Lernschritte: Öfter „und“ statt „oder“ denken

Es gibt so viele Stellen in der Bibel, in denen auf den ersten Blick nur Männer angesprochen oder genannt werden. Historisch lässt sich darüber viel sagen, aber die meisten Christen, die ich kenne – auch sehr konservative – haben inzwischen keine Mühe mehr, sich hier ein „und“ dazu zu denken: Frauen sind natürlich mitgemeint, wenn etwa Petrus in seiner Pfingstpredigt „Ihr Männer, liebe Brüder“ sagt. Dass das der Wortsinn des Textes streng genommen nicht hergibt, spielt dabei glücklicherweise keine Rolle mehr: Wir verstehen das inklusiv. Bei Amtsträgerinnen hat das mit dem „und“ etwas länger gedauert, aber inzwischen ist es – unter Evangelischen – weithin selbstverständlich.

Und nun steht derselbe Schritt noch einmal an: Gelten die Verheißungen Gottes für die Ehe nur, wenn die Partner verschiedenen Geschlechts sind (das wäre die „oder“-Variante), oder können wir auch hier ein „und“ setzen, das in den biblischen Texten noch nicht dasteht?


Tyler Nix

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Er braucht ein Gegenüber. Und sollte das Gegenüber, das ein Mensch findet, dasselbe Geschlecht haben, dann liegt die Lösung nicht darin, dass er deswegen doch lieber allein bleiben soll, auch wenn es ihm erkennbar nicht gut tut.

Die Schöpfungstexte selbst formulieren kein solches „Oder“, sie nennen als unerwünschte Alternative nur das Alleinsein, und sie beschreiben ohne zu normieren. Sie lassen uns den Raum, hier kein einschränkendes „oder“, sondern ein einschließendes „und“ zu setzen.

Klar: Beides ist verantwortete Interpretation. Aber hier das „und“ zu setzen ist nicht einfach willkürlich und beliebig, wie konservative Polemik immer wieder unterstellt. Hetero- und Homosexuelle Partnerschaften haben viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das eine ist nicht das Gegenteil des anderen, so wie Xenophobie etwa das Gegenteil der Liebe zum Fremden ist.

Die Diskussion wird uns noch eine Weile begleiten. Es sind ja auch noch längst nicht alle Reste des Patriarchats verschwunden, wie ein Blick in die Ökumene zeigt. Es wird immer wieder Versuche geben, die alte Ordnung zu restaurieren, wie etwa in Lettland. Nur das Scheinargument, dass die eine Position bibeltreu und die andere zeitgeistbedingt ist, das lässt sich nicht halten. Zumal nicht in Zeiten, wo der Zeitgeist sich so reaktionär gibt wie im Augenblick.

Share