Erhöhte Radioaktivität

unsplash-logoFelipe Belluco

In den nächsten Tagen könnt Ihr mich, wenn Ihr mögt und Zeit habt, im Radio hören. Diesmal beim Bayerischen Rundfunk in „Auf ein Wort“. Gestern haben wir in München sieben Mini-Andachten aufgenommen. Weihnachten und der Jahreswechsel sind ja keine ganz einfachen Anlässe. Es hat aber bei aller Anstrengung Spaß gemacht und ich hoffe, das merkt man auch, wenn man die Sendungen hört.

Morgen geht es los – abends kurz vor zehn auf Bayern 3 und (außer Sa/So) kurz vor elf auf Bayern 1. Weiter dann am Heiligabend, am 26., 28. und 30. Dezember und am 2. und 4. Januar im neuen Jahr.

Wer da anderweitig beschäftigt ist oder es verpasst hat, kann es im BR-Podcast nachhören. Und wer regelmäßig diesen Blog liest, wird das eine oder andere Motiv vielleicht wiedererkennen.

Share

Gott spielen

Im Krippenspiel am Heiligabend spielt Gott mit. Er trägt Pferdeschwanz und Brille und geht in die siebte oder achte Klasse.  Anscheinend hat Gott dem Religionslehrer von seiner Rolle erzählt. Der fragte prompt zurück, ob das nicht eine sehr persönliche Vorstellung von Gott sei, wenn er da leibhaftig mitspielt. Gott schaut mich fragend an, ich bin ja der Pfarrer. Wenn das ein Problem sei, antworte ich, dann dürften wir ja auch nicht „Vater unser im Himmel“ beten. Gott nickt zufrieden und spielt weiter.

Natürlich ist Gott in einem anderen Sinn Person als wir. Das Attribut bezeichnet „nur“ eine Ähnlichkeit. Aber ihn als Nichtperson zu betrachten wäre noch viel falscher. Vielleicht sind wir manchmal nicht Person genug, um Gott sinnvoll abzubilden. Eine Grundähnlichkeit bleibt allerdings. 

Ursprünglich hatten wir eine andere Besetzung im Auge, mit erkennbarem Migrationshintergrund, aber der streng (christlich-) religiöse Vater verbot dem Darsteller den Auftritt mit Verweis auf das mosaische Bilderverbot. Dieses bezieht sich jedoch nicht auf Gott allein, sondern auf Lebewesen aller Art. Buber übersetzt: 

„Nicht mache dir Schnitzgebild, — und alle Gestalt, die im Himmel oben, die auf Erden unten, die im Wasser unter der Erde ist.“

Ex 20,4

Jede Art gegenständlicher religiöser Kunst wäre damit streng genommen tabu. Wenn wir aber wie hier über Schauspiel sprechen, darf man ja nicht übersehen, dass Gott im Ersten Testament rituell ständig repräsentiert wird, nämlich durch Priester. Also Menschen. 

unsplash-logoBen Sweet

Das eigentliche Problem liegt darin, dass wir meinen könnten, ein ganz bestimmter Mensch sei exklusiv Gottes Bild und Stellvertreter. Oder dass unsere Inszenierungen von Macht, Reichtum und Schönheit Annäherungen an Gott darstellen. Der Menschensohn, das authentischste Bild Gottes, das wir haben, fällt nicht in diese Kategorie des Spektakulären. Vielmehr weiß der Prophet:

Wie ein Keimling stieg er auf vor sich hin, wie eine Wurzel aus dürrer Erde, nicht Gestalt hatte er, nicht Glanz, daß wir ihn angesehn hätten, nicht Aussehn, daß wir sein begehrt hätten, 

Jes 53,2 (Buber)

Wenn wir dann noch ernst nehmen, dass Gottes Geist auch in Menschenkindern wirkt, die Pferdeschwanz und Brille tragen, in die achte Klasse gehen oder sonst irgendwelche gewöhnlichen Dinge tun – wie wir alle –, dann sollte es auch kein Problem sein, ihn am Heiligabend mitspielen zu lassen. 

Und wenn uns Weihnachten daran erinnert, dass Gott nun ganz viele menschliche Gesichter hat, dann kommen wir vielleicht nicht so schnell auf die Idee, Gott zu spielen. Wie manche Eltern im Leben ihrer Kinder. Wie manche Chefs und Professoren. Wie manche Ärzte und Wissenschaftler oder auch Pfarrer und Bischöfe. Wie manche – nein, alle! – Kriegsherren.

Dann hätte sich der ganze Aufwand gelohnt.

Share

Vom Himmel hoch?

Vielleicht gibt es wirklich spirituelle Menschen, aber der sichere Test, sie  von den falschen zu unterscheiden, besteht darin, ob sie ihre Gesprächspartner »nach oben« führen, indem sie versuchen, den Wegen der Information mit anderen Mitteln Konkurrenz zu machen, oder sie im Gegenteil nach und nach herabführen zu Sprechakten, die den Sprecher transformieren, ohne seinen Wissensdurst im geringsten zu schmälern. (…)

Das Beste wäre noch (…) sich ein paar Jahre den Reflex abzugewöhnen, Religion mit Höhe zu verbinden.

Bruno Latour, Jubilieren, S. 53

Share

Wer ist verloren?

Für Bruno Latour ist die Religion kaputt: Sie ist unverständlich und selbstreferenziell geworden, sie spaltet die Menschen in Insider und Outsider, Gläubige und Ungläubige, statt zwischen ihnen Brücken zu bauen. Es hat vor allem mit der Sprache zu tun. Statt sie lebendig zu halten, haben die Kleriker sie eingefroren und festgeschrieben.

In der Religion gibt es wie in der Wissenschaft Artefakte, die es sorgsam abzubauen gilt. Denn die Zeit vergeht, die Wörter, die Sinn hatten, verlieren ihn. Die aber, deren Beruf darin besteht, die Wörter zu ändern, um den Sinn zu bewahren, die Geistlichen, haben es vorgezogen, die Wörter fromm zu bewahren, auf die Gefahr hin, den Sinn zu verlieren. 
… Indem sie ihr Erbe zu schützen glaubten, verschleuderten sie es.

Inzwischen ist die Distanz kaum noch zu überwinden. Aber damit findet er sich nicht ab:

Ich habe weit Besseres zu tun, als in den Schoß der Gemeinde zurückzukehren, denn nicht mehr ein Schaf hat sich verirrt, die ganze Herde samt Weide, Tal, Gebirge, samt dem ganzen Erdteil ist unterwegs verlorengegangen; ja, es ist am Hirten, zur Herde zurückzufinden, es ist am Schoß, an der Schäferei, am Bauernhof, am Dorf, sich wieder auf den Weg zu machen, um die verlorene Zeit einzuholen, das verheißene Land wiederzugewinnen, das sie brach hinter sich ließen.

