diesem Ort der Stille wartete Gott geduldig auf mich. Und als ich da war und sich keine anderen Stimmen mehr einmischten, führte er mich ganz behutsam und mit einer Weisheit, die eben nur er hat, in die Tiefe und die Freiheit. Völlig ohne Druck und Zwang, nie ohne meine Einwilligung, aber in einer unglaublichen Intensität und manchmal mit atemberaubendem Tempo. Und nach den zehn Tagen im geschützten Rahmen war das alles nicht vorbei. Die Quelle sprudelt weiter und ich spüre, wie sie meinen Alltag und die Beziehungen zu anderen Menschen weiter verändert. Vielleicht hat Gott (mancher wird das grundsätzlich bezweifeln, aber ich kann und will das auch gar nicht verklausuliert zurücknehmen – wenn es passiert, dann weiß man intuitiv, dass das keine der Stimmen aus dem eigenen Inneren war) in diesen Tagen insgesamt drei oder vier Sätze zu mir gesprochen. Aber bei ihm reicht eben schon ein Wort und „meine Seele wird gesund“.

Es ist ohne Übertreibung das Beste, was ich in den letzten zehn Jahren erlebt habe. Aber wirklich nichts für schwache Nerven.

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„Predigt“ die Kleidung mit?

In regelmäßigen Abständen gerate ich in Diskussionen über liturgische Gewänder. Dort begegnen mir die unterschiedlichsten Argumentationen (meist pro, selten contra): Psychologische (der Amtsträger „fühlt“ sich anders und wird anders wahrgenommen), ästhetische (das Gewand verweist auf die Dimension der Heiligkeit und Transzendenz eines Gottesdienstes) und pragmatische (wenigstens gibt es keine Diskussion über andere Formen von Dresscode und Uniformierung, wie man sie z.T. in Freikirchen vorfindet). Bei besonderen Anlässen erwarten zudem gerade die kirchenfernen Gäste einer Taufe oder Hochzeit, dass um der Festlichkeit willen alles ganz „klassisch“ aussieht.

Alles gute Argumente. Wer will (oder wer keine Wahl hat…), kann das auch gern so handhaben. Warum ich trotzdem keinen Talar tragen will, liegt an einer Information, die ich ausgerechnet vom Leiter eines Prädikantenkurses bekam: Liturgische Gewänder gibt es im Christentum erst seit der konstantinischen Wende, und damals waren sie der Amtstracht römischer Staatsdiener nachempfunden bzw. angepasst. In der Neuzeit waren es dann wieder die Staatsbeamten wir Professoren und Richter, an denen man sich orientierte.

Freilich, richtig verstanden könnte das Signal nur bedeuten, dass man eine höhere Macht repräsentiert und nicht diesen konkreten Staat. Aber den obrigkeitlichen Charakter bekommt man m.E. nicht ganz weg. Und der ist für mich das falsche Signal.

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Eins noch…

Vor einer ganzen Weile hat mich meine Frau darauf aufmerksam gemacht, dass ich auf die Phrase „ich bete noch“ oder „lasst und noch beten“ doch nach Möglichkeit verzichten sollte. Ich bin ihr dafür sehr dankbar: Das kleine und eigentlich überflüssige „noch“ wertet das Gebet ab zu einer Art Anhängsel oder Lückenfüller, oder einer Pflichtübung, die man halt auch noch abhaken muss. Dabei ist es ein einem christlichen Gottesdienst doch das Eigentliche, dass man mit Gott redet und auf ihn hört. Der Rest (Musik, Predigt und andere Dinge) ist das Beiwerk, dass auch noch da sein kann, aber nicht muss.

Die Wirkung des Lernens ist aber auch die, dass es mir jetzt so richtig auffällt, wenn andere „noch“ und „Beten“ in einem Atemzug verwenden. Ich bin sicher, es ist nicht so gemeint, wie es klingt. Ich bin nicht ganz sicher, was genau eigentlich gemeint ist. Vielleicht ist es nur eine doofe Angewohnheit. Wie gut, wenn man dann freundlich von jemandem darauf angesprochen wird, damit man sich das noch abgewöhnen kann.

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Das größte Wagnis

Viele von uns sind bereit, sich auf jedes Abenteuer einzulassen, außer in die Stille zu gehen und zu warten, allen Reichtum der Weisheit in die Verborgenheit des Erdreichs zu legen, unsere eigene Seele zu säen als ein Samenkorn in dem Stück Land, das wir Zeit nennen, und das jedem Leben eingeräumt wird – und die Seele über sich selbst hinauswachsen zu lassen. Glaube ist die Frucht eines Saatkorns, das man in der Tiefe eines Menschenlebens pflanzt.

