Wenn die Saat des Hasses aufgeht…

Heute erschien eine alarmierende Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur wachsenden Islam- und Fremdenfeindlichkeit der Deutschen. Zehn Prozent, darunter auch Gewerkschaftler und Kirchgänger, haben rechtsextreme Einstellungen und träumen vom „Führer mit harter Hand“. Tendenz: rasant steigend! Ist das nur linke Propaganda? Ich fürchte, nein.

Zeitgleich lese ich gerade diesen Bericht über die Rolle der Christen im Völkermord von Ruanda. Er beschreibt für die Lausanne Global Conversation nächste Woche in Kapstadt, wie es in den neunziger Jahren zu der Katastrophe kommen konnte, die rund eine Million Opfer forderte – und das im Musterland aller Afrika-Missionare! Die Gründe sind

  • ein verkürztes Evangelium, das die sozialen Verhältnisse ignorierte und damit zementierte
  • ein theoretischer Glaube, der das Alltagsleben nicht berührte
  • ein Kungeln der Kirchenfürsten mit den Machthabern (kolonial und postkolonial) statt prophetisch-kritischer Distanz, die Fehler aufdeckt und benennt.

Vielleicht sollten wir auch gleich die Lösungsvorschläge einprägen, die uns Antoine Rutayisire aus Kigali aus 16 Jahren Erfahrung nennt – sie drehen sich um die Wiederentdeckung des Evangeliums von der Versöhnung: Er bezeichnet jeder Form von Entfremdung (nicht nur unter Christen) als sündhaft und daher nicht hinnehmbar. Heilung wird möglich in der Identifikation mit Christus, dem leidenden Gottesknecht aus Jesaja 53. Damit werden – richtig verstanden – auch alte, konfliktträchtige Identitäten aufgehoben. Versöhnung wird zum Auftrag mit universaler Reichweite.

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Wer zählt im Zelt?

Die Teaparty-Bewegung, ein inhomogenes Aufbegehren der Rechten in den USA, droht die Republikanische Partei zu radikalisieren. Es droht das Ende der Volkspartei als Big-Tent-Phänomen, das in der Mitte der Gesellschaft verankert ist.

Etwas Ähnliches ereignet sich anscheinend gerade unter den US-Evangelikalen. Durch einen Post von Björn Wagner stieß ich auf diesen Artikel von Scot McKnight, der ötdlich frustriert den Rechtsruck einer offenen Bewegung mit durchaus progressiven Elementen zu einem strikten dogmatischen Calvinismus, dem euphemistisch als „complementarianism“ bezeichneten patriarchalischen Geschlechterverhältnis in Familie und Kirche, fundamentalistischem Bibelverständnis (Stichwort „inerrancy“) und Kreationismus, um die Liste der theologisch-kulturellen Grausamkeiten voll zu machen.

Symbolfigur dieser Machtergreifung ist für McKnight der Southern Baptist Al Mohler, der wurde unlängst von Christianity Today als Reformator beschrieben. Nicht mehr gefragt sind offenbar Denker wie J.I. Packer oder auch der Brite John Stott, der eine Schlüsselfigur der Lausanner Bewegung und des Manifests von Manila.

Die Ironie an der ganzen Geschichte ist aber auch, dass McKnight sich in letzter Zeit deutlich von emergenten Stimmen wie Brian McLaren distanzierte und seine evangelikalen Wurzeln betonte, die McLaren seiner Meinung nach aufgegeben hatte. Die Termini „emerging“ und „emergent“ erschienen ihm und anderen (wie meinem Freund Jason Clark) als zu unscharf, die Bewegung dahinter theologisch zu beliebig – und das ist sie in den USA zu einem nicht geringen Teil auch. Wobei man bei McKnights ernüchterndem Ausblick ahnt, warum das Schlagwort a new kind of christianity auch als Abgrenzungsbegriff existiert.

Nur wandelt sich die Heimat just in dem Moment, wo McKnight sich dezidiert zu ihr bekennt, unversehens zur Fremde. Vielleicht hat Brian McLaren – der ja von Rechtsevangelikalen sehr vehement angegangen wurde – nur früher und deutlicher gesehen, wohin der Hase läuft, und dass der Begriff evangelical trotz aller Rettungsversuche auf Jahre hinaus ebenso verbrannt ist wie emergent?

