Retrocharismatiker

Mitte der 80er Jahre hatte die charismatische Bewegung ihren Zenit erreicht. Damals ahnte das keiner, alle schienen zu glauben, die Kurve würde immer weiter nach oben zeigen und die große Erweckung sei nur eine Frage der Zeit. Doch so weit ich sehe, stagniert die Entwicklung seither, zumindest in den traditionellen Kirchen. Pfingstgemeinden und ihre Verbände wachsen recht moderat weiter, und manches Element charismatischer Spiritualität (Segnung oder Gebet für Kranke mit Handauflegung, „Lobpreislieder“, Gabenorientierung im Gemeindebau, „innere Heilung“) ist zum Allgemeingut geworden, das man heute fast überall antrifft.

Die einst jugendlich-ungestümen Leiterrunden begannen zu ergrauen. Der Brite Gerald Coates schrieb zehn Jahre später etwas provokativ von der „postcharismatischen Depression“. Eine Trotzreaktion blieb aus. Um so spannender fand ich die Beobachtung, wie praktisch eine Generation später an manchen Stellen nun eine Art „Retro-Effekt“ auftritt. Nachdem sich Gruppen und Gemeinden die letzten 20 Jahre an diesem oder jenem Thema oder Projekt versucht hatten, gehen jetzt etliche wieder zurück zum Stil und den Inhalten von damals.

Freilich hat sich die Welt um uns her minimal verändert in dieser Zeit. Ist dieser Retro-Kurs also ein stylisches „Back to the Roots“ wie der Mini und der Cinquecento im Automobilbau, oder schon der Nostalgiezug in Richtung Museum?

Share

15 Antworten auf „Retrocharismatiker“

  1. Die Beobachtung finde ich sehr treffend – den letzten Satz aber richtig böse. Ich weiß gar nicht, warum ich darauf so ablehnend reagiere, aber ich finde, den Wunsch nach wirklicher Veränderung und den Versuch, in alten Formen etwas wiederzubeleben darf man nicht einfach in eine Stilecke abschieben.

  2. Oh, so war es gar nicht gemeint. Es gibt ja durchaus gelungene Kombinationen von alt und neu (das war der Verweis auf die Autos, freilich ist da nur das Äußere „retro“). Es kann aber eben auch das Signal sein, dass da eine Bewegung das Ende der Bewegung erlebt. Ob so neuer Schwung hineinkommt, wird sich ja irgendwann zeigen.

  3. Vielleicht ist der „Retro-Kurs“ weder „stylisches Back to the Roots“, noch „Nostalgiezug“, sondern einfach nur der Ausdruck von Sehnsucht nach Gott. Warum gleich einen Stempel aufdrücken?

  4. Mag sein. Die Frage ist für mich schon auch, ob man Gott lieber im Vertrauten sucht oder im Fremden. Vor allem, wenn man sich selbst als Erneuerungsbewegung versteht. Damit ist ja ein bestimmter Anspruch verbunden.

  5. @Peter:

    Zitat: „Pfingstgemeinden und ihre Verbände wachsen recht moderat weiter, und manches Element charismatischer Spiritualität (Segnung oder Gebet für Kranke mit Handauflegung, “Lobpreislieder”, Gabenorientierung im Gemeindebau, “innere Heilung”) ist zum Allgemeingut geworden, das man heute fast überall antrifft.“

    Deine Aussage verdeutlicht, dass diese Gemeinde in mehrfacher Weise „Frucht bringen“. In so weit ist doch alles in Ordnung. Nun ja, das Wachstum ist moderat, aber im Gegensatz dazu schrumpft eine Mehrzahl der Gemeinden anderer Denominationen – und zwar nicht nur aus demografischen Gründen.

    Du beschreibst ganz deutlich, was passiert, wenn sich eine Bewegung etabliert, wenn sie sich zur Ruhe setzt. Dieses Phänomen scheint eine richtige Gesetzmäßigkeit zu sein, quer durch alle Gemeinden und Kirchen: Rasant gestartet und weich im Sessel gelandet. Gibt es eine Medizin gegen dieses „Zur-Ruhe-setzen“?

  6. @Falk: Ja, so war es auch gemeint. Zur Frage nach der „Medizin“ habe ich mich an ein Gespräch mit Richard Rohr im letzten Jahr erinnert. Er hat schon in den 80ern darauf gedrängt, dass die charismatische Bewegung sich um die vielfältigen Fragen sozialer Gerechtigkeit kümmert und um die globalen Bedrohungen der Menschheit.
    So weit ich sehe, ist das nur in Einzelfällen geschehen. Hätte die ganze Bewegung sich darauf eingelassen, dann gäbe es schlicht keinen weichen Sessel, in den sie nun plumpsen könnte. Aber das Thema „Heil“ und „gelingendes Leben“ wird eben eher individualistisch interpretiert, wenn man sich die Buch- und Seminartitel anschaut.

  7. Es ist die Frage, ob eine Bewegung sich auf etwas einlassen kann, bzw. wie man eine Bewegung drängen kann, etwas zu tun.

