Männlich/weiblich/wirklich nützlich…?

Wir hatten diese Woche schon eine muntere Diskussion über John Pipers Thesen zu einem „maskulinen“ Christentum. Mein Standpunkt war und ist, dass die Anwendung dieser Begrifflichkeit auf Gott (der der Kirche ein „masculine feel“ verordnet)  ein theologisch problematisches Unternehmen ist, das man aus gutem Grund unterlassen sollte. Ähnlich urteilt auch Scot McKnight als bewusster Evangelikaler:

This is a colossal example of driving the whole through a word (“masculine”) that is not a term used in the New Testament, which Testament never says “For Men Only.” Pastors are addressed in a number of passages in the NT, and not once are they told to be masculine.

Ich will Piper jetzt nicht böswillig in die Pfanne hauen, aber da er sich auch diesseits des großen Teichs einer gewissen Anhängerschaft erfreut, darf man schon einmal einen Blick darauf werfen, was für Vorstellungen von Kirche und Christentum hier befördert werden (die Entscheidung des Bundes der FeG für Pastorinnen mit solchen Diskussionen über den Abfall von der reinen biblischen Lehre liegt ja noch nicht so lange zurück).

Piper hat seine Sicht in acht Thesen gefasst; für alle, die an meiner korrekten Wiedergabe zweifeln, hier erst einmal der O-Ton:

1. A masculine ministry believes that it is more fitting that men take the lash of criticism that must come in a public ministry, than to unnecessarily expose women to this assault.

2. A masculine ministry seizes on full-orbed, biblical doctrine with a view to teaching it to the church and pressing it with courage into the lives of the people.

3. A masculine ministry brings out the more rugged aspects of the Christian life and presses them on the conscience of the church with a demeanor that accords with their proportion in Scripture.

4. A masculine ministry takes up heavy and painful realities in the Bible, and puts them forward to those who may not want to hear them.

5. A masculine ministry heralds the truth of Scripture, with urgency and forcefulness and penetrating conviction, to the world and in the regular worship services of the church.

6. A masculine ministry welcomes the challenges and costs of strong, courageous leadership without complaint or self-pity with a view to putting in place principles and structures and plans and people to carry a whole church into joyful fruitfulness.

7. A masculine ministry publicly and privately advocates for the vital and manifold ministries of women in the life and mission of the church.

8. A masculine ministry models for the church the protection, nourishing, and cherishing of a wife and children as part of the high calling of leadership.

Auf Deutsch und in meinen Worten:

  • Männer verhindern wo immer möglich, dass Frauen beißender Kritik ausgesetzt werden, die die öffentliche Verkündigung des Evangeliums unweigerlich nach sich zieht
  • Männer vermitteln der Kirche „biblische“ Lehre, und zwar „mutig“ und mit großem Nachdruck (!).
  • Männer bringen das „Kantige“ des Evangeliums zur Geltung und reden Leuten ins Gewissen
  • Männer reden über unbequeme Wahrheiten, besonders zu denen, die nicht hören wollen (an erster Stelle steht bei Piper dann auch erwartungsgemäß die Hölle als eine solch unbequeme Wahrheit)
  • Männer machen die „Wahrheit der Bibel“ in Kirche und Welt zu einer dringlichen Sache (das Wortfeld des „Drängens“ wird hier dreimal bemüht!)
  • Männer jammern nicht, wenn sie auf Widerstände treffen beim Versuch, Prinzipen, Strukturen und Pläne für eine fruchtbare Kirche umzusetzen, sondern sie begrüßen das
  • Männer sorgen dafür, dass Frauen in der Kirche mitarbeiten können (NB: von Leitung steht da nichts…)
  • Männer betrachten es als Teil ihrer Leitungsaufgabe, vorbildlich für Frauen und Kinder zu sorgen

Welches Ideal von Mann- und Frausein spricht nun erstens aus diesen Thesen und inwiefern entspricht das zweitens dem Geist des Evangeliums? Zum ersten:

  • „Männlich“ ist der penetrante Streiter für die öffentliche Wahrheit
  • „Männlich“ ist der bibel- und prinzipientreue Erzieher und Lehrmeister
  • „Männlich“ ist der starke Beschützer und Fürsprecher von Frauen und Kindern

Das alles charakterisiert möglicherweise die Person John Piper ebenso wie den „unverblümten, männlichen Mr. Ryle“ aus dem 19. Jahrhundert, den er seinen Männern als Vorbild vor Augen stellt. Aber ist das denn maskulin – im Unterschied zu allem, was man mit Weiblichkeit verbindet? Besteht in diesen Dingen notwendigerweise ein Gefälle zwischen Frauen und Männern – sind Männer also mutiger, wahrheitsliebender, lehrbegabter und leidensfähiger als Frauen oder sollten sie es zumindest sein, wenn sie Männer „nach dem Herzen Gottes“ sein wollen? Oder doch eher die Kultur des Biedermeier? Und müssen/sollten christliche Leiter (so lässt sich die letzte These ja verstehen) eine große und glückliche Familie haben – Paulus hatte das ja wegen des entbehrungsreichen Dienstes (von dem Pipers erste These vermutlich spricht) in Frage gestellt, und Jesus war meines Wissens auch unverheiratet?

Zwar spricht Piper in seiner Rede durchaus davon, dass Frauen all das auch dürften, was er hier beschreibt, aber schon die erste These deutet an, dass es eigentlich nicht notwendig sein sollte, dass Frauen solche Dinge tun, wie sich öffentlich in Konflikte zu begeben, weil ihnen die Männer diese Arbeit schon abgenommen haben sollten. Erinnert das nur mich verdächtig an die galante Entmündigung der Dame durch den Kavalier?

Zweitens: Wenn überhaupt, dann ist diese Darstellung von „maskuliner Leitung“ in der Kirche einer einseitigen Wahrnehmung geschuldet. Zwei Beispiele nur: Statt Menschen anzupredigen und unter Druck zu setzen spricht Paulus in 2. Kor 5 etwa von der werbenden Bitte des Apostels an die Menschen, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Jesus, durchaus ein streitbarer Mensch, kann sich in Matthäus 23 weinend als „Glucke“ bezeichnen, die ihre Küken vor drohender Gefahr retten will. Pipers in aggressiver Diktion gehaltene Thesen lassen dafür wenig Spielraum, da wird für meinen Geschmack eher auf Konformität gedrängt statt auf Mündigkeit.