Bruno Lautour, Jubilieren

Share

Barmherzigkeit triumphiert

Diese Formulierung aus dem Predigttext von heute klingt immer noch nach. In einer Zeit, in der sich Gesellschaften spalten und in der viele politische Auseinandersetzungen immer unbarmherziger geführt werden, klingt das wie eine Stimme aus einer fremden Welt.

Vielleicht ist es ja das, was wir wieder neu in den Mittelpunkt rücken müssen. Barmherzigkeit heißt doch: Auch die Person auf der anderen Seite des Grabens, der sich zwischen uns auftut, hat Anspruch auf mein Mitgefühl. Der Graben ist zudem weit weniger tief und fundamental, als er oft scheint. In Wirklichkeit verbindet uns viel mehr, als uns trennt: Meinungen und Überzeugungen trennen uns, aber die können wir verändern und auswechseln. Was unveränderlich bleibt, das ist unser verletzliches Menschsein, unsere Sehnsüchte und Bedürfnisse, Hoffnungen, Ängste und Schmerzen.

Joey Yu

Vielleicht erleben wir das noch einmal: Barmherzigkeit triumphiert über das Verurteilen. Denen gegenüber, die andere besonders vehement verurteilen, barmherzig zu bleiben, ist freilich ein Kunststück. Recht geben können wir ihnen ja nicht. Sie mit derselben Abscheu zu verurteilen, mit der sie anderen begegnen, würde aber bedeuten, denselben Fehler zu begehen wie sie. Nein, diese Unterschiede werden erst einmal bleiben und man darf sie auch offen benennen.

Aber parallel dazu könnte es Wege geben, im Kleinen wie im Großen, die Gemeinsamkeiten wieder stark zu machen. Kirche wäre ein Ort, das auch abseits der Tagespolitik immer wieder geduldig zu üben und andere dazu einzuladen.

Share

Memento

Im Umkleideraum eines Nürnberger Friedhofes steht ein Kassettenrecorder auf dem Fenstersims.  Er ist alt, etwas staubig und die Abdeckklappe ist herausgebrochen. Schwer zu sagen, ob er noch benutzt wird oder nur deswegen nicht in den Müll gewandert ist, weil niemand mehr weiß, wem er gehört.

Eigentlich passt er gar nicht so schlecht an diesen Ort: Auf seine Art ist er auch ein Memento Mori.  Es ist schon Jahre her, dass ich eine Kassette in der Hand hatte. Und dann auch nur, um sie wegzuwerfen.

Ich spüre einen Anflug von Nostalgie: So vergänglich ist Technik. Immerhin, Vinylplatten erleben ein Comeback im Smartphone-Zeitalter. Es gibt also in der Welt der Tonträger so etwas wie eine Auferstehung.

Steht der traurige Kassettenrekorder noch lange genug herum, um die Auferstehung seines Systems zu erleben? Ich kann gut ohne die ollen Magnetbänder leben. Es gibt ja die Vorstellung, dass Gott uns Menschen bis zur Neuschöpfung der Welt im Gedächtnis hält. Quasi ein Speichermedium, das seit Milliarden von Jahren funktioniert, ohne an Kapazitätsgrenzen zu stoßen, dem Verschleiß zu erliegen oder inkompatibel zu werden.

Als wäre ich ein Song auf seinem großen Mixtape. Und irgendwann holt er es hervor, spielt es ab und singt dazu. Und während er singt, passiert das, was immer passiert: Seine Worte werden fassbare und fühlbare Wirklichkeit.

Share

Wie Achtsamkeit und Absichtslosigkeit zusammengehören

Gestern las ich auf Spektrum.de das hilfreiche Interview mit Thomas Joiner über die Vermarktung von Achtsamkeit. Dabei erinnerte ich mich wieder an eine Gesprächsrunde über Spiritualität vor einigen Wochen. Dort standen wir schon vor der Schwierigkeit, dass Spiritualität (die viel mit Achtsamkeit zu tun hat, aber noch mehr umfasst) eigentlich in dem Moment schon kompromittiert ist, wo ich sie als Mittel zum Zweck verstehe.

Absichtlich Absichtslos?

Absichtslosigkeit ist hier das Stichwort. Ich muss das kurz erklären. Absichtslos zu handelt, bedeutet: Ich tue, was ich tue, nicht um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Der Zweck – wenn man überhaupt davon reden will – liegt vielmehr in dem, was ich tue. Nehmen wir ein Seelsorgegespräch. Ich denke, es verläuft anders, wenn es nicht meine Absicht ist, mein Gegenüber in einer bestimmte Richtung zu lenken. Dann kann ich einfach da sein, Zeit und Aufmerksamkeit schenken. Ich muss aber hinterher meine Performance nicht bewerten und auch nicht den therapeutischen Ertrag. Beim Gebet ist es dasselbe. Statt von »Absichtslosigkeit« könnte man (mit Einschränkungen) auch von »Ergebnisoffenheit« oder (besser) von »Selbstvergessenheit« reden.

Mein Eindruck ist, dass viele der Wirkungen von Meditation eigentlich Nebenwirkungen dessen sind, dass ich mich für eine tiefere, spirituelle Wirklichkeit öffne. In dem Augenblick, wo diese Effekte nicht mehr unbeabsichtigt sind, verändert sich der Charakter dessen, was ich tue. Die biochemischen und neurologischen Wirkungen etwa von Atemübungen sind durchaus real. Aber ich bleibe dabei immer noch der Mittelpunkt meiner Realität, mein Befinden das Maß der Dinge.

Daniil Kuželev

Empfänglich werden

Ich denke, es ist völlig in Ordnung, Dinge zu tun, von denen ich merke, dass sie mir gut tun. Das an sich lässt sich mit einer absichtslosen Haltung durchaus verbinden. Spaziergänge im Grünen etwa tun mir gut. Schwierig wird es, wenn diese Spaziergänge dazu dienen, mich in anderen Bereichen und zu anderen Zeiten mit einem Lebensstil zu arrangieren, der Raubbau an meinen Ressourcen und denen der Natur bedeutet. Also draußen in der Schöpfung „aufzutanken“, um danach meiner Natur und der Natur um mich herum zu schaden. Aber es könnte ja auch sein, dass mich der Spaziergang sensibilisiert für das zarte Gleichgewicht, für die vielen verschiedenen Lebewesen und deren Bedürfnisse. Vielleicht stellt sich sogar eine Harmonie ein.

