Jeder Christ ein Fanatiker?

Das hier schon gelegentlich zitierte Buch von Schleichert ließ sich nach dem trockenen Beginn recht gut an, inzwischen jedoch quäle ich mich eher durch die Seiten. Nicht, weil es nicht verständlich wäre, sondern weil Schleicherts geballte Vorurteile nun richtig zu Buche schlagen.

Der kurze Abschnitt über subversives Argumentieren brachte wenig Neues. Dagegen verdichtet sich der Eindruck, dass jede Religion, die „heilige Texte“ hat (bei Ideologien, die Schleichert ursprünglich auch einbeziehen wollte, gibt es das genau genommen ja gar nicht), zu Fundamentalismus, Intoleranz und Gewalt neigt, weil die in diesen Texten (d.h. Bibel und Koran) ja enthalten und nicht zu tilgen sei. Folglich sind auch moderate Vertreter (er bezieht sich hier auf Christen und gelegentlich auch Juden) nur als inkonsequent zu betrachten, im Grund haben die Fanatiker den eigentlichen Glauben besser verstanden. Nun gehe es darum, Fanatikern wie Gemäßigten vor Augen zu führen, was sie da eigentlich Verrücktes und Schlimmes glauben.

Subversiv gedacht müsste man nun fragen, wo wir hinkämen, wenn – was leider nicht ausgeschlossen scheint – zum Beispiel die Kontrahenten in Sachen Stuttgart 21 nun nach folgender Maxime von Schleichert handelten (S. 118):

Den Gegner ernst nehmen, heißt vor allem, sein intolerantesten, bösartigsten, extremsten Sentenzen und Programm ernst nehmen, und niemals zu sagen, dass es „so schlimm schon nicht kommen wird“.

Es folgt der unvermeidliche Hinweis auf „Mein Kampf“. Im Prinzip macht Schleichert hier mit Christen nichts anderes, als was Alice Schwarzer und andere momentan mit dem Islam machen: Er unterstellt, dass der Extremist die eigentliche Norm sei und man daher immer mit dem Schlimmsten zu rechnen habe. Für Schwarzer ist jemand wie Tariq Ramadan nur der raffinierteste Verführer von allen – Christopher Hitchens lässt grüßen (hier ein lesenswerter Beitrag von William T. Cavanaugh zur Problematik). Auch Schwarzer verweist natürlich auf „Mein Kampf“. Das Gute an dieser Logik ist, dass man sich so mit den vielen Beispielen gar nicht mehr beschäftigen muss, die die eigene These gefährden könnten.

Nun kann man als Christ weder leugnen, dass es in der Vergangenheit kirchlich sanktionierte Gewalt gab, noch dass es heute militante Christen gibt. Man kann höchstens versuchen, letztere als Randerscheinung abzutun. Oder als Verirrung: Die eigentliche Aufgabe wäre dann der Nachweis, dass religiöser Gewalt aus christlicher Sicht immer ein Missverständnis der Bibel in ihrer Gesamtheit zugrunde liegt. Der wiederum scheint mir nur gelingen zu können, wenn man die unterschiedlichen biblischen Texte nicht pauschal und eindimensional als wörtlich eingegeben und unfehlbar betrachtet, sondern begründen kann, dass manche Texte (z.B. die Bergpredigt) ein höheres Gewicht haben als andere (z.B. Texte über den Bann und den Heiligen Krieg im AT). Oder anders gesagt: dass es (im krassen Unterschied zu „Mein Kampf“) durchaus eine innerbiblische Bibel- und Sachkritik gibt. Wo das versäumt oder unterlassen wird, da wird man weiter mit dem Verdacht leben müssen, ein ambivalentes Verhältnis zu Zwang und Gewalt zu pflegen, das nur aus taktischen Gründen Zurückhaltung übt, solange die Mehrheitsverhältnisse ungünstig sind. Hier bei uns fragt man sich das momentan im Blick auf dem Islam, in den USA muss man jedoch diese Sorge eher beim Christentum eines Glenn Beck und der Teaparty-Bewegung (und deren Verklärung von Krieg, Todesstrafe und Waffenbesitz) haben – oder manche fragwürdige Synthese von Orthodoxem Christentum und Staatsmacht in (Süd-)Osteueropa.

Man kann nun natürlich den Spieß umdrehen und fragen, ob nicht auch die säkularistische Position ganz ohne Heilige Schriften dieselbe Ambivalenz aufweist und nun ihrerseits vor dem Dilemma steht, ohne Rekurs auf einen Kanon nachweisen zu müssen, dass solche Auswüchse nicht in der Konsequenz der Anschauung liegen, sondern ihrem Wesen zuwiderlaufen – ein ebenso unmögliches Unterfangen; ob wir also mit einer Erziehungsdiktatur zu rechnen haben, deren Konsequenzen aus Angst vor dem Islamismus auch von Christen unterschätzt werden.

So gesehen ist es interessant, Schleichert aus dieser doppelten Perspektive zu lesen: Wie geht er hier mit Christen um – und warum sollte es erlaubt sein, als Christ Muslimen gegenüber dieselbe Logik anzuwenden? An den Islam gerichtet stellt sich aber auch die Frage, ob es (wie in weiten Teilen des westlichen Christentums) in der Koranauslegung plausible Ansätze gibt, die zu einer im umfassenden Sinn gewaltfreien Praxis führen, und das verlässlich und dauerhaft. John Milbank, der das Dreieicksverhältnis von Christentum, Islam und Aufklärung untersucht, sieht in den mystischen Strömungen des Islam eine größere Offenheit in dieser Richtung.