Am Sonntag beginnt in Kapstadt der große Weltkongress der Lausanner Bewegung. Vielleicht schaffen es die 4.000 Delegierten, viele aus dem globalen Süden, ja noch, das große Zelt wieder ganz weit zu spannen. Und vielleicht wirkt sich das auch in den USA aus, wo man es (zumal im Süden) nicht so gewohnt ist, von anderen zu lernen beziehungsweise deren Existenz und Denkweisen bestenfalls durch ein Zielfernrohr (mit dem Finger am Abzug) zur Kenntnis nimmt.

Ich würde mich freuen, wenn als Folge der Global Conversation in Kapstadt viele von einem „neuen Christentum“ sprechen, das bunt und vielfältig wie nie in einer multipolaren Welt konstruktiv mitmischt, ohne in die reaktionären Reflexe zu verfallen. Vielleicht finden wir auch einen besseren Begriff, hinter dem sich alle versammeln, zu denen die alten Kategorien nicht mehr passen.

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Wenn der Förster wildern geht

Die Zeitungen haben es während der Sarrazin-Debatte der letzten Wochen ja regelrecht herbeigeschrieben, was Horst Seehofer nun, wenige Tage nach der – inzwischen muss man ja sagen: umstrittenen – Wulff-Rede verkündet hat: Er wünscht keine Zuwanderung aus islamischen Ländern. Ständig wurden Statistiken präsentiert, welches Wählerpotenzial eine Partei rechts der Union angeblich hat. Und dass Angela Merkel vielleicht zu weit in die Mitte gerückt sei.

Da war doch klar, dass jemand diese Schäfchen wieder einsammeln muss, wenn (was ja alle Kommentatoren befürchteten) hier kein deutscher Wilders Karriere machen soll. Also krempelt Seehofer (der eben noch eine sicher nicht stammtischtaugliche Frauenquote für die CSU durchgeboxt hatte) die Ärmel hoch und wildert selbst im dichten Gestrüpp der Sarrazin-Leser und Sympathisanten, um sie wieder bei Mutter CSU zu beheimaten.

Schön ist das nicht, ganz ehrlich ist es vielleicht auch nicht einmal, und ob es wirkt, wird man sehen müssen. So wie jetzt gleich wieder alle pflichtbewusst aufschreien (und dafür sorgen, dass auch der letzte verschreckte Kleinbürger davon erfährt), muss man sich fast fragen, ob das nicht ein abgekartetes Spiel ist: Der populistische Theaterdonner, der kalkulierte mediale Widerhall, ein bisschen Volksheld spielen (der ist in Bayern mangels Küste nicht Pirat, sondern Wilderer), und dann in ein paar Wochen entweder andere zur Versöhnung vorschicken oder alles im Sand verlaufen zu lassen, wenn die Diskussion abebbt.

Wie das geht, sehen wir ja regelmäßig, wenn es um die EU geht. Laut schimpfen und dann doch brav mitmachen. Das geht eben nur in Bayern – hier wildert der Förster selbst. Wir bauchen keinen Geißler, wir haben den Protest gegen die eigene Politik schon in der Person des Landesvaters integriert. Da sollte sich Herr Mappus mal eine Scheibe von abschneiden…

Und weil wir alle keine Rechtspartei wollen, spielen wir mit: Bitte etwas öffentliches Seehofer-Bashing, möglichst aufgeregt und ohne zu viel Augenzwinkern. Ein paar von uns (es können ruhig dieselben sein) müssen in etwa drei Tagen schreiben, das müsse man doch noch sagen dürfen, wenn es schon so viele empfinden. Dann nochmal ein kleiner Reigen der Kritik, ein paar vermittelnde Worte der Kanzlerin (Nachtrag: voila – hier sind sie auch schon), die den Tanz beruhigen, und alles geht fast so weiter wie bisher. In einem Jahr trifft man sich diskret zum Bier und schmunzelt drüber.

Alles klar?

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Kaputte Kicker

Die Bayern in der Krise – was wurde da nicht alles geschrieben, gespottet und geunkt in den letzten Wochen. Die bekannten Reflexe abgründiger Schadenfreude sind zurück, selbst bei Zeitgenossen, die normalerweise fair und besonnen sind.

