Muss die Kirche mit der Zeit gehen? (3)

Totalverweigerung ebenso wie missmutiges Hinterherhinken sind keine guten Lösungen für das Verhältnis von Kirche und Kultur, weil sie meist nur zu unfruchtbaren Spannungen führen. Genauso scheidet distanzloses, unkritisches und unbewusstes Mitschwimmen im Mainstream aus, das jede Art von Spannung vermeidet oder vertuscht. Stattdessen sollte eine fruchtbare Spannung entstehen, und die entsteht dort, wo Christen bewusst mit der Zeit gehen, indem sie sich auf ihre Gesellschaft und Kultur einlassen und befruchtend in ihr wirken.

DSC00736.jpg

Eine Reihe bewusster Schritte sind dazu notwendig, hier eine unvollständige Aufzählung:

Erstens muss die Kirche ihren Ort (geografisch, kulturell, geschichtlich, …) als göttliche Zumutung verstehen. Jeremia konnte selbst das babylonische Exil als den Willen und die Platzanweisung Gottes für sein Volk bezeichnen. Damit war ja keineswegs die Assimilation gemeint, aber die Orientierung am Gemeinwohl. Gruppeninteressen auf Kosten der anderen zu verfolgen scheidet also aus. Kirche ist berufen zur Offenheit und Weite. Sie muss den Ort, an dem sie lebt, akzeptieren und nicht nur tolerieren.

Zweitens muss die Kirche die Ambivalenz – der umgebenden Kultur und ihre eigene – annehmen. Christen sprechen nicht nur besserwisserisch in eine Welt hinein, von der sie nichts zu lernen hätten. Sie haben etwas beizutragen und zugleich viel zu lernen. Das bedeutet auch, dass Fehler und Irrtümer unausweichlich sind, und dass man sich den Anfragen anderer stellen muss. Die Kirche ist daher berufen zur Demut. Tomas Halik hat dazu in Geduld mit Gott im Blick auf die Kirche sehr treffend angemerkt

zu ihren Aufgaben gehört die Empfänglichkeit für die Zeichen der Zeit auch in dem kulturellen und politischen Klima der heutigen Welt. Die “Solidarität mit den Suchenden” schließt eine Teilnahme an deren Fragen und Suchen mit ein.

Drittens müssen wir uns von allen statischen Verhältnisbestimmungen und Metaphern befreien. Kirche ist bis zur Wiederkehr Christi immer auf dem Weg, immer unfertig, immer vorläufig, immer im Werden. Und genauso ist diese Welt unablässig im Werden und im Wandel. Nie zuvor war das Tempo dieses Wandels so rasant in unserem Jahrtausend. Wer verstanden hat, dass Gott die Menschen und die Welt liebt, kann sich also nicht ausklinken, sondern nur täglich neu entdecken, was es hier und heute konkret heißt, es Jesus nachzutun und Gott und den Nächsten zu lieben.

Viertens ist eine frische Sprache nötig. Kirchliche Binnensprache droht in der Isolation zu veröden und nach außen hin unverständlich zu werden. Der Verzicht auf die großen Worte, den das Zentrum für Predigtkultur für die Fastenzeit angeregt hat, weist in diese Richtung. Es reicht nicht, dass Luther vor 500 Jahren einmal „dem Volk aufs Maul geschaut“ hat. Das Evangelium ist keine ewig alte und ewig gleiche Botschaft, sondern eine ewig neue. Was aber gestern und vorgestern vielleicht noch neu war, ist heute schon abgedroschen und leer.

Zugleich können aber – fünftens – auch Lieder und Texte von vor 400 Jahren frischer und befruchtender wirken als Sachen, die 20 oder 30 Jahre alt sind. Das kulturelle Gedächtnis sollten wir also nicht ausschalten, wenn wir zukunftsfähig sein wollen. Statt aber nur im begrenzten Kurzzeitgedächtnis zu wühlen, könnte der Griff ins Langzeitgedächtnis helfen. Gerade weil sich dort (die biblische Tradition, aufmerksam gelesen, eingeschlossen) manches so fremd und sperrig anfühlt und sich nicht unbesehen verwerten lässt, bringt es uns auf andere, neue Gedanken.

Ich glaube, wir haben die Gute Nachricht erst dann richtig verstanden, wenn wir sie in unserer Gesellschaft ausgerichtet haben. Davon hat Vincent Donovan in Christianity Rediscovered so beeindruckend erzählt. Für ihn bedeutete „mit der Zeit zu gehen“, sich in die Welt der Massai hineinzubegeben und die Welt mit ihren Augen zu betrachten. Als sie dann gemeinsam das Evangelium lasen und besprachen, gab es auch für Donovan jede Menge Aha-Erlebnisse. Eine Kirche, die nicht mehr mit der Zeit gehen will, beraubt sich dieser Erfahrung.

Share