Ich bin, so betrachtet, nicht darum bemüht, eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Vielmehr werde ich empfänglich für Einwirkungen, die das Alltagsbewusstsein oft ausblendet. Manche kommen tief aus meinem Inneren, vom Grund der Seele. Andere kommen eher von außen, oder von „oben“. Räumliche Metaphern sind da etwas schwierig, aber als körperliche Wesen kommen wir kaum ohne sie aus.

Indem ich die wertende Dauerfrage des Alltagsbewusstseins („Was bringt’s mir?“) zurückstelle, schaffe ich die Möglichkeit, dass sich Unerwartetes ereignet. Absichtslose Achtsamkeit dezentriert mich also in gewisser Weise. Ich trete einen Schritt zu Seite, um zu defokussieren und den inneren Richter auszuschalten. So können andere Seiten meiner selbst und meiner Beziehungen zu dem, was mich umgibt, in den Blick kommen. Das ist dann schon etwas anderes als die von Joiner bemängelte Achtsamkeitspraxis, die im Selbstbezug stecken bleibt.

Zuletzt: Auch Gott kann sich mir dabei zeigen oder zu mir sprechen. Freilich ist  das weder machbar, noch kann ich es zur Bedingung dafür erheben, still zu werden. Kontemplation ist in erster Linie eine Haltung, keine Technik. Und Übungen können helfen, diese Haltung einzunehmen und zur Gewohnheit zu machen.

Share

Das Reich Gottes (3) – es bewegt sich was

Ein letzter Gedanke zum Thema Reich Gottes (bzw. der Gottesherrschaft). Es ist kein Projekt und es lässt sich nicht ohne weiteres lokalisieren, objektivieren oder definieren. Das hat mit dem Beziehungs- und dem Ereignis- oder Widerfahrnischarakter zu tun, der Gottes Handeln ausmacht. Wenn es in die Gegenwart einbricht, dann als Vorwegnahme der Zukunft Gottes. Es weckt eine bleibende Sehnsucht nach dieser Zukunft, es schafft Erwartung und Hoffnung, es lässt Gottes Möglichkeiten erkennen. Kurz: Es setzt etwas in Bewegung auf diese Zukunft hin.

Mir sind dafür vier Beschreibungen eingefallen:

Von der Trennung zur Verbindung

Wo immer Gottes Reich anbricht, da schafft es Verbindungen. Jesus sammelt und beruft Menschen. Andere Bindungen werden dafür gelockert oder gar gelöst, aber unter dem Strich bleibt ein Zuwachs an Beziehung, kein Schwund. Das macht es so problematisch, wenn ganze Kirchen sich in die gesellschaftliche oder ökumenische Isolation begeben und wenn einzelne Menschen sich aus Angst oder Verachtung der „Welt“ gegenüber aus dieser zurückziehen. Gottes Reich schafft Offenheit für neue Verbindungen, freilich ohne dabei bei einer Beliebigkeit zu landen. Denn es geht um generative Beziehungen, nicht um autoritäre und parasitäre Verhältnisse. Oder anders gesagt: Es geht um Liebe und Fürsorge, nicht um Ausbeutung und Unterdrückung.


Anders Jildén

Von der Ohnmacht zum Mutanfall

Wo immer Gottes Reich sich ausbreitet, da werden Menschen von Ohnmacht befreit. Sie entdecken sich nicht nur als Empfänger von Gottes Wohltaten und denen anderer Menschen, sondern sie erleben, dass auch ihr eigener Beitrag zählt und wirkt. Oft gehören sie ja nicht zur überschaubaren Gruppe der mover and shaker. Alles ist möglich, wenn jemand glaubt sagt Jesus – nichts ist mehr alternativlos. Selbst in aussichtslosen äußeren Situationen wie einem Gefängnis oder einer Diktatur ist da noch das Gebet, das Kraft entfaltet. Und zwar nicht nur auf die betende Person selbst, sondern (zumindest nach biblischen Aussagen und Vorstellungen) darüber hinaus auf Gott und die Außenwelt. Sophie Scholl, die durch ihren Mut wahrlich viel bewegt hat, schrieb am 15. Juli 1942:

„O, ich bin ohnmächtig, nimm Dich meiner an und tue mir nach Deinem guten Willen, ich bitte Dich, ich bitte Dich. Dir in die Hand will ich meine Gedanken legen an meinen Freund, diesen kleinen Strahl der Sorge und der Wärme, diese winzige Kraft, verfüge Du mit mir nach Deinem besten, denn Du willst es, dass wir bitten und hast uns auch im Gebet für unseren Bruder verantwortlich gemacht. So denke ich an alle anderen. Amen.“

Von der Konkurrenz zur Kooperation

Die dritte Bewegung folgt aus den ersten beiden. Wenn neue Verbindungen  und neue Optionen entstehen, dann hören all die Nullsummenspiele auf, bei denen der Gewinn des einen zum Verlust des anderen führt. Sie waren schon immer ein Irrtum. Aus dem Gegeneinander kann ein Miteinander werden: sozial, wirtschaftlich, kulturell und politisch. Bei den ersten Christen hat das funktioniert. Sie haben die destruktiven Gegensätze zwischen Ethnien, Geschlechtern und Klassen (vgl. Gal 3,28) in ein Miteinander verwandelt, in dem keiner ohne den anderen sein wollte und sollte. Und wenn die Schätze der Völker der Erde in der Offenbarung des Johannes ins neue Jerusalem gebracht werden, dann ja gerade nicht von einem Siegervolk, das alle anderen unterworfen hat.

Vom Mangel zur Fülle

Jesus hielt sich viel unter der armen Landbevölkerung auf. Immer wieder erzählen Geschichten von plötzlichen Erfahrungen der Fülle und des Überflusses. Bei der Hochzeit zu Kana, der Speisung der Fünftausend, der extravaganten Salbung. Immer wieder klingt in seiner Verkündigung des Reiches Gottes die Erwartung und das Vertrauen an, dass gieriges Hamstern nicht reicher und glücklicher und großzügiges Teilen nicht ärmer und elender macht. Aus einem winzigen Senfkorn wächst ein riesiger Baum. Dahinter steht die Vorstellung von Gottes unerschöpflicher Großzügigkeit. Sie macht es möglich, einander die Schulden zu erlassen. Anders gesagt: Sie ist die Grundlage menschlicher Freiheit.