Freunde wie Feinde sollten einfach mal dieses nachdenkliche Interview mit Philipp Lahm lesen. Danach, danke ich, kann kaum einer, der im Sommer Deutschlandfähnchen geschwenkt hat (oder heute abend auf einen Sieg gegen die Türkei hofft), sich guten Gewissens an der Bayern-Misere weiden. Oder das beliebte Klischee der Arroganz bemühen.

Es geht nicht um Mitleid oder Sympathie, sondern einfach um sowas wie Achtung. Auf dem Platz jedenfalls ist Nachtreten verboten – zu Recht.

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Der springende Punkt

Jesus spricht im Johannes Evangelium davon, dass er das Licht der Welt ist, und dass es darum geht. ihm nachzufolgen. Nun ist das etwas anderes als die Lichter der Werbung, die fest an den Fassaden angebracht sind oder zusammen mit dem Licht der Zerstreuung von Bildschrimen und Leinwänden flimmern. Es ist auch etwas anderes als das Licht der Sonne und Gestirne, die wie ein Uhrwerk (oder noch konstanter als jedes Uhrwerk) ihre Bahn ziehen.

Dieses Licht bewegt sich unberechenbar. Es blitzt irgendwo auf und ist im nächsten Moment schon wieder woanders. Vorzugsweise da, wo man es nicht vermutet. Das einzige, was man tun kann, ist, es nicht mehr aus den Augen zu lassen, wenn mal es einmal entdeckt hat. So wie diese Katzen den roten Punkt des Laserpointers.

Bestimmt findet mancher das Bild zu verspielt. Aber wer sagt eigentlich, dass Gott nicht auch mal spielt?

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Jeder Christ ein Fanatiker?

Das hier schon gelegentlich zitierte Buch von Schleichert ließ sich nach dem trockenen Beginn recht gut an, inzwischen jedoch quäle ich mich eher durch die Seiten. Nicht, weil es nicht verständlich wäre, sondern weil Schleicherts geballte Vorurteile nun richtig zu Buche schlagen.

Der kurze Abschnitt über subversives Argumentieren brachte wenig Neues. Dagegen verdichtet sich der Eindruck, dass jede Religion, die „heilige Texte“ hat (bei Ideologien, die Schleichert ursprünglich auch einbeziehen wollte, gibt es das genau genommen ja gar nicht), zu Fundamentalismus, Intoleranz und Gewalt neigt, weil die in diesen Texten (d.h. Bibel und Koran) ja enthalten und nicht zu tilgen sei. Folglich sind auch moderate Vertreter (er bezieht sich hier auf Christen und gelegentlich auch Juden) nur als inkonsequent zu betrachten, im Grund haben die Fanatiker den eigentlichen Glauben besser verstanden. Nun gehe es darum, Fanatikern wie Gemäßigten vor Augen zu führen, was sie da eigentlich Verrücktes und Schlimmes glauben.

Subversiv gedacht müsste man nun fragen, wo wir hinkämen, wenn – was leider nicht ausgeschlossen scheint – zum Beispiel die Kontrahenten in Sachen Stuttgart 21 nun nach folgender Maxime von Schleichert handelten (S. 118):

Den Gegner ernst nehmen, heißt vor allem, sein intolerantesten, bösartigsten, extremsten Sentenzen und Programm ernst nehmen, und niemals zu sagen, dass es „so schlimm schon nicht kommen wird“.

Es folgt der unvermeidliche Hinweis auf „Mein Kampf“. Im Prinzip macht Schleichert hier mit Christen nichts anderes, als was Alice Schwarzer und andere momentan mit dem Islam machen: Er unterstellt, dass der Extremist die eigentliche Norm sei und man daher immer mit dem Schlimmsten zu rechnen habe. Für Schwarzer ist jemand wie Tariq Ramadan nur der raffinierteste Verführer von allen – Christopher Hitchens lässt grüßen (hier ein lesenswerter Beitrag von William T. Cavanaugh zur Problematik). Auch Schwarzer verweist natürlich auf „Mein Kampf“. Das Gute an dieser Logik ist, dass man sich so mit den vielen Beispielen gar nicht mehr beschäftigen muss, die die eigene These gefährden könnten.