Abraham Heschel

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Retrocharismatiker

Mitte der 80er Jahre hatte die charismatische Bewegung ihren Zenit erreicht. Damals ahnte das keiner, alle schienen zu glauben, die Kurve würde immer weiter nach oben zeigen und die große Erweckung sei nur eine Frage der Zeit. Doch so weit ich sehe, stagniert die Entwicklung seither, zumindest in den traditionellen Kirchen. Pfingstgemeinden und ihre Verbände wachsen recht moderat weiter, und manches Element charismatischer Spiritualität (Segnung oder Gebet für Kranke mit Handauflegung, „Lobpreislieder“, Gabenorientierung im Gemeindebau, „innere Heilung“) ist zum Allgemeingut geworden, das man heute fast überall antrifft.

Die einst jugendlich-ungestümen Leiterrunden begannen zu ergrauen. Der Brite Gerald Coates schrieb zehn Jahre später etwas provokativ von der „postcharismatischen Depression“. Eine Trotzreaktion blieb aus. Um so spannender fand ich die Beobachtung, wie praktisch eine Generation später an manchen Stellen nun eine Art „Retro-Effekt“ auftritt. Nachdem sich Gruppen und Gemeinden die letzten 20 Jahre an diesem oder jenem Thema oder Projekt versucht hatten, gehen jetzt etliche wieder zurück zum Stil und den Inhalten von damals.

Freilich hat sich die Welt um uns her minimal verändert in dieser Zeit. Ist dieser Retro-Kurs also ein stylisches „Back to the Roots“ wie der Mini und der Cinquecento im Automobilbau, oder schon der Nostalgiezug in Richtung Museum?

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Das unbekannte Selbst

Die folgenden Worte sind – die Wendung erscheint gleich noch einmal – tatsächlich geborgt, aus „Man is not Alone“ von Abraham Heschel. Der Einfachheit halber habe ich sie diesmal übersetzt:

Nur wer von geborgten Worten lebt, glaubt an sein Vermögen, sich auszudrücken. Ein vernünftiger Mensch weiß, dass das Intrinsische, das Allerwesentlichste, nie ausgedrückt werden kann. Das meiste – und oft das Beste – was sich in uns abspielt, ist unser Geheimnis; wir müssen selbst damit fertig werden. (S. 4)

Alles, was wir über unser Selbst wissen, ist das, was es ausdrückt, aber das Selbst kommt nie völlig zum Ausdruck. Was wir sind, können wir gar nicht sagen; was wir werden, können wir nicht fassen. Es ist alles eine kryptische, vielsagende Metapher, die der Verstand vergeblich zu entschlüsseln sucht. Wie der brennende Busch steht das Selbst in Flammen, aber es wird nicht verzehrt. Es trägt mehr mit sich herum als nur Vernunft, es liegt in Wehen mit dem Unsagbaren. Der Mensch ist ein Bild, das irgendetwas bedeutet. Aber was? (S. 46)

Ich bin mit einem Willen ausgestattet, aber der Wille gehört mir nicht; ich bin mit Freiheit ausgestattet, aber diese Freiheit ist dem Willen auferlegt. Das Leben ist etwas, was meinen Leib besucht, eine transzendente Leihgabe; ich habe seinen Wert und Sinn weder geschaffen noch erfasst. Die Essenz dessen, was ich bin, gehört mir nicht. Ich bin, was ich nicht bin. (S. 47f.)

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Postmodernes Abendlied

When the calls and conversations
Accidents and accusations
Messages and misperceptions
Paralyze my mind

Busses, cars, and airplanes leaving
Burnin‘ fuel and gasoline and
And everyone is running and I
Come to find a refuge in the

Easy silence that you make for me
It’s okay when there’s nothing more to say to me
And the peaceful quiet you create for me
And the way you keep the world at bay for me

Dixie Chicks

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Ans Eingemachte

Es war auf dem Essener Bibeltag an Fronleichnam. Zwei Bibelarbeiten und ein Workshop lagen hinter mir, dazu etliche interessante Gespräche in den Pausen. Ich hatte viel geredet und da war sicher auch einiges dabei, das man kontrovers weiter diskutieren könnte. Während die einen schon mit dem Aufräumen begannen und die anderen noch dem Ausgang zustrebten, kam jemand mit besorgter Miene auf mich zu und es entspann sich das bis dahin intensivste Gespräch des Tages. Es ging theologisch ans Eingemachte:

„Kann man Christ sein und Fan des FC Bayern?“, lautete die ernste Frage, und die Antwort war im Tonfall meines Gegenübers auch schon mit gegeben. Der Moderator hatte mich zu Beginn als einen solchen geoutet. Unglücklicherweise, denn nun bekam ich, statt etwas Trost für die noch offenen Wunden der tragischen Finalniederlage, das gesamte Sündenregister des Vereins aus den letzten 30 Jahren präsentiert. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um ein paar markige Sprüche des jetzigen Präsidenten und die Tatsache, dass der Verein sein (redlich verdientes, nicht etwa geliehenes oder von Scheichs und Oligarchen zugeschossenes!) Geld nutzt, um gute Spieler zu verpflichten (die im Übrigen auch meist gern und freiwillig nach München gingen).

