Ikone mit Kratzern

Ein Bericht in der Zeit lässt die Theologenwelt aufhorchen: Otto Michel, bekannter Neutestamentler und Professor für Judaistik in Tübingen, war Mitglied der NSDAP und zweitweise auch in der SA, hatte das aber zeitlebens verschwiegen. Das wäre vielleicht kaum der Erwähnung wert, wenn Michel nicht nach dem Krieg das Image des Widerstandskämpfers gepflegt hätte und darüber auch seine guten Kontakte zu bekannten jüdischen Denkern.

Neben dieser „Lebenslüge“ beleuchtet der Artikel auch den Einfluss der Nazis an der Uni in Tübingen und auch noch einmal die Rolle von Gerhard Kittel im dritten Reich. Michel hat sich nach 1945 von dem Antisemiten Kittel deutlich abgesetzt und sich für eine Rückkehr zum „jüdischen Denken“ ausgesprochen, über die bis heute immer wieder diskutiert wird. Unter anderem wirkte Michel, der aus einem „erwecklichen“ Hintergrund stammte, auch an der Gründung des Bengelhauses in Tübingen mit.

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8 Antworten auf „Ikone mit Kratzern“

  1. Jon, hab den Artikel auch gelesen. Echt ein starkes Stück und ziemlich traurig, dass Michel sich Zeit seines Lebens nie dazu bekannt hat. Wie ich mich in solch einer Situation verhalten hätte, weiß ich natürlich auch nicht. Jedenfalls stelle ich es mir unglaublich stressig vor, solch eine Vergangenheit immer geheim halten zu müssen. Wenn ich mich recht entsinne, sprach der Artikel auch von Erleichterung seitens seiner Frau, als ein erstes Stück dieser Vergangenheit ans Tageslicht kam.

  2. Warum „Lebenslüge“ in Anführungszeichen?
    Was ich viel schockierender finde als die Umdefinition seiner Vergangenheit ist der andere Themenstrang im Zeit-Artikel, nämlich daß er – wie auch immer – zu einer Torah-Holzscheibe gekommen ist und sich nie darum bemüht hat, heruaszufinden, woher diese stammt und sie zurückzugeben.

  3. @Iwe: Die Anführungszeichen hatte ich gesetzt, weil es in dem Zeit-Artikel stand. Klar, Kontakte hätte er ja genug gehabt, um die Scheibe zurückzugeben.

  4. Oh, das ist ja echt krass. Den Namen Otto Michel“ verbinde ich immer mit seinem Römer-Kommentar, von dem ich während des Studiums sehr begeistert war.

    Ich habe gerade eben erst „Theologie und Anti- Judaismus. Eine Studie zur deutschen Literatur der Gegenwart“ von Charlotte Klein gelesen. Das ist erschreckend. Denn ganz Allgemein gesprochen muss man immer noch sagen, dass die evangelische Theologie ihre antijudaistische und antisemitische theologische Vergangenheit nicht in dem Maße aufgearbeitet, wie es hätte passieren müssen. Wenn man sich Schleiermachers oder Bultmanns Aussagen (um einmal zwei Koryphäen evangelischer Theologie zu nennen) über den Wert des ATs und des Judentums anschaut, wird einem Angst und Bange. Von vielen anderen (von Harnack!!) ganz zu schweigen.

    Nun ist zwar die SA und die NSDAP Mitgliedschaft eines Michel definitiv ein anderes Kaliber, aber doch die gleiche Stoßrichtung. In dem Maße, wie Schleiermacher, Bultmann und Co. die jüdische Theologie und das AT quasi beseitigen wollten, wurde ja dann das dazugehörige Volk beseitigt.

    Wer meint, dass ist etwas übertrieben, mag sich gerne einmal die Originaltexte durchlesen. Ich habe es nicht für möglich gehalten.

  5. Ich habe Prof. Michel, als Liebenzeller Student während meiner Bibelschulausbildung persönlich in Tübingen besucht und Ihm fragen gestellt. Sein ganzes Wesen und die mir geschenkte Zeit empfand ich als tröstend und tief Väterlich. Jetzt muß ich hören das er bei der NSDAP und zeitweise wohl auch bei der SA Mitglied war.

    Ich bin deutscher Zigeuner und Prof. Michel damals getroffen zu haben, war für mich eine Gebetserhörung.

    Herr Jesus erhalte mir ein Gesegnetes Andenken an meinen lieben alten Väterlichen Professor!
    Denn, ich bin auch nicht besser!

    Garry Peter

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