Nun kann man als Christ weder leugnen, dass es in der Vergangenheit kirchlich sanktionierte Gewalt gab, noch dass es heute militante Christen gibt. Man kann höchstens versuchen, letztere als Randerscheinung abzutun. Oder als Verirrung: Die eigentliche Aufgabe wäre dann der Nachweis, dass religiöser Gewalt aus christlicher Sicht immer ein Missverständnis der Bibel in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt. Der wiederum scheint mir nur gelingen zu können, wenn man die unterschiedlichen biblischen Texte nicht pauschal und eindimensional als wörtlich eingegeben und unfehlbar betrachtet, sondern begründen kann, dass manche Texte (z.B. die Bergpredigt) ein höheres Gewicht haben als andere (z.B. Texte über den Bann und den Heiligen Krieg im AT). Oder anders gesagt: dass es (im krassen Unterschied zu „Mein Kampf“) durchaus eine innerbiblische Bibel- und Sachkritik gibt. Wo das versäumt oder unterlassen wird, da wird man weiter mit dem Verdacht leben müssen, ein ambivalentes Verhältnis zu Zwang und Gewalt zu pflegen, das nur aus taktischen Gründen Zurückhaltung übt, solange die Mehrheitsverhältnisse ungünstig sind. Hier bei uns fragt man sich das momentan im Blick auf dem Islam, in den USA muss man jedoch diese Sorge eher beim Christentum eines Glenn Beck und der Teaparty-Bewegung (und deren Verklärung von Krieg, Todesstrafe und Waffenbesitz) haben – oder manche fragwürdige Synthese von Orthodoxem Christentum und Staatsmacht in (Süd-)Osteueropa.

Man kann nun natürlich den Spieß umdrehen und fragen, ob nicht auch die säkularistische Position ganz ohne Heilige Schriften dieselbe Ambivalenz aufweist und nun ihrerseits vor dem Dilemma steht, ohne Rekurs auf einen Kanon nachweisen zu müssen, dass solche Auswüchse nicht in der Konsequenz der Anschauung liegen, sondern ihrem Wesen zuwiderlaufen – ein ebenso unmögliches Unterfangen; ob wir also mit einer Erziehungsdiktatur zu rechnen haben, deren Konsequenzen aus Angst vor dem Islamismus auch von Christen unterschätzt werden.

So gesehen ist es interessant, Schleichert aus dieser doppelten Perspektive zu lesen: Wie geht er hier mit Christen um – und warum sollte es erlaubt sein, als Christ Muslimen gegenüber dieselbe Logik anzuwenden? An den Islam gerichtet stellt sich aber auch die Frage, ob es (wie in weiten Teilen des westlichen Christentums) in der Koranauslegung plausible Ansätze gibt, die zu einer im umfassenden Sinn gewaltfreien Praxis führen, und das verlässlich und dauerhaft. John Milbank, der das Dreieicksverhältnis von Christentum, Islam und Aufklärung untersucht, sieht in den mystischen Strömungen des Islam eine größere Offenheit in dieser Richtung.

Viele interessante Fragestellungen also…

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Geben: wenn der eine nicht kann und der andere nichts braucht

Der Bundespräsident hat sich zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung, über die bisher nur bei der CSU gemeckert wurde (idea erscheint erst morgen…), besorgt über den sozialen Zusammenhalt geäußert. Die wachsende Kluft zwischen Arm und reich ist dabei ein zentraler Faktor. Wie Recht er damit hat, zeigt auch diese Beobachtung von Stefan Klein, der in Der Sinn des Gebens sagt, es sei aus der Sicht der Verhaltensforschung riskant,

…wenn eine Gesellschaft den Abstand zwischen ihren ärmeren und reicheren Mitgliedern zu groß werden lässt. Selbst dann nämlich, wenn die ärmeren objektiv gesehen keine Not leiden, stellt ein zu großes Gefälle die Bereitschaft aller zum Miteinander, zur Großzügigkeit und zur Nachsicht auf eine harte Probe. Denn nach dem Prinzip des reziproken Altruismus sind Menschen umso eher bereit zu kooperieren, je mehr sie zu tauschen haben. Was aber sollen Menschen einander geben, wenn die einen nichts entbehren und die anderen sich ohnehin alles leisten können?