Es gibt exzellente Argumente gegen diese extrem selektive Wahrnehmung der zahlreichen Bayernhasser. Ich war am Schluss einfach zu müde, um sie alle aufzuzählen und es hätte auch nichts gebracht. Ich fand es nur bemerkenswert, was offenbar vom Tage übrig blieb. Immerhin lautet die Gretchenfrage nicht mehr: Darf ein Christ rauchen oder Bier trinken oder gar tanzen? Aber so schrecklich viel weiter sind wir nicht gekommen. Die Debatte, inwiefern man als Christ Investmentbanker sein kann oder bei Frontex arbeiten sollte, fände ich wesentlich gewinnbringender.

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Werktagsreden

Das Thema Integration hat mich die letzten beiden Tage intensiv beschäftigt. Gestern vormittag hörte ich Prof. Heiner Bielefeldt auf einer Veranstaltung im Rathaus über die Menschenrechte und deren Bedeutung für Integration in Europa reden, am Abend folgte eine Podiumsdiskussion zum Thema „Menschlichkeit im Rechtsstaat“, die von beiden großen Kirchen ausgerichtet wurde.

Leider war sie eher spärlich besucht, etwas 50-60 Leute hatten sich in der Markuskirche eingefunden. Eine Vertreterin der Stadt Erlangen, eine Beamtin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der frühere Vorsitzende des Erlanger Ausländer- und Integrationsbeirats, ein Vertreter des bayerischen Flüchtlingsrates.

Es begann etwas zäh. Die Menschenrechte als das verbindende Element von Menschlichkeit hätten der Debatte gut getan. So wiesen die Vertreterinnen der Behörden auf die geltende Rechtslage, nicht ohne sie kräftig schönzufärben als „in Recht gegossene Menschlichkeit“ – gemeint war das Grundrecht auf Asyl, das seit 1993 durch zahlreiche Bestimmungen eingeschränkt und ausgehebelt wird. Und freilich erscheint in dieser obrigkeitlichen Logik jeder, der – mit welcher Motivation auch immer – das Gesetz missachtet, als Vorbote von Anarchie und Chaos, die sattsam bekannte Dammbruch-Logik. Entsprechend entrüstet wurde auch die Kritik an konkreten Entscheidungen einzelner Beamtinnen zurückgewiesen.

Umgekehrt standen dann nur spärlich abgemilderte Vorwürfe sturen Kadavergehorsams im Raum. Erst mühsam entspann sich unter (zum Teil etwas weitschweifigen) Wortbeiträgen der rote Faden eines Konsenses, der die Politiker (insbesondere die aktuelle Regierungskoalition in München und Berlin) und deren bis zur Unmenschlichkeit restriktive Gesetzgebung als die eigentliche Ursache des Problems ausmachten, und am Ende konnte man zwischen den Zeilen auch bei den beiden Vertreterinnen der Behörden Kritik an der Rechtslage vernehmen und die damit verbundene Einsicht, dass geltendes Recht nicht immer gutes Recht im Sinne der Mitmenschlichkeit ist. Die aber, daran ließen die beiden Dekane keinen Zweifel, ist für Christen noch wichtiger als der Gehorsam gegenüber dem Rechtsstaat. Und so kam auch Kirchenasyl als letztes Mittel wieder ins Gespräch.

Die Hauptaufgabe bleibt jedoch die öffentliche Meinungsbildung. Am Vormittag hatte Prof. Bielefeld noch erläutert, das beste Mittel gegen diskriminierende Hate Speech sei more speech. Den Scharfmachern dürfen wir nicht das Feld überlassen. Ich habe hier in jüngster Zeit viel über das Schweigen gepostet, aber natürlich gilt auch hier: Alles hat seine Zeit und seinen Ort.

2013 wird gewählt – in Bayern und im Bund. Nur wenn unsere Innenminister und deren schwarze Parteifreunde an den Stammtischen nicht mehr billig punkten können, indem sie den harten Hund gegen Fremde herauskehren, wird der Weg frei für eine Neufassung des verstümmelten Asylrechts und zu Gesetzen, die Integration ernsthaft fördern und den Fremden nicht als Menschen zweiter Klasse behandeln.

Wir brauchen keine Sonntagsreden, sondern Werktagsreden, in denen möglichst viele möglichst klar Position beziehen zugunsten von mehr Mitmenschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen und Fremden. An diesem Gespräch können wir uns alle ab sofort ganz offensiv beteiligen!