McKnight verweist als Antwort auf diese Diskussion unter anderem auf ein Buch von Beverly Gaventa mit dem bemerkenswerten Titel Our Mother Saint Paul. Ihr geht es nicht darum, Gott oder bestimmte Verhaltensweisen als maskulin oder feminin zu qualifizieren, sondern zu zeigen, wie Paulus für seinen Dienst an der Gemeinde neben väterlichen auch mütterliche Metaphern verwenden kann: Das Stillen (1Thess 2,7f.; 1Kor 3,1-3), das Gebären (Gal 4,17-20) und die kosmische Wiedergeburt (Römer 8,18ff.) mit den dazugehörigen Wehen.

Ob die Klassifizierung bestimmter hier beschriebener Verhaltensweisen als „maskulin“ uns weiterbringt, darf getrost bezweifelt werden. Auch Frauen sollen selbstverständlich tapfer streiten, mit oder ohne Männer in der Öffentlichkeit stehen oder sich schützend vor Schwächere stellen, gegebenenfalls auch vor in ihrer „Maskulinität“ verunsicherte Männer. Und auch Männer dürfen sich ein Beispiel am mütterlichen Apostel nehmen oder am gluckenden Jesus. Und mit den biblischen Wahrheiten (was auch immer der einzelne darunter versteht) darf man unaufdringlicher umgehen, getrost leiser davon sprechen, als das oben gefordert wird.

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Himmlische Alpha-Männchen?

Wenn man die Bibel mit einer patriarchalischen Brille liest, bekommt man patriarchalische Ansichten bestätigt. Das hat in diesen Tagen John Piper wieder einmal bilderbuchmäßig vorexerziert.

Statt zu fragen, inwiefern die Begrifflichkeiten „Vater“ und „Sohn“ und alles weitere in diesem Zusammenhang die patriarchalisch strukturierte Ursprungskultur widerspiegeln, statt zu bedenken, wie sie in deren Kontext zu verstehen sind und ob im biblischen Reden von Gott nicht vielleicht auch ein Keim zur Überwindung dieser Kultur stecken könnte, statt schließlich auch noch die unabdingbare Frage in den Raum zu stellen, ob menschliche Kategorien wie maskulin und feminin auf Gott überhaupt sinnvoll anwendbar sind…

… konstatiert Piper ganz plump eine Präferenz „Gottes“ für das Maskuline, und das kann er dann auch noch gleich mit ein paar Attributen griffig aufschlüsseln und seinen Anhängern als ethische Norm oder spirituelles Ideal vor Augen stellen. Nicht dass ich bisher begeistert gewesen wäre von seinen Thesen, aber dieses Reflexionsniveau ist hatte ich dann doch nicht erwartet.

Gott steht also nicht mehr über der menschlichen Geschlechterdifferenz, sondern mittendrin. Andromorphismen sind ja nichts Neues in der Theologie, auch wenn sie im 21. Jahrhundert aus gutem Grund seltener geworden sind.

Vor allem sind sie – zumal in dieser Form – selbst schlicht unbiblisch. Denn auch wenn von Gott konkret häufig als Vater, Herr etc. die Rede ist, wird die abstrakte Frage, ob und inwiefern er nun „männlich“ oder „weiblich“ sei, weder aufgeworfen noch beantwortet. Vielleicht auch deshalb, weil damals noch genug jüdische Scheu vor dem Namen und Geheimnis Gottes bestand, um ihn aus Testosteronkriegen herauszuhalten. Gottes Namen (das zeigt schon der Plural) enthüllen sein Geheimnis ja nicht etwa, sie bewahren es vor allem.

Dasselbe gilt von Jesus: Nicht seine Männlichkeit, sondern seine Menschlichkeit in ihrem Verhältnis zu Gott ist das große theologische Thema der Alten Kirche. Und auch hier wird im Nizänischen Bekenntnis das Bild menschlicher Vaterschaft (und mit ihm die Kategorien jeglicher Biologie!) komplett gesprengt, wenn es heißt „aus dem Vater geboren (!) vor aller Zeit“

Wenn man im Bestreben, die Bibel so wörtlich wie nur möglich zu nehmen, den metaphorischen Charakter biblischer Sprache und dessen unvermeidliche kulturelle Bedingtheit übersieht, verliert man nicht nur vor lauter Wörtern den Sinn, sondern man wird auch versuchen, die gesellschaftlichen Verhältnisse von damals zu reproduzieren: Piper will, so der Bericht, ja eine erkennbar maskuline Kirche (man fragt sich unwillkürlich: wo bleibt die „Braut“ aus der Offenbarung?). Pipers Repristinierung des Patriarchalen geht also über ihr antikes Vorbild weit hinaus. Er sagt zu viel über Gott und macht ihn dadurch nicht etwas größer, sondern kleiner, zu einer Art transzendenten Alpha-Männchen.

Frech gefragt: Vielleicht löst diese Impuls als ungewollt kompensatorisches Element zu seiner Gotteslehre einen neuen Schub von Marienverehrung unter den NeoReformierten aus? Die blüht ja wohl nicht ganz zufällig dort, wo Männer die Hierarchie komplett besetzt halten. Für uns Deutsche ist das insofern relevant, als man bei „Evangelium 21“ Pipers Gedankengut eifrig importiert – im Mai wird er in Hamburg erwartet.

Wird nun Gott vermännlicht oder das Männliche vergöttlicht? In jedem Fall kann man zugespitzt sagen: John Pipers Gott sieht ihm seit letzter Woche etwas ähnlicher. Und der Slogan „Desiring God“ bekommt einen neuen Beigeschmack.

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Warten auf Volf (1)

Mit der Übersetzung von Miroslav Volfs Exclusion and Embrace bin ich nun (endlich!) fertig und warte gespannt auf den Termin der Veröffentlichung. Sobald der feststeht, werde ich ihn hier bekanntgeben. In der Zwischenzeit poste ich immer mal wieder ein Appetithäppchen: interessante Beobachtungen oder provokative Thesen, die Fragen aufwerfen. Ausdiskutieren können wir das alles, wenn jeder das Buch auf dem Tisch liegen hat. Aber man kann mit dem Nachdenken ja schon mal anfangen 🙂

Los geht’s mit einer These zu „biblischem Mann- und Frausein aus Kapitel IV:

Biblisches „Frausein“ und „Mannsein“ – wenn es so etwas überhaupt gibt, so verschieden wie die männlichen und weiblichen Charaktere und Rollen, auf die wir in der Bibel stoßen, nun einmal sind – sind keine göttlich sanktionierten Modelle, sondern kulturell verortete Beispiele; sie sind Schilderungen von Erfolg und Scheitern der Männer wie der Frauen, dem Anspruch Gottes auf Ihr Leben in einer konkreten Lage gerecht zu werden. Damit sage ich nicht, dass die biblischen Konstrukte dessen, was Männer und Frauen […] tun oder lassen sollten, falsch sind, sondern dass sie in einem anderen kulturellen Kontext von begrenztem normativem Wert sind, da sie notwendigerweise mit spezifischen kulturellen Annahmen über geschlechtliche Identität und Rollen befrachtet sind.

