Jesus und die guten Manieren

Viele Jesusworte sind voller Anspielungen auf Geschichten aus der hebräischen Bibel. Zum Beispiel, wenn Jesus im Evangelium für den Sonntag morgen beim Ruf in die Nachfolge (Lukas 9) davon redet, dass man nicht zurückschauen darf, wenn man die Hand an den Pflug gelegt hat:

Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, daß ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.

Die Szene erinnert an diese Episode aus 1. Könige 19:

Als Elija von dort weggegangen war, traf er Elischa, den Sohn Schafats. Er war gerade mit zwölf Gespannen am Pflügen und er selbst pflügte mit dem zwölften. Im Vorbeigehen warf Elija seinen Mantel über ihn. Sogleich verließ Elischa die Rinder, eilte Elija nach und bat ihn: Lass mich noch meinem Vater und meiner Mutter den Abschiedskuss geben; dann werde ich dir folgen. Elija antwortete: Geh, aber komm dann zurück! Bedenke, was ich an dir getan habe.

Jesus wird mit derselben Bitte konfrontiert wie Elija: Darf ich mich von meiner Familie verabschieden? Seine Antwort mit dem scheinbar unvermittelten Verweis auf den Pflug zeigt, dass er diesen Zusammenhang herstellt. Wir können davon ausgehen, dass die meisten Zeugen dieses Dialogs die Anspielung verstanden haben. Und indem Jesus nun mit strengeren Forderungen antwortet als Elija, macht er damit vor allem deutlich, wer er ist: Nicht einfach ein weiterer Prophet in einer langen und guten Tradition, sondern einer wie keiner zuvor. Das müssen alle verstehen, die ihm nachfolgen wollen.

Also bedeutet Jesus nachzufolgen nicht in erster Linie, möglichst viele Leute vor den Kopf zu stoßen (auch wenn das dem einen oder anderen erstaunlich gut gelingt), sondern den Auftrag, in dem er unterwegs ist, radikal ernst zu nehmen. Höflichkeit und soziale Konventionen werden erst da zum Problem, wo sie das nicht mehr zulassen. Wer aber wirklich verstanden hat, wer Jesus ist, der lässt sich von ihnen auch nicht mehr aufhalten.

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Neue Wege

Der folgende Text ist bald 100 Jahre alt und stammt aus dem Subskriptionsprospekt des Almanachs „Der Blaue Reiter“. Franz Marc formuliert das Selbstverständnis der Herausgeber, und ich glaube, das muss man gar nicht groß kommentieren, es spricht auch ein Jahrhundert später für sich selbst:

Die Kunst geht heute Wege, von denen unsere Väter sich nichts träumen ließen; man steht vor den neuen Werken wie im Traum und hört die apokalyptischen Reiter in den Lüften; man fühlt eine künstlerische Spannung über ganz Europa, – überall winken neue Künstler sich zu: ein Blick, ein Händedruck genügt, um sich zu verstehen! Wir wissen, daß die Grundideen von dem, was heute gefühlt und geschaffen wird, schon vor uns bestanden haben und weisen mit Betonung darauf hin, daß sie in ihrem Wesen nicht neu sind; aber die Tatsache, daß neue Formen heute an allen Enden Europas hervorsprießen wie eine schöne, ungeahnte Saat, das muß verkündet werden und auf all die Stellen muß hingewiesen werden, wo Neues entsteht.

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Weisheit: Kann weniger mehr sein?

Im Laufe der letzten Jahre habe ich zwei Dinge beobachtet. Manche Details oder einzelne „Fakten“, die ich mal wusste, habe ich vergessen. Die Mathe-Hausaufgaben meiner Jungs erinnern mich schmerzlich daran, dass ich das in grauer Vorzeit mal richtig gut konnte. Gut, es ist auch neues Wissen dazugekommen (mein Englisch ist heute viel besser). Quantitativ gesehen könnte es aber trotzdem sein, dass ich tatsächlich „weniger“ weiß. Zum Glück kann man die Informationsdichte des internen Arbeitsspeichers nicht in Bytes messen.

Auf der anderen Seite gelingt es mit der Zeit aber besser, das vorhandene Wissen miteinander zu verknüpfen. Aus Fäden werden Netze, die etwas halten können und in denen Neues einen Platz finden kann. Dadurch wird es leichter, Dinge zu beurteilen und dabei zugleich differenziert zu bleiben. Qualitativ nützt mir mein Wissen mehr, oder ich weiß mehr damit anzufangen.

Weisheit, so gesehen, liegt nicht in der absoluten Anzahl der gespeicherten „Informationen“, sondern in der Fähigkeit, möglichst viele und möglichst vielfältige Beziehungen zwischen ihnen herzustellen. Oder wie Bernhard von Mutius in Die andere Intelligenz schreibt: „Nachzugehen wäre den dynamischen Relationen der Dinge, aufzuspüren wäre das »Dazwischen«, neu zu lernen wäre das In-Beziehungen-Denken.“

Manchmal merke ich, wie ich mit einem Kopf voller Fragmente durch die Gegend laufe und darauf warte, dass ich in dem scheinbaren Wirrwarr, von dem ich ahne, dass eine Ordnung existiert, ein Muster erkennen kann. Ab und zu gelingt das inzwischen auch.

Das sind freilich subjektive Empfindungen, und mancher treue Kritiker dieses Blogs wird jetzt mit der Versuchung ringen, mich vom Gegenteil zu überzeugen… 🙂

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