    Dabei ist das Anliegen von Richard Rohr ein gutes. Man gerät dabei nur in die Gefahr, Kirche zu entgeistlichen. Nicht speziell bei Richard Rohr, außer den Erwähnungen bei dir kenne ich ihn eigentlich nicht. Aber wenn man beispielsweise in die großen Kirchen schaut, wo Diakonie einfach „outgesourct“ wurde, oder wo sich Kirche mit staatlichen Angeboten gemein macht und die dort Angestellten im Dienst nicht mit den Klienten beten dürfen, Seelsorge betreiben etc., dann macht sich die Kirche beliebig. Wenn man aber beides in gleichem Maß hat, den Heiligen Geist und den Drang zum Dienst am Nächsten, dann wäre es wahrscheinlich perfekt – und das würde das Aussehen und Auftreten von Gemeinden sehr verändern. Sozusagen berauben sich Gemeinden mit der Fokussierung auf das Eine ODER das Andere ihrer Grundlage und werden beliebig. Ein Kegelverein leistet dann wahrscheinlich u.U.mehr Sozialarbeit als eine Gemeinde.

  8. Hallo, also ich wüsste jetzt gar nicht wo ich uns einordnen sollte. Unser Hauskreis besteht aus Mitgliedern unterschiedlicher Kirchen (Ev. Landeskirchler, Katholiken, ehem. Baptisten, Christen ohne Zugehörigkeit zu einer Kirche). Wir orientieren uns an biblischen Aussagen und legen u.a. auch Hände auf und es zeigt Wirkung. Allerdings erheben wir die Geistesgaben nicht zur Pflicht bzw. Regel für irgendwen. Wer das möchte erfragt es, wer es praktizieren möchte praktiziert es. Wer das nicht möchte lässte es. Ist für beide Seiten offen und das auch mit sehr guten Ergebnissen. Habe gestern im Hauskreis mal das Thema Kontemplation angesprochen – war kaum bekannt. Eine von uns kannte zumindest den Begriff. Auf den Seiten von Jesus.de gibt es einen Buchvorschlag aber der spricht mich nicht wirklich an. Hat jemand einen guten Vorschlag. Ich würd mich da gerne mal intensiver auseinandersetzen und wenn ich davon überzeugt bin es in den Hauskreis tragen.
    Danke.

  9. Nachtrag: Herauszufinden ist für mich dabei ob das was man während der Anbetung und während desLobpreises tut, ob in Gruppen oder alleine, der Kontemplation nahe kommt oder evtl. Kontemplation ist.

  10. @ Peter: Ich verstehe deinen Punkt schon und auch deine Kritik, möchte aber den Blick auf die Herzen der Menschen richten. Ich glaube nicht, dass es für Gott die entscheidende Frage ist, wo wir ihn suchen, im Vertrauten oder Fremden, sondern dass wir ihn suchen.
    Mich schmerzt es einfach, wenn Christen sich gegenseitig bewerten und kritisch beäugen.

  11. @Martina: Ich finde, die Fragen sind legitim, auch und gerade unter Christen. Ich würde sie mir ja selbst auch so stellen oder wäre dankbar, wenn andere das tun. Antworten muss dann jeder selber geben, die nehme ich auch nicht vorweg. Aber zu viel der Harmonie nützt auch keinem.

  12. Ich glaub, ich bin auch ein Retro-Charismatiker. Nachdem ich vor 20 Jahren richtig tiefe Erfahrungen mit dem Heiligen Geist gemacht hab, schloß ich mich einer Pfingstgemeinde an, und nun bin ich nebenbei wieder in einer kleinen ökumenischen Gruppe und suche neu, das umzusetzen: Einfach mit Jesus gehen. Ganz eng. Freundschaften und gemeinsam anderen Menschen dienen. Gott kennen lernen und ihn bekannt machen. Einfache und menschenfreundliche Strukturen. Lobpreislieder, für die man keine Band braucht.

    Und, Karla: es war tief in mir drin, und wurde verschüttet von vielem: viel Verantwortung im Leben, Beruf, Schule der Kinder, Gemeinde-dienste…. und eigentlich kam es erst nach einer Zeit, in der ich mich mit Mystik und Komplementation beschäftigt habe, wieder zum Vorschein. Ich überlege, ob mir ein gutes „Einsteigerbuch“ für dich einfällt.

    Ich glaube auch, daß dieses „Jahr der Stille“ und danach die Aktion „Glaube am Montag“ uns wieder neu in diese Einfachheit, die die ersten Charismatiker hatten, zurückführen kann.

    Caro

  13. @Caro Ja, vielen Dank für Deine Bemühungen. Würde mich freuen – Dein Buchtip. Hab auch etwas im Internet gefunden aber es ist ja immer besser, wenn man etwas liest, mit dem Andere bereits gute Erfahrungen gemacht haben – eingängige, praxisnahe Literatur für den Normalo.

    Hier der Link den ich fand: http://www.dieweide.org/was-ist-weide/ausrichtung-des-weide-gebets-christlich-kontemplativ-charismatisch/ .
    Ich denke, dass wir derzeit einen Mix aus charismatisch und kontemplativ praktizieren – in der Gruppe und auch alleine – so wie es sich ergibt, bzw. der Heilige Geist das führt – also nicht die absolute, lauschende Stille. Stille wechselt mit Gesang, dieser kann in Sprachengesang wechseln oder in gesprochene Gebete oder zurück in eine längere Zeit der Stille … .

Kommentare sind geschlossen.