Gewiss lassen sich noch weitere Bewegungen bestimmen, die Gottes Reich charakterisieren. Für mich sind das Sehhilfen in Momenten, wo es mir gerade schwer fällt, Gott am Werk zu sehen. Und Entscheidungshilfen, wenn ich mich frage, wo hinein ich meine begrenzte Kraft investieren soll. Und wenn wir beten „Dein Reich komme“, dann stelle ich mir solche Veränderungen und Bewegungen vor.

 

Share

Das Reich Gottes (2) – und warum man nicht drauf zeigen kann

Das Reich Gottes ist nichts, was Menschen „bauen“ könnten, sondern die Kritik aller menschlichen Projekte, hatte ich vor ein paar Tagen geschrieben.

Es steht aber auch nicht als etwas vom Himmel Gefallenes neben anderen (nicht vom Himmel gefallenen, also „irdischen“) Dingen in der Welt. Es lässt sich nicht objektivieren als etwas, auf das man zeigen kann. Jesus sagt in Lukas 17,21: „…man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! , oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“

Nicht „dingfest“ zu machen

Um das zu verstehen, kann man auf ein rein innerweltliches Phänomen verweisen: das Internet.  „Das Internet“ kann man nicht lokalisieren. Freilich besteht es aus Leitungen, Rechnern, Softwareprotokollen, Datenspeichern, Endgeräten und vielen immateriellen Inhalten. Ich kann zwar auf das Display meines Smartphones zeigen und sagen: „Da ist das Internet“. Der Satz ist jedoch zugleich richtig und falsch. Das Internet ist so viel mehr als das, was ich gerade sehe und zeige, und es verändert sich mit jeder Sekunde. Es ist an keinen Ort gebunden. Sondern es besteht in der Verbindung vieler Orte, Geräte und Inhalte, die Menschen dort erzeugen und ablegen. Eine simple Bildersuche zum Thema Internet offenbart die Unmöglichkeit, es anders als pars pro toto oder durch eine völlig unanschauliche Abstraktion zu zeigen. Man kann sich einen Dreck um das Internet kümmern, man kann leugnen, dass es existiert, und es für Spinnerei halten. Und doch wirkt sich das Internet auch im Leben derer aus, die nichts mit ihm zu tun haben wollen.

Wirksame Verbindungen

Ganz ähnlich kann das Reich Gottes auch in jeder Sekunde irgendwo wirksam in Erscheinung treten. Es läuft ja zum Glück auf jeder Hardware. Ich kann dann sagen: „Hier ist es!“ und weiß zugleich, dass es nur ein winziger Ausschnitt ist, der sich hier zeigt. Worauf ich hinauswill ist dies: Das Reich Gottes besteht in Verbindungen. Der Verbindung mit Gottes Geist und den Verbindungen, die dieser zwischen Menschen herstellt. Deshalb sagt Jesus: „es ist mitten unter euch“. Hannah Arendt hat Politik und Philosophie einmal im „dazwischen“ angesiedelt. Gottes Reich hat ja durchaus eine politischen Dimension und es existiert genau da – im Dazwischen.


Mario Purisic

Einen Schritt voraus

Das Reich Gottes ist aber nicht einfach nur „dazwischen“ in einem statischen Sinn. Es ist auch der Bereich Gottes schöpferischer Möglichkeiten. Wo immer es aufbricht, da fordert es uns heraus, über das Bestehende, Normale, Anerkannte und Vertraute hinauszugehen. Es bringt uns dazu, über uns selbst hinauszuwachsen, ohne dabei weniger wir selbst zu werden. Auch deswegen kann man nicht darauf zeigen: Es ist das noch unverwirklichte Potenzial – Walter Wink nannte es einmal „the sphere of creative novelty“. Es ist seiner (oder besser: unserer) Zeit voraus. Wir können uns danach ausstrecken, uns in die Zukunft locken und zum Guten verführen lassen – oder mit den Schultern zucken und business as usual vorziehen.

Share

Was uns zusammenhält (und was nicht)

Die Einheit und der Zusammenhalt wirkt bedroht wie lange nicht mehr. Darin sind sich alle einig. Um so eifriger wird sie angemahnt – kirchlicherseits und in der Gesellschaft. Als ich heute über diesen Worten des Paulus saß, fiel mir auf, warum das manchmal ein weiter Weg sein kann:

Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient.

Paulus wünscht sich eine einmütige und einträchtige Gemeinde in Philippi. Das ist also auch unter Christen – damals wie heute – nicht selbstverständlich. In diesen Tagen haben sich bei uns ja ausgerechnet die Parteien mit dem C, die auch noch die Einheit (lateinisch Unio) im Namen führen, ungeahnt erbittert beharkt und sich mit der Fiktion einer Nicht-Spaltung in die Sommerpause gerettet. Christen stehen auf beiden Seiten der Gräben, die die aktuellen Kulturkämpfe aufgerissen haben. Führt ein Weg zurück zur Einheit – und wenn ja, welcher?

Nun liest sich das mit der Einmütigkeit hier ja so, als sei sie das Sahnehäubchen auf einem Kuchen. Sehen wir also nach, was drunter liegt. Die Grundlage der Eintracht wird klar benannt: Ermahnung, Trost, Liebe und Barmherzigkeit.

Ermahnung – ich lasse mit mir reden. Trost – ich suche nach Worten und Gesten, die heilen und aufbauen. Liebe – ich nehme mich zugunsten anderer zurück. Und Barmherzigkeit –  ich lasse mich vom Leid anderer berühren und bewegen.

Wo es freilich an solchen Dingen fehlt, da wird Eintracht zur Farce und zum Problem. Geschlossenheit ist ja kein Wert an sich: Organisiertes Verbrechen und totalitäre Bewegungen agieren oft sehr geschlossen, um sich auf Kosten anderer zu bereichern oder ihre Dominanz auszubauen.

Und es hat vielfach an Liebe und Barmherzigkeit gefehlt. Sie sind aus dem trostlosen Wortschatz der öffentlichen Debatten verschwunden. Die Ermahnung zu barmherzigen Tun und zur Mitmenschlichkeit wird als Verrat am Volk oder als fahrlässiges Gutmenschentum beschimpft, als Rechtsbruch und Ordnungswidrigkeit.

Der Anspruch, gut und respektvoll von Menschen zu reden, ihre Bedürftigkeit nicht abschätzig als Makel zu werten, sich nicht vom Leid anderer abzuschotten, wird  als „Hypermoral“ beziehungsweise ideologischer „Tugendterror“ diffamiert – Abschiebungen in akute Todesgefahr dagegen schamlos als nette Geburtstagsüberraschungen gefeiert.