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Psalm 23 als geistlicher Weg

Ich habe letzten Sonntag den unzähligen Interpretationen von Psalm 23 eine weitere hinzugefügt. Viele kennen den Text ja auswendig, und das heißt, man kann sich so auch jederzeit an den Worten und Bildern entlang hangeln und wieder an ein paar Dinge erinnern.

Es geht darin um die praktische Weisheit kontemplativer Spiritualität, sich eine möglichst unverstellte Wahrnehmung zu gestatten und das wertende Urteil möglichst lange auszusetzen – die Widersprüchlichkeit unserer Erfahrung zwischen grüner Aue und düsterer Schlucht nicht vorschnell zu bewerten (die Geschichte ist ja noch nicht abgeschlossen) oder mit irgendeinem theologischen oder psychologischen Bilanztrick ausgleichen zu wollen. Einfach mal seelenruhig am gedeckten Tisch zu sitzen – im Angesicht meiner inneren und äußeren Feinde (oder dem, was ich dafür halte).

Einen besseren Weg, um von einer unreifen Naivität zu einem reifen und robusten Gottvertrauen (der „zweiten Naivität“) zu finden, kenne ich nicht. Vielleicht inspiriert es ja den einen oder die andere.

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Wer seine „Nische“ nicht findet…

… ist vielleicht nicht am falschen Platz, sondern einfach nur ein Generalist: Jemand, der nicht die eine Sache ganz besonders gut kann, sondern der viele unterschiedliche Dinge kann und gern tut. Dem es schwer fallen würde, sich auf eines davon dauerhaft festzulegen, weil er meistens mehrere Bälle in der Luft hat. Jemand, der Monotonie scheut und die Vielfalt liebt.

Für jemand, der ein breites Profil hat, wird es nie passgenaue Lücken geben, keine maßgeschneiderten Stellenbeschreibungen. Er braucht ein weites Feld, auf dem er sich bewegen kann. In einer Welt der überwachten Planquadrate ist der Generalist immer am falschen Platz, immer etwas zu sperrig. In der Welt der Spezialisten wirkt der Generalist oft deplatziert, unzureichend angepasst, schwer vermittelbar. Einen sorgsam eingefriedeten „Platz“ wird er nie haben.

Aber in einer Welt, deren Existenz durch das Scheuklappenwesen und Fachidiotentum (Disclaimer: nicht jeder Spezialist ist ein Fachidiot, aber ein Generalist kann per Definitionen eben kaum zum Fachidioten werden) bedroht ist, weil niemand mehr das Detailwissen zu einem großen Bild zusammensetzen kann, weil wir zwar fast alles über jeden Baum wissen, aber uns jedes Verständnis von Wald abhanden gekommen ist, ist oder wird er vielleicht wichtiger, als viele denken?

Ich fühle mich nicht nur selbst als Generalist, sondern ich kenne auch noch eine Reihe anderer. Und das irritierende Gefühl, oft keine Nische zu haben oder zu finden, verbindet uns. Oder die nicht ganz unberechtigte Sorge, sich mit all den vielen Dingen zu verzetteln, ein viel zu unscharfes Profil in die Umgebung auszustrahlen. Stattdessen könnte es sich lohnen, mal auf die Chancen zu blicken, selber aktiv zu werden und nicht darauf zu warten, dass uns massgeschneiderte Jobs angeboten werden.

Kürzlich habe ich den Satz gelesen: Der Mensch ist ein Generalist. er kann alles, aber nichts gut. Das ist aus der Perspektive des Zoologen geschrieben. Aber ich freue mich immer, wenn ich glückliche Generalisten treffe. Da wird tatsächlich eine Qualität des Menschseins sichtbar, die man nicht überall antrifft.

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Wohin mit alten Zeitschriften?

Über die Jahre habe ich einiges geschrieben für diese und jene Zeitschrift. Bei mir zuhause stapeln sich Pappschuber mit alten Ausgaben, auf denen sich Staub ablagert. Diese Woche habe ich überlegt, ob ich das alles eigentlich aufheben soll. Ich habe die alten Sachen jahrelang nicht in die Hand gekommen. Kommt eines Tages der Zeitpunkt, wo das wieder interessant wird, vielleicht sogar wichtig?

Mit fällt auf, dass ich selbst kaum noch Zeitschriften lese. Bücher ja, Blogs gern; Zeitschriftenartikel dagegen sind in der Regel kürzer und oberflächlicher als Bücher, aber länger und weniger aktuell als Blogposts. Die einzige Ausnahme ist National Geographic, und das liegt an den großartigen Bildern wie an den vielfältigen Themen.

Also Schluss mit dem Sammeln und weg mit dem Altpapier? Eigentlich könnte ich etwas mehr Platz im Arbeitszimmer gut brauchen.

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