Viele interessante Fragestellungen also…

Share

9 Antworten auf „Jeder Christ ein Fanatiker?“

  1. Jeder Christ ein Fanatiker? Wenn ich nur von mir ausgehe und auch „nur“ mir gegenüber, ja, dann bin ich einer. Übrigens auch gegenüber meiner muslimischen Freunde, aber die können damit umgehen!

    Gruß
    Jörg

  2. @Malte: Du ist also ein Mensch, der von Toleranz nichts hält und andere notfalls auch mit Druck oder Zwang auf seine Linie bringt? Wenn ja, wie vereinbarst Du das mit dem, was Jesus gelehrt und gelebt hat? Wenn nein, warum solltest Du Dir so ein sinnloses Etikett anheften?

  3. Oh nein, sorry, ich drücke mich da wohl ungeschickt aus. Ich meinte tatsächlich nur „mir “ gegenüber. Mir ist es egal, ob andere dasselbe glauben wie ich, ich bleibe halt „standhaft“, so meinte ich das!

  4. Naja, wenn ich mir die Wikipedia Definition von Fanatismus anschaue, dann ist doch eigentlich nicht die Hauptsache, ob man andere überzeugen will oder unter Druck setzt (obwohl das oft eine Folge ist). Die Definition bezieht sich doch anscheinend eher auf ein unbedingtes Fürwahrhalten der eigenen Überzeugungen und unzugänglichkeit für Infragestellung und rationale Argumente. Insofern kann man denke ich schon ein Fanatiker sein, ohne andere mit Druck und Zwang auf seine Linie bringen zu wollen (halt dann eher ein passiver Fanatiker), oder? Die Frage ist halt, wo man die Grenze zum negativen setzt. Denn ein Stück weit ist das ja menschlich und auch absolut nötig. Auch in der Wissenschaft kommt man nicht weiter, wenn man nicht mal an eine These glaubt.

  5. @Tobias: Im allgemeinen Sprachgebrauch ist „Fanatiker“ aber durchgängig negativ besetzt. Für das Positive, das Du meinst, lassen sich ja andere Begriffe finden. Statt ein verbranntes Wort aufwändig zu retten, warum nicht ein besseres finden?

  6. Oh, es ging mir nicht nur darum, zu sagen, dass es auch Positives hat. Ich hab mich nur mal wieder von meinen Gedanken treiben lassen. 🙂
    Meine ursprüngliche Intention war, zu sagen, dass man vielleicht auch Fanatiker sein kann, ohne andere unter Druck zu setzen. Wenn jemand grundsätzlich die Schulmedizin ablehnt, sich nicht impfen lässt, keine Medikamente nimmt und Operationen ablehnt, würde ich den z.B. auch als Fanatiker bezeichnen. Deshalb muss der aber noch niemand anderen davon überzeugen wollen. Die Wahrscheinlichkeit ist nur höher, dass er einen „missionarischen Eifer“ entwickelt.

  7. Ich habe gerade in der Mittagspause noch einmal darüber nachgedacht. Ich glaube, für mich ist die Abgrenzung, ob sich ein Mensch bewusst ist, dass er glaubt, bzw. mit einer Hypothese arbeitet. Wenn ich mir dessen bewusst bin, weiß ich, dass ich genausogut falsch liegen kann. Ich weiß auch, dass meine Sicht der Welt einer anderen Sicht der Welt erst einmal nicht per se überlegen ist. Sie kann für mich besser funktionieren. Sie kann vielleicht auch aus meiner Sicht positivere Folgen haben. Aber sie ist nicht mehr wert.

    Einen Menschen, der diese Fähigkeit nicht hat, bezeichne ich als Fanatiker. Ein Fanatiker ist überzeugt, die einzig richtige Sicht der Dinge zu haben und stellt sich damit zumindest intern über andere. Insofern stimme ich Dir denke ich irgendwie doch zu, Peter. Denn auch wenn sich das vielleicht nicht nach außen bemerkbar machen muss, ist es doch denke ich nicht mit Demut zu vereinbaren.

    Übrigens noch ein Gedanke zu den „heiligen Texten“. Ich habe dabei an eine Beurteilung gedacht, die mein Vater einmal für meine frühere Gemeinde geschrieben hat. Er hat dort geschrieben „Wir haben kein heiliges Buch, sondern einen lebendigen Gott“. Das fand ich recht eindrücklich.

  8. @Tobias, vielleicht ist es auch so, daß der HG uns lehrt, das Heilige Wort unseres lebendigen Herrn zu verstehen.
    Ein Ungläubiger wird ohne den Segen des Herrn Jesus die Schrift kaum verstehen, du wirst die Texte sicher kennen.
    Also ist das Verständnis im Herrn für Ungläubige, siehe die Welt, eine Torheit, wenn nicht selten Fanatismus. Ich denke hier an Märtyrer.
    Anders beim Gläubigen, hier sehe ich (an mir) Staunen und langsames Erkennen, sicher aber bin ich auch schon am Anfang, ich habe ja den Herrn!
    Hier bin ich also wirklich nicht fanatisch, denn das Prüfen gebe ich nicht auf. Eher bin ich dankbar, und sehe zu, daß ich nicht falle aus der Gnade.
    Grüße!

Kommentare sind geschlossen.