Heather Mount

Nicht mehr die Kategorien von Menschlichkeit, Gleichheit und Hilfsbereitschaft prägen unser öffentliches  Gespräch, sondern Härte, Feindseligkeit und die Dämonisierung des Fremden. Von Barmherzigkeit und Menschenrechten zu reden gilt vielen inzwischen als Ausweis „linksradikaler“ Gesinnung, die Wohlstand und Ordnung im Land bedroht.

Wer aber auf Grundlage der fortwährenden Entmenschlichung anderer Geschlossenheit fordert, hat Gott nicht auf seiner Seite, egal, wieviele Kreuze er an die öffentliche Wand nagelt. Die Spannungen, mit denen wir zu tun haben, haben längst die alte Polarität konservativ/progressiv überschritten. Wer den Gedanken universaler Menschenrechte (und damit das Grundgesetz) – oder theologisch: der Gottebenbildlichkeit des Menschen – für selbstverständlich hält, ist inzwischen gewissermaßen konservativ. Nur dass der Gegenpol dazu heute nicht mehr im Progressiven, sondern im Regressiven und im Protofaschismus besteht.

Echte Konservative wie Norbert Blüm und Hans Maier haben das verstanden und ermahnen ihre politischen Weggenossen, die derzeit nicht ganz bei Trost sind, auf den Weg der Liebe, Menschenfreundlichkeit und Barmherzigkeit zurückzukehren. So lange das noch aussteht, brauchen wir auch über Eintracht nicht zu reden.

Sie wäre nur das Sahnehäubchen auf einem Misthaufen.

Share

Lernschritte: Öfter „und“ statt „oder“ denken

Es gibt so viele Stellen in der Bibel, in denen auf den ersten Blick nur Männer angesprochen oder genannt werden. Historisch lässt sich darüber viel sagen, aber die meisten Christen, die ich kenne – auch sehr konservative – haben inzwischen keine Mühe mehr, sich hier ein „und“ dazu zu denken: Frauen sind natürlich mitgemeint, wenn etwa Petrus in seiner Pfingstpredigt „Ihr Männer, liebe Brüder“ sagt. Dass das der Wortsinn des Textes streng genommen nicht hergibt, spielt dabei glücklicherweise keine Rolle mehr: Wir verstehen das inklusiv. Bei Amtsträgerinnen hat das mit dem „und“ etwas länger gedauert, aber inzwischen ist es – unter Evangelischen – weithin selbstverständlich.

Und nun steht derselbe Schritt noch einmal an: Gelten die Verheißungen Gottes für die Ehe nur, wenn die Partner verschiedenen Geschlechts sind (das wäre die „oder“-Variante), oder können wir auch hier ein „und“ setzen, das in den biblischen Texten noch nicht dasteht?


Tyler Nix

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Er braucht ein Gegenüber. Und sollte das Gegenüber, das ein Mensch findet, dasselbe Geschlecht haben, dann liegt die Lösung nicht darin, dass er deswegen doch lieber allein bleiben soll, auch wenn es ihm erkennbar nicht gut tut.

Die Schöpfungstexte selbst formulieren kein solches „Oder“, sie nennen als unerwünschte Alternative nur das Alleinsein, und sie beschreiben ohne zu normieren. Sie lassen uns den Raum, hier kein einschränkendes „oder“, sondern ein einschließendes „und“ zu setzen.

Klar: Beides ist verantwortete Interpretation. Aber hier das „und“ zu setzen ist nicht einfach willkürlich und beliebig, wie konservative Polemik immer wieder unterstellt. Hetero- und Homosexuelle Partnerschaften haben viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das eine ist nicht das Gegenteil des anderen, so wie Xenophobie etwa das Gegenteil der Liebe zum Fremden ist.

Die Diskussion wird uns noch eine Weile begleiten. Es sind ja auch noch längst nicht alle Reste des Patriarchats verschwunden, wie ein Blick in die Ökumene zeigt. Es wird immer wieder Versuche geben, die alte Ordnung zu restaurieren, wie etwa in Lettland. Nur das Scheinargument, dass die eine Position bibeltreu und die andere zeitgeistbedingt ist, das lässt sich nicht halten. Zumal nicht in Zeiten, wo der Zeitgeist sich so reaktionär gibt wie im Augenblick.

Share

Pfingsten, oder: Wie wir den Mund aufbekommen, ohne ihn zu voll zu nehmen

Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der von Gott kommt, damit wir verstehen, was uns von Gott geschenkt worden ist.
Und davon reden wir, nicht mit Worten, wie menschliche Weisheit sie lehrt, sondern mit Worten, wie der Geist sie lehrt, indem wir für Geistliches geistliche Bilder brauchen.
Der natürliche Mensch aber erfasst nicht, was aus dem Geist Gottes kommt, denn für ihn ist es Torheit; und er kann es nicht erkennen, weil es nur geistlich zu beurteilen ist.
Wer aber aus dem Geist lebt, beurteilt alles, er selbst aber wird von niemandem beurteilt.
Denn wer hätte die Gedanken des Herrn erkannt, dass er ihn unterwiese? Wir aber haben die Gedanken Christi. (1.Kor 2,12-16)

I.

Wie erklärst du etwas in dieser Welt, das sich gar nicht aus ihr heraus verstehen und herleiten lässt? Wie sprichst du über eine Erfahrung, die so neu und einzigartig ist, ohne dass du sie schon durch die Worte und Begriffe, die du verwendest, zu etwas Gewöhnlichem machst?

Liebende stehen vor diesem Problem, dass alles schon tausendfach gesagt wurde. Weil der Fall „x liebt y“ jeden Tag hunderttausendmal eintritt auf diesem Planeten, so dass er für den unbeteiligten Beobachter nun wirklich nichts Besonderes mehr ist. Zigfach wird er jede Woche auf Leinwänden und Bildschirmen zur Schau gestellt. Und wenn mich selbst einmal der Blitz trifft und plötzlich alles in mir brennt, stellt sich scheinbar nur noch die Frage, welche dieser Szenen ich imitiere, welche Gesten und welche Phrasen ich herausgreife aus dem Repertoire, das sich im Laufe der Zeit angesammelt hat, und daraus mein eigenes Geständnis zu recyceln.