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Warum „Leib“ und „Körper“ nicht dasselbe sind

Den Abschluss von inno2012 bildete am Mittwoch die Feier des Abendmahls. Die ganze Sache ist mir aus zwei Gründen noch etwas nachgegangen, und da sie zusammenhängen, komme ich hier darauf zurück: Das erste, was mir ganz unvermittelt aufstieß, waren die Einsetzungsworte in der Übersetzung von „das Buch“. Statt „Leib“ heißt es dort „Körper“. Nun ist es zweifellos so, dass „Leib“ im Deutschen allmählich antiquiert klingt, aber praktisch jeder versteht das Wort ja noch (etwa wenn ich jemanden anfahre, er soll „mir vom Leib bleiben“).

Warum ist das wichtig? Früher war es so, dass Leib sich auf den lebenden Menschen bezog und Körper tendenziell auf ein totes Objekt – in Physik und Geometrie gilt das ja nach wie vor. „Körper“ ist technischer – wir können von „Körperfunktionen“ reden, aber wir sagen nicht „Leibfunktionen“ – der Leib ist etwas Ganzes, das wir nicht in Teilaspekte zerlegen. Rückt mir jemand auf den Leib, dann tritt er mir als Person zu nahe, die „Seele“ oder das Selbst ist in dem Gesamtpaket gleich mitgedacht: der „Leib“ ist ein „beseelter Körper“, und statt der stofflichen dominiert die sinnliche Seite.

Sollte uns diese Unterscheidung verloren gehen und „Körper“ der einzige gebräuchliche Begriff werden, dann würde unsere Sprache – auch die gottesdienstliche Sprache – verarmen. Hier scheint es mir in der Bibelübersetzung voreilig und ohne Not aufgegeben und die Folge ist eine schlagartige Verflachung des Satzes. Flacher würde es ebenso, wenn wir in 1.Korinther 12 Leib durch „Körper“ ersetzen: Der Objektcharakter würde stärker werden, die Sprache wird weiter verdinglicht und das, was eigentlich beim Abendmahl wie im Blick auf die Einheit der Gemeinde ausgesagt werden soll, nämlich das Ganze und Lebendige, das Sein in Beziehung, das im-Fluss-Sein und in-Bewegung-Sein, geht dabei immer mehr verloren. Die Metapher „Leib Christi“ würde dann zum funktionalen Organigramm, das weniger einem lebendigen Organismus nachempfunden ist, sondern eher an eine Maschine erinnert. Die sprachliche „Modernisierung“ führt hier zu einer inhaltlichen Banalisierung.

Ganz passend dazu fiel dann zweitens die „Austeilung“ aus, die keine war: „Oblaten“ (so die prosaische Ansage – der Begriff Hostie scheint unbekannt gewesen zu sein) und Saft in Plastikstamperln lagen auf Tischen aus: Eine Art „Take-Away-Abendmahl“, bei dem einem niemand mehr die Elemente mit einem Zuspruch reicht, sondern man sie sich selbst wortlos nimmt – und wieder derselbe Effekt: Das Ganze wird verdinglicht, alles ist schon säuberlich und steril portioniert, keine Berührung mit der Hand, dem Blick und der Stimme anderer mehr nötig. Die Teilnehmer machten das wett (oder versuchten es), indem sie sich in Gruppen zusammenstellten und nach dem Verzehr von Oblate und Saft gemeinsam beteten. Je nachdem werden sich viele an das Gebet auch gern erinnern. Aber ob das für die Begegnung mit dem lebendigen Christus in den merkwürdig leblosen Elementen auch gilt?

Ich habe eine Weile gezögert und bin dann nicht hingegangen, um mir etwas vom Tisch zu nehmen. Manch einer denkt jetzt bestimmt pragmatisch: Es gibt viele Wege, Abendmahl zu feiern, muss man da so pingelig und empfindlich sein? Ich war es und bin es bis auf Weiteres auch noch. Am Mittwoch Abend fiel mir wieder auf, wie viel tiefen Sinn die Worte – und sei es nur dieser eine, altbackene Begriff „Leib“ – in sich tragen, und wie sehr das Teilen und Austeilen, das Geben und Empfangen dazu beitragen können, dass wir unseren so unglaublich selbstverständlichen modernen Individualismus, ja drohenden Solipsismus überwinden und uns als Teil eines Ganzen erkennen, dessen Mitte der Gekreuzigte und Auferstandene ist.

Das Verblüffende ist, wie man in manchen neuen Bewegungen gleichzeitig ganz viel von Beziehung und Gemeinschaft reden und das Ganze dann (ungewollt, denke ich) sprachlich-symbolisch komplett konterkarieren kann. Passiert uns das an anderen Stellen auch, ohne dass wir es merken?

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Ikone mit Kratzern

Ein Bericht in der Zeit lässt die Theologenwelt aufhorchen: Otto Michel, bekannter Neutestamentler und Professor für Judaistik in Tübingen, war Mitglied der NSDAP und zweitweise auch in der SA, hatte das aber zeitlebens verschwiegen. Das wäre vielleicht kaum der Erwähnung wert, wenn Michel nicht nach dem Krieg das Image des Widerstandskämpfers gepflegt hätte und darüber auch seine guten Kontakte zu bekannten jüdischen Denkern.

Neben dieser „Lebenslüge“ beleuchtet der Artikel auch den Einfluss der Nazis an der Uni in Tübingen und auch noch einmal die Rolle von Gerhard Kittel im dritten Reich. Michel hat sich nach 1945 von dem Antisemiten Kittel deutlich abgesetzt und sich für eine Rückkehr zum „jüdischen Denken“ ausgesprochen, über die bis heute immer wieder diskutiert wird. Unter anderem wirkte Michel, der aus einem „erwecklichen“ Hintergrund stammte, auch an der Gründung des Bengelhauses in Tübingen mit.