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Die Guten schaffen sich ab

Wer bereit war, sein Leben eher zu opfern, als seine Kameraden zu verraten, (…) wird oft keine Nachkommen hinterlassen, seine edle Natur zu vererben. Die tapfersten Leute, welche sich stets willig fanden, sich im Krieg an die Spitze ihrer Genossen zu stellen, (…) werden im Mittel in einer größeren Zahl umkommen als andere Leute.

Das wird man ja wohl noch sagen dürfen… dass der pessimistische Gedanke, der derzeit so viele Gemüter erhitzt, von Charles Darwin stammt (hier gefunden). Die Logik ist unerbittlich – wenigstens so lange man fraglos akzeptiert, dass Krieg (militärisch, ökonomisch, religiös oder kulturell) die Grundmetapher des Lebens ist.

Nichts Neues also, davon sang Billy Joel auch schon, dass die Guten zu früh sterben, wenngleich er diese Tragik verdächtig fröhlich besingt:

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Das sündige Haar in der wohltätigen Suppe

Stefan Klein schreibt in seinem neuen Buch Der Sinn des Gebens vom Streit der Verhaltensforscher über egoistische und altruistische Motivation. Uneigennütziges Verhalten wurde so lange angezweifelt und spekulativ hinterfragt, bis es endlich auch egoistisch erschien. Verdächtig war dabei vor allem, wenn die Leute das Gute gern taten. Klein zitiert einen Evolutionsbiologen, der sagt: „Kratze einen Altruisten und du siehst einen Heuchler bluten.“ Letzten Endes, unterstellen die Zyniker, sei es selbst jemand Mutter Theresa nur um sich und die eigenen Vorstellungen und Werte gegangen – am Ende will sie ja auch nur in dem Himmel kommen.

Mich hat die Diskussion daran erinnert, wie im Spätmittelalter und während der Reformation darüber nachgedacht wurde, ob in einem sündigen Menschen denn etwas Gutes stecken könnte, oder ob nicht gerade die vordergründig guten Taten nur die allerraffinierteste Verkleidung menschlicher Gottlosigkeit seien. Die Argumente gleichen sich doch stark, auch wenn damals natürlich menschliche Schuld und Erlösungsbedürftigkeit bewiesen und Heilsgewissheit erreicht werden sollte. Die anderen hängen nicht dem Dogma von der völligen Verkommenheit des Menschen, sondern Herbert Spencers liberaler Idee vom Survival of the Fittest an – und leiten daraus alle möglichen anderen „natürlichen“ Verhaltensweisen ab.

Dann musste ich an den barmherzigen Samariter denken und wie Jesus keine Anstalten unternahm, dessen Motivation zu sezieren und ein sündiges Haar in der wohltätigen Suppe zu suchen. Der Mann hat einfach das richtige getan. Und Jesu Fazit lautet: Mach es ihm nach.

Klein sagt, die Frage nach der Motivation lässt sich gar nicht schlüssig beantworten. Die Menschen, die (manchmal sogar heldenhaft) selbstlos handeln, wissen oft selbst nicht genau, warum sie das tun. Vielleicht ist das auch gut so.

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Fanatismus: Was bringt interne Kritik?

Kritik von Außen zieht bei Fanatikern selten, sie wird ja erwartet oder gar bewusst provoziert. Ein Weg wäre daher die interne Kritik. Man lässt sich auf die Denkvoraussetzungen des Gegenübers ein und versucht, den Fehler darin zu finden. Im Christentum bedeutete das oft genug, „dieselbe Bibel anders zu lesen“, sagt Hubert Schleichert.