Umberto Eco („Der Name der Rose“) hat sich darüber Gedanken gemacht: Ein Mann, der eine gebildete Frau liebt, kann nicht einfach zu ihr sagen: Ich liebe dich wahnsinnig. Denn er weiß, dass sie weiß, (und sie weiß, dass er weiß), das hat Barbara Cartland [oder irgendeine andere Autorin von Liebesromanen] so geschrieben. Aber er hat einen Ausweg, er kann sagen: „Barbara Cartland würde es so sagen: Ich liebe dich wahnsinnig.“ Damit hat er zu erkennen gegeben, dass er so einen Satz nicht naiv sagt, sondern dass er weiß, dass es kein unschuldiges, unverbrauchtes Reden mehr gibt. Sie aber kann sich auf dieses Geständnis einlassen und es als Liebeserklärung in einer Zeit verlorener Unschuld annehmen. Sie kommt mit einem ironischen Augenzwinkern daher, aber gerade darin ist sie aufrichtig.

Es gibt auch im Blick auf Gott kein unschuldiges, unverbrauchtes Reden mehr. Aber deswegen nicht mehr über Gott zu reden, weil mich das vor die schwierige Aufgabe stellt, so von ihm zu reden, dass es nicht so klingt, als wüsste ich nichts davon, wie Gottes Name schon missbraucht worden ist – welche plumpen und gedankenlosen Bilder und Begriffe ihm schon angehängt wurden, in welche verheerenden Verwicklungen wir ihn damit gebracht haben: mit den Mächtigen und Maßlosen, den Selbstherrlichen und Selbstgerechten, den Engstirnigen und Missgünstigen – deswegen zu resignieren und zu verstummen, ist keine Lösung. Der Liebende kann seine Liebe nicht verschweigen, er muss einen Weg finden, sie zu bezeugen. Aber es wird ihm alles abverlangen. Hundertmal wird er seine Liebeserklärung im Geist durchspielen, um im entscheidenden Moment alles zu vergessen und wie ein blutiger Anfänger dazustehen. Denn genau das ist es ja in dem Moment: Absolut neu und mit nichts anderem zu vergleichen.

Die Macher von Vier Hochzeiten und ein Todesfall hatten ihren Eco offenbar  gelesen:

Das Gute ist, dass im Idealfall der erwiderten Liebe die andere Person genau denselben Ausnahmezustand erlebt. Dann wird sie mein Stammeln und Schweigen, Reden und Rudern, Ansetzen und Abbrechen, um wieder neu zu beginnen, richtig verstehen: als den fast – aber nicht völlig – aussichtslosen Versuch, das Außerordentliche zu sagen und mein Innerstes zu offenbaren. Sie wird geneigt sein, den austauschbaren Worten ihre unverwechselbare Bedeutung abzulauschen.

Dasselbe gibt es auch im Blick auf Gott: Menschen, die empfänglich sind für die Andeutungen, die wir machen. Für jene Sätze, die wir aussprechen, nur um sie gleich wieder halb zurückzunehmen und dann diesen Versuch noch mit anderen Worten, Metaphern, Symbolen zu wiederholen. Die all das nicht als ein Herumreden um den heißen Brei verstehen, sondern spüren, dass wir das Eigentliche nur umkreisen können, ohne den Finger drauf zu legen. Und während wir es umkreisen, warten wir darauf, dass es sich selbst mitteilt und zu erkennen gibt.

So war es bei den Aposteln, scheint mir: Petrus musste an Pfingsten, als Gottes Geist ausbrach, erklären, warum Menschen, die sogar für fremdsprachige Gäste verstehbar redeten, nicht besoffen waren, sondern bei klarem Verstand. Und Paulus schreibt vom Seufzen und Stöhnen derer, die im Geist beten,  so „wie ein Wolf heult“. Da sprengt die Sehnsucht alle Begriffe.

All dieses Reden unter Einwirkung des Geistes, all dieses unbeholfene Hantieren mit Gesten, Bildern und Begriffen ist zugleich das krasse Gegenstück zu der selbstgenügsamen Insidersprache, die nichts mehr riskieren muss, weil sie zur starren Konvention geronnen ist und sich gar nicht mehr davon irritieren lässt, dass sie außerhalb der eigenen Blase niemanden mehr aufhorchen lässt. Jener Sprache, an der die Kirche „verreckt“.

II.

Nicht nicht von Gott reden zu können, auch das haben Petrus und Paulus erlebt, katapultiert uns mitten hinein in all die Missverständnisse und den Streit um Religion und Wahrheit, und in die Leidensgeschichten, die dieser Streit über Generationen hinweg hervorgebracht hat. Immer wieder wurde und wird „die Religion“ an sich dabei zum Problem erklärt. Aus der Perspektive des „natürlichen Menschen“, der die Welt um sich herum betrachtet und deutet, kann das sehr plausibel erscheinen. Diese Woche schreibt Mateja Meded, die aus Ex-Jugoslawien flüchtete und in Erlangen aufwuchs, in der Zeit, dass Religionen unsere Welt spalten, Gewalt verursachen und Frauen unterdrücken. Und sie kann das mit Erfahrungen belegen, die sich nicht wegdiskutieren lassen. So lautet ihr Lösungsvorschlag:

„Ich würde gern die Heilige Schrift umschreiben: Am Anfang schuf Gott den Mann, und dann, aus seiner Rippe, die Frau. Und da erschien Nebel, und heraus kam noch eine Frau und sie erschuf sich eigenhändig ein Schwert und rammte es Gott in den Bauch und sprach: „Mich hat eine Frau erschaffen und nicht du. Und nun mach Platz und nimm deine Stockholmsyndrom-Frauen mit, denn jetzt kommen wir. Und wir bauen eine neue Welt, die auf Selbstliebe, Empathie und Sensibilität beruht und in der die Natur und die Tiere verehrt werden.“

Die monströse Gewalt der Welt wird ihrerseits durch einen Akt der Gewalt beseitigt: Der böse, herrschsüchtige und blutrünstige Gott der Religionen wird ermordet. Das liegt irgendwo zwischen Nietzsches Ausruf „Wir haben Gott getötet“, der Sage von Prometheus, der den Göttern das Feuer nimmt und es den Menschen gibt (heute können wir, als Spätfolge davon, Atombomben bauen), und den antiken Mythen von der Entstehung der Welt aus Chaoskampf und Göttermord mit ihrer Botschaft von der erlösenden Gewalt. Es zeigt die ganze Ratlosigkeit und ohnmächtige Wut über eine Welt, in der Gottes Name immer wieder dafür herhalten muss, menschliche Grausamkeit zu verklären.

Als Menschen, die von Gott nicht schweigen können, stehen wir mitten in diesem Gemetzel an der Menschheit und Natur im Namen der Religion oder zur Vernichtung aller Religion im Namen der Superreligion aus Sensibilität, Geschlechtergerechtigkeit und Naturverehrung. Auf diesem Schlachtfeld ist das Missverstehen der Normalfall und jede gelingende Verständigung ein glattes Wunder.