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Geschickte Arbeitsteilung

Heute stieß ich bei Miroslav Volf auf diesen interessanten Gedanken, der gleich einige Assoziationen weckte:

In einer Welt, deren Ordnung auf Gewalt beruht, greifen wir instinktiv nach dem auferstandenen Messias, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist (Matthäus 28,20). Nun ist es nicht so, dass wir für den Gekreuzigten keine Verwendung fänden. Wir bestehen nur auf einer klaren Arbeitsteilung zwischen dem Gekreuzigten und dem Auferstandenen. Der gekreuzigte Messias ist gut für die innere Welt unserer Seelen, die von Schuld und Verlassensein gequält werden. Er ist der Heiland, der an unserer statt stirbt, um unsere Sünden wegzunehmen und unser Gewissen zu befreien; er ist der Mitleidende, der uns die Hand hält, wenn wir das Tal der Tränen durchschreiten. Aber für die äußere Welt unseres körperlichen Daseins, wo Interessen kollidieren und eine Macht mit der anderen das Schwert kreuzt, haben wir das Gefühl, dass wir eine andere Art von Messias brauchen – „den König der Könige und Herrn der Herren“, der unseren Willen unbeugsam macht, unsere Arme stark, unsere Schwerter scharf. Das Bild vom hilflosen Messias, der am Kreuz hängt, wird vom siegreichen Reiter auf dem weißen Pferd überlagert, dessen Augen „wie eine Feuerflamme“ und dessen „Gewand in Blut getränkt“ ist, der kommt, „um die Kelter des Weines, des rächenden Zornes Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung“ zu treten (Offenbarung 19,11-17). Wir werden an den Gekreuzigten glauben, aber wir wollen mit den weißen Reiter marschieren.

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Narrative Theologie

Ich schreibe gerade als Co-Autor an einem kleinen Buch über die große Frage „Was ist das Evangelium?“ Es sind ja sehr unterschiedliche Versionen im Umlauf und damit stellt sich sogleich die Frage, wie sich unsere heutigen „Evangelien“ zur Verkündigung Jesu vom nahen Reich Gottes und zur Botschaft der Apostel verhalten.

Nun stellt sich damit auch die Frage, was noch notwendige Elementarisierungen und was schon fahrlässige Verkürzungen der guten Nachricht sind, und ob sie dabei noch eine gute Nachricht bleibt. Und es stellt sich nicht nur die Frage nach dem „was“, von dem da die Rede ist sondern auch nach dem „wie“ – wie es angemessen zur Sprache gebracht werden kann und wie nicht (ein gutes Beispiel der – trotz Bibelzitaten – quasi kontextfreien Totalpropositionierung sind zum Beispiel die „Vier geistlichen Gesetze„).

Roger E. Olson hat einen griffigen kleinen Post zum Thema „Narrative Theologie“ geschrieben, den ich in diesem Zusammenhang sehr hilfreich finde. Ein paar Kerngedanken greife ich kurz heraus.

  • Narrative Theologie gibt der Geschichte Gottes mit seinem Volk, die sich im biblischen Kanon niederschlägt, die zeitliche und sachliche Priorität gegenüber Propositionen, also eher abstrakten dogmatischen (oder ethischen) Lehrsätzen.
  • Lehrsätze können aus dem narrativen Kontext dieses großen Dramas nicht gelöst werden, ohne dabei miss- oder unverständlich zu werden. Ob eine Proposition sachlich angemessen ist, muss immer von der Erzählung her beurteilt werden.
  • Diese Geschichte kann nicht in Lehrsätze überführt werden, sondern sie muss gemeinschaftlich gelebt und weitergeführt werden, Olson spricht von einer „Improvisation“ der weiteren Geschichte.

Ich würde hinzufügen, dass wir diese Geschichte sicher unvollkommen auffassen und verinnerlichen, dass sie auch bei strikt analytischer Betrachtung in eine Vielzahl von Texten und Teilhandlungen zerfällt, uns aber doch immer wieder trotz aller Inhomogenität als ein „Ganzes“ berührt und anspricht. Und so lange es ein lebendiger Umgang mit Gottes Story ist, werden wir immer wieder an den Punkt kommen, wo wir (zunächst oft ohne es im Detail rechtfertigen zu können) intuitive Schlüsse daraus ziehen und genial improvisieren, oder auch spüren, dass irgendetwas einfach nicht richtig ins Muster der Gesamtstruktur passt, selbst wenn man den Fehler in der Herleitung bestimmter Aussagen über Gott noch nicht gefunden hat. George Lindbeck hat das als die Intuition von Heiligen bezeichnet.

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Höllenretter

Rob Bells schönes kleines Buch Love Wins hat ein neues Genre hervorgebracht: Etliche Autoren fühlen sich bemüßigt, die Existenz der Hölle nachzuweisen und erheben sie damit zum normativen Glaubensgegenstand. Auch das verkauft sich gut in einem bestimmten Segment der Christenheit. Jüngst hat etwa Gerth Medien „Hölle Light“ von Francis Chan und Preston Sprinkle veröffentlicht.

Der Untertitel verrät schon den Anspruch von Chan und Sprinkle auf unwiderlegbare Aussagen: „Was Gott über die Hölle sagt, und was wir daraus gemacht haben“. Das Vorwort verrät dann, dass es um Gottes Charakter geht. Genauer: Seine Souveränität. Er darf machen, was er will. Menschen steht kein Urteil darüber zu. Man ahnt schon, wie es vermutlich weitergeht: Nur wer sich in einer Art geistlichen Stockholm-Syndrom dem undurchschaubaren und unbestechlichen Urteil dieses übermächtigen Gegenübers bedingungslos unterwirft, hat Aussichten auf gute Behandlung.

So ganz wird man den Verdacht nicht los, dass mit dem „wir“ im Untertitel die Autoren gar nicht von sich reden, sondern von denjenigen, deren Meinung ihnen missfällt – was Bell aus der Hölle gemacht hat zum Beispiel. Daher wird auch gleich klargestellt, dass es nicht etwa einen Konflikt um eine sinnvolle und sachgemäße Interpretation der Bibel geht, der am Ende vielleicht unterschiedliche Standpunkte denkbar erscheinen ließe, sondern darum, dass hier jemand ganz genau und definitiv sagen kann, was Gott sagt und was nicht.