Der Humanist Castellio etwa argumentiert gegen Calvins Intoleranz nicht, indem er dessen Ansichten komplett verwirft (nach dem Motto: Wer andere verbrennt, der kann nicht Recht haben), sondern er akzeptiert Calvins Theologie im Wesentlichen. Einserseits wird solch ein interner Kritiker eher gehört, für Außenstehende (und spätere Generationen) scheint er sich jedoch in den abstrus erscheinenden Details zu verhaspeln. Ähnlich wirkt heute die Argumentation mancher Aufklärer gegen den Hexenwahn. Ich würde noch dazu setzen: Heute wundern wir uns über Theologen (bzw. distanzieren uns), die rassistische Sprache und Denkmuster stehen ließen und zugleich versuchten, die Kirche vor den Nazis und gelegentlich auch Juden vor dem KZ zu retten. Und die Argumentation islamischer Feministinnen sieht anders aus als die von Alice Schwarzer. Die Frage ist, wer mehr bewirkt. Also fragt Schleichert (S. 96):

Vielleicht muss, solange überhaupt gekämpft werden muss, stets maskiert gekämpft werden, halb maskiert jedenfalls. Paradox formuliert: Sobald man laut und ohne Einschränkung sagen darf, dass es weder Teufel noch Hexen gibt, braucht man es eigentlich nicht mehr zu sagen.

Andere Möglichkeiten interner Kritik sind

  • aus den jeweils heiligen Texten auszuwählen und andere Schwerpunkte zu setzen. Schleichert hält das von der logischen Seite her für schwierig, weil man entweder die Autorität der Texte zu akzeptieren hat oder sie komplett verwirft. Ich halte diese Argument im Blick auf den biblischen Kanon und innerbiblische Sachkritik für nicht ganz zwingend. Notfalls, so sagte schon Luther, muss man Christus gegen die Schrift treiben, und er hatte eine Art Kanon im Kanon. Heute mag das anders aussehen als zu seiner Zeit.
  • Der Nachweis innerer Widersprüche gelingt oft schwer, weil er formalisierte Systeme voraussetzt; er wird von den Anhängern einer Ideologie zudem heftig bestritten werden. Schleichert fragt etwa, wie das denn zusammenpasse, dass Moses der demütigste Mensch gewesen sein soll und dann an einem Tag dreitausend Mann töten lassen könnte. Aber das sei eben nur unter bestimmten Bedingungen ein Widerspruch, andere sehen auch den Todesbefehl als Akt demütigen Gehorsams an (wir hatten dieselbe Problematik letzte Woche im Blick auf Lüge bzw. vorsätzliche Täuschung).
  • Man kann nun auch mit unterschiedlichen Textschichten argumentieren (der frühe Darwin/der späte Darwin, um mal ein anderes Beispiel zu wählen) oder anstößige Passagen durch allegorische Deutung zu entschärfen (z.B. das Hohelied als Bild der Liebe von Christus und Gemeinde, nicht als erotisches Gedicht über ein noch nicht verheiratetes Paar).
  • Interessant sind auch die Ausnahmen, die mancher bei der Forderung nach Toleranz macht (etwa: Ausländer ja, aber nur bestimmte). Hier zitiert Schleichert John Locke, der zwar religiöse Toleranz fordert, Atheisten davon aber ausdrücklich ausnimmt, mit folgender Begründung:

Doch sind diejenigen ganz und gar nicht zu dulden, die die Existenz Gottes leugnen. Versprechen, Verträge, Eide, die das Band der menschlichen Gesellschaft sind, können keine Geltung für einen Atheisten haben. Gott auch nur im Gedanken aufzuheben, heißt alles dies aufzulösen. Außerdem können die, die durch ihren Atheismus alle Religion untergraben und zerstören, sich nicht auf eine Religion berufen, auf die hin sie das Vorrecht der Toleranz fordern könnten.

  • weiter kommt man mit subversiver Kritik, wie sie sich in Voltaires Bibelkommentar findet. Der Absatz bei Schleichert ist spannend zu lesen, ebenso wie der Exkurs über wahre und falsche Propheten und das Dilemma von Orthodoxien gegenüber jedem Anspruch neuer Offenbarung. Der Grundkonflikt von Offenbarungsreligionen wird nicht nur in zahlreichen Sektenbildungen anschaulich, sondern auch im Verhältnis von Christentum, Judentum und Islam. Christen glauben, dass sich Gott in Jesus offenbart und damit die Offenbarung des ersten Testaments erfüllt und überbietet, aber sie lehnen den Anspruch Mohammeds ab, der 600 Jahre später den Anspruch erhob, von einem Engel eine weitergehende Offenbarung empfangen zu haben. Mit den Mitteln der Vernunft lässt sich das kaum entscheiden.
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