III.

An Pfingsten erinnern wir uns an die Geschichte dieses Wunders und wir feiern, dass es immer noch passiert, bis heute.

Denn es gibt diese Momente wo – wie an Pfingsten – Gott sich unserer menschlichen Worte bedient und bei Menschen Gehör findet. Momente, in denen die üblichen Missverständnisse ausbleiben und jemand ergriffen und elektrisiert ist, weil sie oder er merkt: Hier geht gerade eine Tür auf in eine andere Welt, oder besser: Ich finde einen neuen, tieferen und heilsamen Zugang zu Gott, zu mir selbst und zu dieser Welt, die – wie ich jetzt sehe – Gottes Welt ist.

Tim Marshall

Vielleicht sind es nicht dreitausend an einem Tag, aber das ist ja auch für biblische Verhältnisse eine einmalige Sache. Das Wunder liegt ja nicht in der stattlichen Zahl, sondern im Verstehen. Vielleicht ist es aber doch mehr als alle dreitausend Tage einer. Vor allem dann, wenn wir das Wunder fröhlich erwarten und uns nicht aus Furcht vor Zurückweisung hinter die Kirchenmauern oder ins Private zurückziehen – in all jene Bereiche, wo wir damit rechnen können, unangefochten zu sein.

Pfingsten bedeutet nicht, anderen etwas aufzudrängen; aber es bedeutet, um der anderen und um Gottes willen den eigenen Mund auf zu kriegen, unbefangen das Minenfeld der Missverstehens zu betreten, ja uns dahin vom Geist Gottes buchstäblich treiben zu lassen. Und dort mit dieser doppelten Resonanz von Zustimmung und Zurückweisung zu leben. Selbst wenn die Zustimmung nicht der Regelfall ist, so wiegt ein einziges Paar leuchtende Augen all die gleichgültigen oder feindseligen Blicke auf.

IV.

Gott schickt uns an Pfingsten auf die Straßen der Welt als „Arme im Geist“, die sein Geheimnis nicht in allgemeingültige Formeln und absolute Begriffe packen können – als Leute, die im Verstehen und Beschreiben Gottes ständig stolpern und stottern, die dabei schmerzhaft missverstanden werden (oft nicht nur von jenen, denen Religion fremd ist, sondern mehr und erbitterter noch von denen, die sie wieder groß machen wollen). 

Wir leben mit dem Missverständnis und dem Spott derer, die schnelle und simple Erklärungen – besoffen, irrational, idealistische Gutmenschen – für große und komplexe Sachverhalte vorziehen, oder die vor lauter Eile im Vorbeigehen nicht genau hinsehen und -hören. Gott gibt uns keine Garantie, dass wir verstanden und bestätigt werden. Jesus wurde es auch nicht.

Daher tut es gut, dass wir uns von Paulus daran erinnern lassen: Wenn uns jemand abschreibt oder abkanzelt, ist das nicht Gottes Urteil – weder wichtig noch endgültig. Am besten nehmen wir es uns nicht allzu sehr zu Herzen oder wir schütteln wie die Jünger, die Jesus in die Dörfer Galiläas schickt, den Staub der Ablehnung von unseren Füßen, um unbelastet weiter gehen zu können.

Der Satz „Wer aber aus dem Geist lebt, beurteilt alles, er selbst aber wird von niemandem beurteilt“ könnte freilich auch so missverstanden werden: „Christen bekritteln alles und jeden und wollen alles bestimmen – und zugleich lassen sich nichts sagen, verbitten sich jede Kritik und unterstellen ihren Andersdenkenden böse Absichten.“

Christen, die Gottes Geist vertrauen, wissen, dass sie keinen Anspruch darauf haben, verstanden zu werden, wenn sie von Gott reden. Sie freuen sich, wenn es geschieht, und bleiben gelassen und geduldig, wenn es misslingt. Sie machen sich überhaupt nicht so viele Gedanken über sich selbst, weil sie Gottes Urteil kennen: „Du bist mein geliebtes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe.“

Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sagt Paulus, sondern den Geist, der von Gott kommt, damit wir verstehen, was uns von Gott geschenkt worden ist:

Das Wunder, dass wir Gott in einer Welt reden hören, die ihre Unschuld verloren hat.

Die Verblüffung, dass er es riskiert, Menschen für sich sprechen zu lassen.

Der ausgelassene Mut, ihm fortan meine Stimme zu geben.

Share

Geist für alle und jeden

Als ich heute einen Blick auf die Pfingstgeschichte warf, fiel mir auf, wie oft die Begriffe „alle“ und „jeder“ darin vorkommen. Und zwar immer schön im Wechsel:

Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.
In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Sie gerieten außer sich vor Staunen und sagten: Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden? Wieso kann sie jeder von uns in seiner Muttersprache hören:
Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, von Pontus und der Provinz Asien, von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem Gebiet Libyens nach Zyrene hin, auch die Römer, die sich hier aufhalten, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden.
Alle gerieten außer sich und waren ratlos.

Das schon sehr bemerkenswert in einer Zeit, in der Religion als Mittel verwendet wird, um eine ähnlich bunte, vielfältige Gesellschaft wie damals in Jerusalem zu spalten, um Mehrheiten zu gewinnen, indem man Minderheiten auf das Fremdartige  reduziert und mit düsteren Stereotypen und Schablonen möglichst viel Angst schürt. In einer Gesellschaft, in der es immer öfter nicht mehr darum geht, jeder und jedem gerecht zu werden, sondern wo manche meinen, ihr unbehelligtes Erbrechen von Vorurteilen und Ressentiments gegen alles Missliebige als Gipfel der Menschenrechte feier zu müssen, da erinnert uns Pfingsten daran, dass Gottes Geist alle und jede(n) ansprechen will  – auch wenn nicht alle und jede(r) gleich zustimmend darauf reagieren.

Die eine Sache, die sich geistbewegte Menschen auf keinen Fall leisten sollten, ist: Andere aufgrund von Sprache, Kultur, Herkunft, Religion und Hautfarbe als solche Leute abzuschreiben, die man vernachlässigen kann oder gar meiden muss. Wo solche Mauern hochgezogen werden, da ist auch der Geist ausgesperrt.

Lassen wir ihn sein Werk tun – so lange und so oft es ihm gefällt! Die Türen bleiben offen. Pfingsten ist einfach ein krasses Fest.

Share

Bitte weiter gehen!