Kaum eine Frage, dass bei diesen Prämissen die Höllenrettung gelingen wird und sich mancher Leser beruhigt zurücklehnen kann, weil seine vom Hauch des Zweifels leicht zerzauste Welt nun wieder in streng symmetrischer Ordnung ist. Wer kein Geld ausgeben und etwas Interessantes zu dem Thema lesen möchte, kann diesen anregenden Blogpost von Andrew Perriman lesen, in dem er sich mit Tim Kellers Thesen zu eben jenem heißen Thema beschäftigt.

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Saulus/Paulus

Zugegeben, das ist eben so eine Redeweise im Deutschen. Heute las ich sie in den Vorgaben zum Auftakt der Allianz-Gebetswoche, da lautete das so:

Ein Saulus wurde durch die Begegnung mit dem Auferstandenen zu einem Paulus, zu einer radikal veränderten und verwandelten Person.

Tatsächlich (und das weiß natürlich auch der Herausgeberkreis dieser Arbeitshilfe) ist Paulus zum neuen Anfangsbuchstaben nicht durch seine dramatische Bekehrung gekommen, sondern dadurch, dass seine Mission ihn weg aus dem hebräisch-aramäischen Sprachraum in die Welt der griechischen Oikumene führte.

Also muss man entweder sagen, dass der „neue Name“ nichts mit der Veränderung der Person zu tun hat (oder nur mittelbar). Nicht das Damaskuserlebnis, sondern die Aussendung aus Antiochia zur Mission (Apg 13,9) unter den „Heiden“ markiert die Wende. Pointiert gesagt: Nicht Gott macht den Saulus zum Paulus, sondern Lukas.

Man könnte aber auch darüber nachdenken, ob nicht eine „Bekehrung“ im Sinne eines (so wird der Begriff heute oft verwendet) Wechsels bestimmter religiöser Überzeugungen der entscheidende Wandel war, sondern ob das konkrete sich-in-Bewegung-setzen und die folgenreiche Begegnung mit der damaligen Weltkultur das eigentlich Interessante darstellt.

Anders gefragt: Wäre Paulus ein (gewiss christlich-frommer, aber unbeweglicher) Saulus geblieben, wo wären wir heute?

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Verwirrter Engel

Da war er, wie alle Jahre, wieder: dieser unsägliche Spruch des Angelus Silesius, diesmal in einer Facebook-Statuszeile, „und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärst doch ewiglich verloren“. Gewiss gut gemeint, vielleicht ein etwas missglücktes Echo auf Johannes 1,12 im Jargon der Mystik, da redet man eben von der Geburt des Erlösers auf dem Grund der eigenen „Seele“. Was mich trotzdem daran stört?

Erstens die implizite Drohung der ewigen Verlorenheit – die fehlt in der Weihnachtsgeschichte komplett (und selbst die Liedzeile „Welt ging verloren“ meint noch etwas anderes als das). Der Engel spricht vom „ganzen Volk“, dem die Freude gilt, nicht nur denen, die sich das Ereignis in einem noch ausstehenden zweiten Schritt irgendwie aneignen oder eine mystische Erleuchtung erfahren.

Zweitens das Ausspielen äußerer (sozialer und geschichtlicher) Wirklichkeit, auf das die Texte der Weihnachtsgeschichten ja so großen Wert legen, gegen eine innere, die in einem Verhältnis von mehr als 1000:1 im Sinne der inneren Realität steht. Ist es denn wirklich völlig egal, was außen passiert ist, so lange das innen keine Entsprechung findet? Mag sein, dass so ein Satz den Zeitgenossen der schlesischen Engels noch etwas zu sagen hatte, heute in einem zunehmend narzisstischen und geschichtsvergessenen Umfeld, von dem Richard Sennett schon vor Jahren sagte, alles Äußere und Soziale werde ausgehöhlt und nur das zähle, was man als „relevant“ empfinde, ist es schwerlich noch sinnvoll, so zu reden. Warum soll ein Ereignis vor 2000 Jahren für mich heute irgendetwas bedeuten? In der Logik des Angelus Silesius lässt sich das jedenfalls kaum darstellen.

Drittens fehlt die Vorstellung von der „Herzensgeburt“ des Retters aus gutem Grund in den biblischen Schriften. Das Äußere, Geschichtliche und damit eben auch das Soziale – in dem Sinn, dass ich mir diese Botschaft nicht selbst sagen kann, sondern sie von einem, meist ja sogar mehreren Mitmenschen hören muss, und dass sie mich wiederum meinen Mitmenschen gegenüber verpflichtet – ist das Primäre, und eben nicht das Nachgeordnete: Wäre Christus tausendmal in meiner Seele geboren und nicht in Bethlehem, dann hätte das keinerlei Bedeutung für irgendwen auf diesem Planeten. Ich wäre allenfalls ein Freund gnostisch-eskapistischer Spekulationen. Und ich bräuchte niemand anderen außer mich selbst dafür!

Lesslie Newbigin hat all das an Silesius‘ in The Gospel in a Pluralist Society schon vor gut zwei Jahrzehnten kritisiert. Der „Pietist“ würde wie jeder Hindu „die lebendige Beziehung zu Gott“ (im Sinne einer gegenwärtigen, inneren Angelegenheit) als das Eigentliche betrachten und sie vom Geschichtlichen (bzw. dessen mühsamer Erörterung und Interpretation) abkoppeln. Man zieht die mystische Unmittelbarkeit Gott gegenüber der geschichtlichen Vermittlung vor – und gibt dabei den Bezug des Glaubens zur Welt der Geschichte, der Kulturen, der Politik und damit auch unseres konkreten Alltags insgeheim preis.

Ich finde, wer nächstes Weihnachten wieder Silesius zitiert, sollte 1.001 Euro ins Phrasenschwein zahlen oder – besser noch – Newbigins Buch auswendig lernen müssen.

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Offen und unsystematisch: die Bibel

Letzte Woche stellte ich fest, dass eine christliche Zeitschrift gerade einen Auszug aus Kaum zu Fassen veröffentlicht hat, in dem es um die Bibel ging. Die Freude wich nach kurzem Überfliegen der Ernüchterung, weil die Redaktion ganz selektiv alles, was ich dort über die Uneinheitlichkeit der Texte und Widersprüche schreibe (die ich ja nicht erfunden habe, sondern mit denen viele ringen), ausgelassen hatte. Insofern spare ich mir hier den Hinweis auf die Zeitschrift – wen das Thema interessiert, der kann es lieber im Original nachlesen.

Gestern habe ich diesen Passus bei Miroslav Volf in Exclusion and Embrace (erscheint 2012 auf Deutsch bei Francke!) gefunden, der eben das noch einmal betont, was der (gewiss unbewussten) „Zensur“ zum Opfer fiel. Die Vielstimmigkeit der Schrift begründet die Vielstimmigkeit der Weltkirche – und die Freiheit zur wie auch die Notwendigkeit von Kontextualisierung. Weder das eine noch das andere lässt sich auf einen einzigen gemeinsamen, stimmigen Nenner oder in ein geschlossenes System bringen:

Die biblischen Texte sind ein kanonisches Bündel überlappender Zeugnisse aus radikal verschiedenen Kontexten für die eine Geschichte Gottes mit der Menschheit, die in Christi Tod und Auferstehung gipfelt. Die Schrift ist uns in der Form pluraler Traditionen gegeben. Die Texte und ihre zugrundeliegende „Story der Geschichte“, die sie eint […], stellt keinen einheitlichen Traditionszusammenhang dar. Stattdessen setzt sie eine Reihe miteinander verwandter grundlegender Selbstverpflichtungen voraus – Glaubensinhalte und Praktiken. Diese Verpflichtungen können zu Traditionen weiterentwickelt werden. Aber solche Traditionen sind immer Sekundärphänomene, die im Licht der Grundverpflichtung und des kulturellen Kontextes hinterfragt und neugeprägt werden müssen.

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Irisch und ironisch

Also ich mag ja den Rollins – den irischen Akzent, den verschmitzten Humor, das Um-noch-eine-Ecke-mehr-Denken. Auch wenn ich nicht immer einverstanden bin mit dem, was er schreibt. Die Pose des Rebellen und Underdogs wird einem (Nord)Iren ja als zweite Natur in die Wiege gelegt, zugleich wird sie konterkariert durch die Autorenbeschreibung auf dem Buchdeckel, die so auch für etablierte Größen der evangelikalen Szene gelten könnte:

Peter Rollins is a widely sought-after writer, lecturer, storyteller and public speaker nationally and internationally. Es folgen die akademischen Lorbeeren: BA, MA, PhD und dass er momentan in Greenwich, Connecticut lebt.

Weil wir ja aber alle wissen, dass Rollins ein Leitungsverweigerer ist, kann der Verweis auf seine Kompetenz als Meinungsführer ja eigentlich auch nur Ironie sein. Oder?

Zu Beginn von Kapitel 7 von Insurrection erzählt Rollins wieder eine seiner subversiven Parabeln: Gott beschließt nach einem Blick auf die Erde, dass er nun endlich die Spreu vom Weizen trennen sollte. Er ruft vom Himmel all jene, die der Welt entsagt und sich dem Himmel zugewandt haben. Sie werden entrückt, und kaum sind sie oben angekommen, verlässt Gott mit seinen Engeln den Platz auf den Wolken und schlägt sein Zelt auf Erden auf: Bei denen, die um der Welt willen Gott aufgegeben hatten, und freut sich, dass nun endlich die Schafe von den Böcken, die Treuen von den Abtrünnigen geschieden sind.

Ok, die Geschichte ist natürlich schwer konstruiert. Aber was sagt sie eigentlich aus? Bevor wir Rollins seine eigene Interpretation geben lassen, lohnt sich ein Blick auf das, was er hier macht. Manchmal verraten Gleichnisse ja mehr, als der Autor im Sinn hatte:

Die ganze Story hat eine solide dualistische Grundlage: die Gegensatzpaare Himmel/Erde und Gerechte/Ungerechte (oder deren Äquivalent). Rollins stellt den Dualismus hier nicht in Frage, sondern einfach nur auf den Kopf. Statt einen überraschenden dritten Weg zu eröffnen, erklärt er – wenig überraschend, wenn man bis hier durchgehalten hat – den ersten Weg und seine Vertreter für verfehlt. Er scheint aber ganz zufrieden damit, dass die Hölle nun im Himmel ist und der Himmel auf der Erde.

Nun zu den Leerstellen des Gleichnisses. Was überhaupt nicht in den Blick kommen darf, ist ja die Möglichkeit, sich für Gott und die Welt zugleich zu entscheiden. Also muss Gott am Ende die Entscheidung für die Welt und gegen ihn umdeuten in eine Entscheidung für ihn. Dass man sich aus ebenso banalen Gründen für ein Aufgehen in der Welt unter Vermeidung möglichst aller Schmerzen entscheiden kann wie für die fromme Weltflucht, kommt auch nicht in Betracht.

Für sich genommen, bestätigt das Gleichnis also das Dilemma dieses Buches bis hierher: Rollins kritisiert und hat in manchem Recht. Aber irgendwie scheint ihm die Distanz zu fehlen, aus der Negation und der Antithese zu einer konstruktiven Perspektive vorzudringen. Und offensichtlich fällt es ihm auch schwer, so richtig Anschluss an eine nichtdualistische Denktradition zu finden.

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Insurrection (6): die Liebe und der Augenblick

Ich hatte bei der Besprechung des aufmüpfigen Buches von Peter Rollins eine Pause eingelegt. Im sechsten Kapitel setzt er sich mit Transzendenz und Immanenz Gottes auseinander. Die Auferstehung, so setzt er an, ermöglicht eine neue Art zu leben, die das Leid und die Dunkelheit oder Sinnlosigkeit in unserem Leben nicht aufhebt, ihnen aber den Stachel raubt: Wir müssen nicht mehr verzweifeln.

Verzweiflung droht für Rollins da, wo man das irdische Leben als Wartezimmer der Rechtgläubigen für die Ewigkeit versteht (da ist Gott ganz transzendent gedacht) oder Gottes Gegenwart in einem enthusiastischen Geist/Welt-Dualismus auf das Außergewöhnliche begrenzt (wodurch alles andere um so profaner erscheint), oder aber ewig auf der Jagd nach Gott bleibt, ohne seiner je ansichtig zu werden (denn dann wäre die Jagd vorbei und möglicherweise die Enttäuschung groß).