„Weiter gehen“ lautet das Motto des landeskirchlichen Ehrenamtspreises 2018. Untertitel: „missionarisch Kirche sein“. Ich bin gespannt, wer diesmal die Preisträger sind.

Wirft man einen Blick auf die vier Projekte, die im Vorjahr unter der Überschrift „Veränderung auf Schritt und Tritt“ ausgezeichnet wurden, dann fällt eine Gemeinsamkeit auf: Sie finden allesamt in kirchlichen Gebäuden statt, in einem Fall wurde sogar eines eigens errichtet. Und drei der vier – die Wuselkirche, die Frühstückskirche, die Vesperkirche – haben in der einen oder anderen Form mit gemeinsamem Essen zu tun. Natürlich gibt es auch viele Unterschiede, aber ich fand das schon bemerkenswert: Veränderung zeigt sich anno 2017 darin, dass Tischgemeinschaft in den Kirchen wieder eine Sättigungskomponente und damit verbunden ein Gemeinschaftselement erhält.


Annie Spratt

Das Festmahl spielt auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn eine wichtige Rolle. Erik Flügge hat es im Blick auf seine katholische Kirche kürzlich mit einem provokativen Perspektivwechsel interpretiert:

Nicht die anderen sind verlorene Söhne, sondern die Aktiven in den Gemeinden sind es. Die haben das Erbe genommen und es verprasst. Verprasst für Orgeln und Kirchenbauten, Küchen im Gemeindehaus und Fachstellen. Langsam wird das Leben in den Gemeinden knapp. Immer weniger ist los, und das frustriert. Das Gemeindeleben fühlt sich hohl an ohne die Familie, die wir irgendwo zurückgelassen haben. Der letzte Rest Gemeindeleben ist viel zu oft so frustrierend wie das Schweinehüten. Die Aktiven in der Kirche sind der verlorene Sohn, der in der Ferne wehmütig an den eigenen Vater denkt. Sie sind diejenigen, die aufbrechen und zurückkommen in der Hoffnung, dass sie fröhlich empfangen werden.

Ein Aufbruch zu Gott, der sich nicht im vertrauten Rahmen kirchlicher Gebäude und Rituale offenbart, sondern im Fremden und Befremdlichen, beim Rest der Familie, der am kirchlichen Leben nicht mehr oder kaum noch teilnimmt. Auf der Frühjahrssynode hat Hans-Hermann Pompe vom ZMiR diese Bewegung unter der Überschrift „Vom Erwarten zum Hingehen“ beschrieben. Dass er dann gleich auf den „Back to church Sunday“ zu sprechen kommt, verrät die Sorge, die Aktiven in Haupt- und Ehrenamt mit Kritik an der üblichen „Komm-Struktur“ und ihren Begrenzungen zu überfordern. Irgendwem geht alles konkrete „weiter gehen“ ja meistens schon  wieder viel zu weit…

Aber vielleicht zeigen ja die Ehrenamtlichen von der Basis, wie das mit dem „weiter gehen“ funktionieren kann; und vielleicht honoriert die Jury in diesem Jahr solche Projekte, die sich vom sicheren eigenen Turf herunter wagen. Räumlich, aber auch kulturell und mental.

Und gern wieder mit Essen!

Share

Liturgie und Kultur des Engagements

Ich hatte hier ja schon vor einem Jahr die unterschiedlichen Gottesdienstkulturen beschrieben, zwischen denen ich mich die letzten zwei Jahre bewegt habe. Einen Punkt habe ich dabei allerdings übergangen. Er taucht auch in den meisten Abhandlungen über Liturgik kaum auf: Die Ansagen oder „Abkündigungen“ (das Wort habe ich bisher nur in Kirchen gehört).

Elliot Sloman

In St. Leonhard bekommen die Gottesdienstbesucher*innen jeden Sonntag ein Blatt ausgeteilt, auf dem neben dem Predigttext und dem Wochenspruch die wichtigsten Informationen zu Kollekten, Taufen und Beerdigungen und besonderen Veranstaltungen der nächsten Zeit stehen. Da alle lesen können, wird dazu in aller Regel auch nichts mehr gesagt – weder vom Pfarrer noch von irgendwem sonst. Das ist maximale Effizienz.

Bei ELIA ist das ein Teil, der (trotz gegenteiliger Bemühungen) auch einmal ausufern kann. Man sieht unterschiedliche Gesichter, die zu Aktionen und Veranstaltungen einladen, es wird von vergangenen Ereignissen erzählt, an schon Gesagtes erinnert, ab und zu kommen auch Gäste zu Wort. Das ist manchmal nicht ganz effizient, gelegentlich entstehen gewisse Längen, aber es hat eine wichtige Funktion:

  • Erstens wird deutlich, dass das Gemeindeleben sich nicht im Gottesdienst erschöpft.
  • Zweitens spürt man, dass die Mitwirkung vieler nötig und erwünscht ist. Ein Ethos des Engagements wird gepflegt.
  • Drittens werden Gelegenheiten zum Gespräch und zur Nachfrage geschaffen. Wer Kontakt sucht, kann auf eine Person, die da vorne gestanden und gesprochen hat, zugehen und sich erkundigen. Oder an einer Sache hingehen, die beworben wurde.

Der Wert und Sinn von Abkündigungen besteht also darin, dass sich hier die Gemeinde immer wieder neu verabredet, Gottes Willen zu tun und an seinem Werk teilzunehmen. Das ist keine geringe Sache. Und wenn man für einen Augenblick den Gedanken von Tom Wright ernst nimmt, dass im Grunde die gottesdienstliche Liturgie den fünf Akten der offenen Geschichte Gottes folgt, und dass wir alle im letzten dieser fünf Akte leben und mitwirken, dann müsste jeder Gottesdienst, der sich ernst nimmt, solche Verabredungen enthalten. So wie jedes Bibelteilen vor dem abschließenden Gebet die Frage nach dem Handeln stellt, wenn es richtig läuft (und nicht alle zu früh schon zufrieden sind).

Es geht nicht um Information, sondern um Interaktion. Es geht um eine Kultur des Engagements. Das ist kein belangloser Anhang an die Verkündigung des Evangeliums, sondern ihre natürliche Wirkung.

So, und jetzt lasst uns überlegen, wie wir dieses gottesdienstliche Element möglichst ansprechend und schön gestalten. Falls jemand vorhat, ein Buch über Gottesdienstlehre zu schreiben (oder jemanden kennt, der daran arbeitet): Bitte dafür ein Kapitel einplanen, nicht nur ein paar Zeilen!

Share