Rollins plädiert dagegen für einen indirekten Zugang zu Gott und er erläutert das so:

Wir betrachten Gott nicht mehr als einen Gegenstand, den wir lieben. Tatsächlich wird die Vorstellung, Gott direkt zu lieben, problematisch. Stattdessen lernen wir, dass Gott in der liebenden Tat selbst gegenwärtig ist. Wir finden das Glück nicht darin, der Welt zu entsagen und unser Sehnen auf das Göttliche zu richten, sondern jetzt begegnet uns das Göttliche in jedem Akt der Liebe der Welt gegenüber. Gott liebt man durch das Werk der Liebe an sich. In der Liebe finden wir neuen Sinn, Freude und Erfüllung.

So, erklärt Rollins, behalten wir Gott gegenüber eine Distanz und finden ihn zugleich. Das erinnert von fern an Luthers Kreuzestheologie, wo dieser davon spricht, dass man Gott wie Mose auf dem Berg Sinai nicht direkt, sondern nur „von hinten“ erkennen kann. Aber dann dreht Rollins das Ganze noch einmal um. Wenn man einen Menschen liebt, dann wird dieser Mensch durch unsere Liebe zu einer ganz besonderen, einzigartigen Person – aber nicht deshalb, weil sie oder er das „objektiv“ wäre, sondern weil unsere Liebe ihn zu diesem Mysterium macht:

Wenn wir Gott als den Gegenstand betrachten, den wir lieben, dann erleben wir immer eine Distanz zwischen uns und der letztgültigen Quelle unseres Glückes und Sinns. Wenn wir Gott in der Liebe selbst finden, bringt uns der Akt der Liebe in eine unmittelbare [!] Beziehung zur tiefsten Wahrheit überhaupt.

Man ist geneigt zurückzufragen, wie das nun gemeint sein soll:

  • Zu Gott gibt es nur eine mittelbare Beziehung, exklusiv vermittelt durch die gelebte Liebe, zur Liebe dagegen gibt es eine unmittelbare Beziehung?
  • Weil sie meine Tat ist?
  • Weil ich als Liebender an ihr teilhabe – aber gälte das nicht genauso mittelbar oder unmittelbar auch für Gott?
  • Was qualifiziert meine Tat eigentlich als Liebe: Meine gute Absicht, ihre („objektiv“) gute Wirkung, wie sie bei anderen (subjektiv) „ankommt“?
  • Wie passt dazu die Aussage aus 1.Johannes 4, dass Gott die Liebe ist?
  • Will Rollins hier alle metaphysischen, auf den deus-ex-machina hinauslaufenden Aussagen über Gott umgehen – und macht er damit unter der Hand nicht doch wieder „die Liebe“ zu einer quasi-metaphysischen Größe?

Und nun schwenkt Robins wieder zurück. Die Liebe selbst erscheint ja gar nicht, sondern sie lässt nur den geliebten Menschen für uns größer, wundersamer und besonderer erscheinen. Sie stellt andere nicht in ihren Schatten, sondern rückt sie ins Licht (hier würde sich ja ein Schwenk zur johanneischen Pneumatologie anbieten, aber Rollins lässt die Gelegenheit aus).

Rollins fährt fort: Sie, die Liebe, ist die höchste Wahrheit überhaupt. Nur die Liebe erkennt in dem Gekreuzigten den Sohn Gottes. Dass wir lieben, verändert alles Erleben. Und da wahre Liebe den anderen immer um seiner selbst willen liebt, lieben wir genau genommen nicht den anderen um Gottes Willen, sondern wir lieben Gott in unserer Zuwendung zum anderen mit.

(Spätestens hier müsste man nun unbedingt vom Heiligen Geist als der Kraft reden, die es uns ermöglicht, uns der Welt in Liebe zuzuwenden, statt uns in der Liebe zu Gott von ihr abzuwenden, der es möglich macht, dass meine menschliche Liebe diese göttliche Qualität bekommt, ohne dabei aufzuhören, meine Liebe und wahrhaft menschliche Liebe zu bleiben).

Rollins dagegen zitiert wieder Bonhoeffer: Am Kreuz hat sich Gott aus der Welt hinausdrängen lassen, darum geht es für Christen darum, zu leben etsi deus non daretur („als gäbe es keinen Gott“). Erwachsener Glaube kann diese Abwesenheit Gottes und unsere Gottesferne annehmen, weil darin das Paradox schlummert, dass wir „vor Gott und mit Gott ohne Gott“ leben.

Glaube und Liebe sind von daher nicht zwei verschiedene Dinge: Man glaubt nur insofern, als man liebt! Weil das aber so ist, kann ein Christ die Frage nach der Existenz Gottes nicht mit einem herzhaften, ungebrochenen „Ja“ beantworten, sondern er muss sagen: „Darum geht es mir“ oder noch besser „Frag meine Feinde“. Gottes Existenz ist nur darin erkennbar, dass wir Gutes tun, ohne nach einem Lohn dafür (den „Himmel“, Gottes Wohlwollen, Beifall anderer) zu schielen. Genau dazu befreit der Glaube an die Auferstehung: Das Leben uneingeschränkt und furchtlos zu bejahen, selbstlos zu lieben ohne zu berechnen, was es denn „bringt“, uns von der Idee eines vorbestimmten Schicksals zu verabschieden. Und dann hört man gegen Ende des Kapitels nach dem Existenzialisten Kierkegaard beinahe noch Rudolf Bultmann reden, wenn Rollins schreibt, die Frage nach einem Schicksal sei nur so zu beantworten:

Alles, was mich zu genau diesem Augenblick geführt hat, dem Augenblick, in dem ich resolut über den nächsten Schritt entscheiden muss, ohne irgendeinen kosmischen Beistand (S. 135).

Ist das, was Rollins schreibt, nichts als sattsam bekannter Existenzialismus, oder doch etwas mehr? Das werden wohl erst die nächsten Kapitel aufklären. Unklar bleibt manches deshalb, weil Rollins sich durchaus auf Inkarnation und Kreuz beziehen kann, ja seine Thesen darauf begründet, zugleich sich aber dagegen wehrt, Glaube mit irgendeinem sachlich-dogmatischen Gehalt oder Aussagen über irgendetwas „da draußen“ zu verknüpfen. Kann das denn gut gehen? Und legt er mir mit den Aussagen dieses Kapitels nicht die schwer zu schulternde Last auf, mein eigener Gottesbeweis zu werden? Hat er den Gedanken an einen in der Geschichte handelnden Gott aufgegeben oder für irrelevant erklärt, wenn er derart steil auf das menschliche Subjekt abzielt?

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Der Karneval der Seelen

Ein lustiger Zufall, dass ich diesen Post am 11.11. schreibe: Peter Rollins fragt Im fünften Kapitel von Insurrection nach den Ängsten, die uns zu allerlei Versteckspielen treiben. Mit Tillich (hier nennt er erfreulicherweise seine Quellen) identifiziert er die Angst vor dem Tod und der Sinnlosigkeit, die es jeweils in milder und akuter Form gibt. Der „religiöse Gott“ dient als Schutz gegen beides, wir weichen ihnen aber auch aus durch Flucht in Zerstreuung und Konsum oder in die Arbeit – alles was verhindert, dass wir zu sehr ins Nachdenken kommen und uns den Ängsten stellen müssen.

Freud wies darauf hin, dass uns das Verdrängte im Traum einholt, mit Lacan und Zizek deutet Rollins an, dass man aber auch vor der existenziellen Wahrheit eines Traumes wieder in den Wachzustand „flüchten“ kann. Die Geschichten, die wir über uns erzählen und die unsere Identität beschreiben, können ähnlich irreführend sein wie die selektiven und geschönten Selbstdarstellungen, zu denen uns soziale Netzwerke verleiten. Die Wahrheit über uns erfahren wir, wenn wir auf das schauen, was wir konkret tun.

Aber wir haben gelernt, mit der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu leben – wir ironisieren unser Selbstbild einfach. so gelingt es uns, auch vor uns selbst zu verschleiern, was uns wirklich antreibt. Wir müssen nicht hinter bzw. unter der Oberfläche suchen, sondern es liegt alles offen zu Tage, und gerade so ist es am raffiniertesten versteckt, indem es gerade nicht versteckt wird. Das „Herz“ eines Menschen, sagt Rollins mit Bonhoeffer, ist nicht das unsichtbare Innenleben, sondern es liegt offen zu tage, aber wir können es oft genug nicht entschlüsseln – so wie in einem Krimi oft alle Indizien auf dem Tisch liegen und man trotzdem nicht auf Anhieb sagen kann, was die Lösung des Rätsels nun ist. Wir aber bleiben uns selbst oft genug ein Rätsel.

Die Differenz zwischen dem, was wir glauben und wie wir handeln, ist ein beliebter Topos für Moralpredigten. In Wirklichkeit, sagt Rollins, stimmt das so nicht. Wir leben so, weil wir in Wirklichkeit glauben, dass das richtig oder besser ist, oder dass die Welt nun mal so funktioniert. Er bezieht sich hier auf Paulus, der schreibt, dass das Gesetz nicht nur vor der Sünde warnt, sondern zugleich den Anreiz zur Übertretung darstellt. Und als solches hält es uns in einem Dauerkonflikt gefangen, aus dem nur die Gnade befreit.

Das Thema Gnade illustriert Rollins dann mit eine fiktiven Geschichte von einem Sohn, der gegen seinen Vater, einen asketischen Gutmenschen, rebelliert, bis dieser jegliche Erwartung, sein Sohn könne sich ändern aufgibt. In just diesem Moment ist der Weg für den Sohn frei, sich zu verändern. Das ist eine schöne Geschichte, aber eben auch wieder erstaunlich konventionell in der Konkretion (so wie im vierten Kapitel der Verweis auf Mutter Theresa ja auch kein theologisches Sondergut darstellte. Predigten, die seinen Lösungsvorschlag aufnehmen, habe ich oft und an vielen unterschiedlichen Orten gehört). Insofern ist es dann wieder irritierend, wenn Rollins diese vermeintlich bahnbrechende Erkenntnis mit dem Hinweis versieht, die Kirche in ihrer heutigen Gestalt sei eine Veranstaltung, deren Struktur und Gottesbild darauf angelegt sind, Angst zu vermeiden und den Status quo zu garantieren statt für Veränderung zu sorgen und Verunsicherung zuzulassen.

Rollins beschreibt intelligent und aufmerksam Strategien der (Selbst-) Täuschung. Seine Lösung ist dann weniger originell als seine Analyse, und mit der pauschalisierenden Kritik und Abwertung anderer wirft er zwischen den Zeilen die Frage auf, ob er nicht immer wieder denselben Täuschungsmechanismen erliegt, die er so scharfsinnig seziert. Wahrscheinlich würde er das gar nicht bestreiten…?

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Insurrection (5): Neuer Erfahrungsfundamentalismus?

Zu Beginn des Zweiten Teils von Insurrection fasst Peter Rollins sein Verständnis der Kreuzeserfahrung (und damit des Beginns des eigentlichen Glaubens) noch einmal zusammen:

Am Kreuz stirbt Gott als psychologische Krücke und eine tief empfundene dunkle Nacht der Seele bricht über uns herein. (S. 82)

Rollins beschreibt hier beim Umschalten von Dekonstruktion auf Rekonstruktion (s)eine menschliche – und damit psychische (!) – Erfahrung, vor allem macht er dabei aber auch zwei Annahmen:

  1. Alle Menschen beginnen mit einer falschen Gottesvorstellung und missbrauchen Gott als „Krücke“, wodurch er zum Deus-ex-Machina wird, der garantiert, dass alles bleibt, wie es ist.
  2. Wer die existenzielle Verlusterfahrung der dunklen Nacht nicht gemacht hat, hat das Kreuz und damit Gott und den Glauben nicht verstanden

Bei aller berechtigten Kritik am Fundamentalismus, die Rollins immer wieder übt, erinnert das auch nicht unerheblich an das Motiv des „Bußkampfes“ im Hallischen Pietismus (der war ein existenzielles Verzweifeln an der eigenen Sündhaftigkeit), nur dass statt Bußkampf hier eben nun eine andere Erfahrung zum Schlüsselerlebnis des Glaubens erklärt wird, nämlich ein existenziell empfundener Verlust der Nähe Gottes.

Zinzendorf hatte sich an diesem Punkt (des Bußkampfes) von Francke abgewandt, damit hat er den Pietismus aus der Fixierung auf ein bestimmtes Erleben befreit. Ich bin mir daher nicht sicher, ob ich Rollins bei seiner Auffassung folgen möchte. Es könnte der Weg in einen Erfahrungsfundamentalismus werden, nur eben in einer etwas anderen Färbung. Aber vielleicht relativiert Rollins das noch im weiteren Verlauf und umschifft die tückischen Klippen.

Und so schrecklich weit weg von Descartes typisch modernen Rekurs auf den radikalen Zweifel als den Ursprung neuer Gewissheiten liegt er damit auch nicht entfernt – es bleibt also spannend.

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