Die Macht der Gewaltlosigkeit (3)

Die letzten Tage haben gezeigt, dass der Krieg in der Ukraine wohl als Genozid eingestuft werden muss. Nach den Erfahrungen in den „Volksrepubliken“ auf dem Gebiet der Ostukraine seit 2014, den Verschleppungen, Foltergefängnissen und Ermordungen dort, hatten viele schon zu Kriegsbeginn darauf hingewiesen, dass das Grauen mit einer Kapitulation vor den russischen Angreifern keineswegs beendet wäre. Diese Einschätzung hat sich nun bestätigt. Sie entspricht der Kriegsrhetorik aus Moskau.

Gewaltfreier Widerstand geht davon aus, dass beim Gegner ein Rest Integrität, Moral, Menschlichkeit, Scham oder Empathie vorhanden ist, an den man mit Worten und Gesten erfolgreich appellieren kann. Was aber, wenn der Wille zur weitgehenden oder gar vollständigen Vernichtung eines ganzen Volkes so groß ist, dass alle Hemmungen fallen? Wenn die Gegner des russischen Großmachtanspruchs pauschal als „Nazis“ bezeichnet werden, dann kann das nur heißen, dass ihre Auslöschung kein Grund zur Trauer ist.

Mit der Frage der Betrauerbarkeit sind wir wieder bei Judith Butler. Der letzte Post ist schon eine Weile her, jetzt komme ich zum zweiten Kapitel, in dem sie fragt, was uns dazu bringt, das Leben anderer zu bewahren. Das bringt uns einerseits zurück zur Einsicht, dass Menschsein immer schon Beziehung zu und Abhängigkeit von anderen voraussetzt, und zur biopolitischen Frage, wessen Leben zählt und vor Zerstörung bewahrt werden soll. Trauer bedeutet, dass wir einen Verlust empfinden, und das verleiht dem, was verloren ist oder gehen könnte, einen Wert. Das lässt sich auch auf nichtmenschliches Leben ausweiten.

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Projektion und Paranoia

Ethische Reflexion, ob sie nun Kants kategorischem Imperativ oder konsequentialistischer Logik folgt, beruht auf Gedankenexperimenten, die in eine Art Verfolgungswahn führen können:

in beiden moralischen Experimenten stellen wir uns das eigene Handeln als das des anderen vor, als potenziell destruktiven Akt, der umgekehrt oder erwidert wird. Diese Vorstellung ist schwierig und verstörend, sie entzieht mir gleichsam mein eigenes Handeln. (S. 103)

Über die eigene Gewaltneigung als Handeln anderer zu phantasieren ist nicht immer eine hilfreiche Sache. Wir haben die eigene Vorstellungwelt nicht vollständig im Griff. Ich könnte auch zu der Überzeugung gelangen, dass ich dem Übergriff anderer zuvorkommen muss, und darüber völlig vergessen, dass es ja mein eigener destruktiver Impuls ist, der mir in fremder Gestalt begegnet. Butler zitiert dazu Sigmund Freud aus „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ von 1915 zum Dilemma von Todestrieb, Destruktivität und Moral:

Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag.

Während Freud skeptisch fragt, was (wenn überhaupt) uns davon abhält, anderen Gewalt anzutun (und ob der Versuch nicht zur seelischen Selbstzerfleischung führt), ist auch die umgekehrte, positiv formulierte Frage in der Psychoanalyse verhandelt worden. Zum Beispiel von Melanie Klein (1882-1960), der sich Butler nun zuwendet. Klein setzt sich mit Freuds Ansatz kritisch auseinander. Sie beschreibt Sympathie als Identifikation mit einer anderen Person. Das Glück anderer zu wollen kann zu Opfer und Verzicht führen. Aber ich habe auch Anteil an der Zufriedenheit des anderen, das entschädigt für den Verlust in gewisser Weise.

Fürsorge und Wiedergutmachung

Rollentausch und Stellvertretung (Butler spricht auch von Substitution in der moralischen Reflexion) können bei Klein auch den Charakter der Wiedergutmachung annehmen. Klein geht davon aus, dass in uns ständig eine Interakton von Liebe und Hass abläuft. Aus den Enttäuschungen und Verletzungen der Vergangenheit bleibt ein Groll auf die Eltern, der wiederum zu Schuldgefühlen führen kann, weil das Kind die Eltern ja auch liebt und Angst hat, sie zu verlieren. Verluste, Zorn und Schuld werden dadurch bearbeitet, dass ich anderen gegenüber die Rolle des fürsorglichen Elternteils einnehme. Butler sieht in Kleins Überlegungen die psychoanalytische Grundlage für eine Theorie der sozialen Bindung. Das soziale Band macht das Leben von Eltern und Kindern erst möglich. Butler folgert: „Das »Ich« lebt so in einer Welt, in der sich Abhängigkeit nur durch Selbstauslöschung überwinden lässt.“

Nicht erst der moralisch reflektierende Erwachsene, sondern schon jedes kleine Kind ist in der Lage, sich an die Stelle eines anderen zu setzen und umgekehrt. Abhängigkeit, Verluste, Entbehrungen, aber auch Liebe und Fürsorge gehören in dieses Verhältnis immer schon hinein:

"Ich liebe dich, aber du bist schon ich und trägst die Last meiner beschädigten Vergangenheit, meiner Entbehrung und meiner Destruktivität. Und ich bin ohne Zweifel dasselbe für dich und trage die Last der Strafe für das, was du nie bekommen hast. Wir sind füreinander immer schon mangelhafte Substitute für unabänderliche Vergangenheiten; keine von uns kann je wirklich das Verlangen überwinden, wiedergutzumachen, was nicht wiedergutzumachen ist. Und dennoch - hier sind wir, und hoffentlich trinken wir ein gutes Glas Wein zusammen." (S. 125)

Der letzte Satz ist die nahtlose Überleitung zum Gründonnerstag: Wein, Wunden und ein „Substitut“, das einerseits mangelhaft erscheint in seiner Schwäche und Verwundbarkeit, aus dem andererseits aber schon eine Hoffnung auf eine Wiedergutmachung spricht, die über eine bloße Kompensation und Reparatur hinausgeht. Zuvor beginnt morgen die Karwoche. Die Nachrichten aus den Kriegsgebieten werden so schnell nicht abreißen.

Bindung, Bruderkrieg und Bewältigung von Schuld

Butler schrieb in diesem Kapitel davon, dass der Wunsch, das Leben des anderen zu bewahren weniger aus dem hypothetischen Rollentausch kantischer oder konsequentialistischer Ethik folgt und auch nicht der Unterdrückung des Todestriebs durch die Strafandrohung des Über-Ichs zu verdanken ist. Noch vor aller Reflexion und vor allem Druck durch Moral und Gewissen ist da ein Bewusstsein vorhanden, dass mich meine Bedürftigkeit an den anderen bindet. Und dass ich aus dieser Bindung, unter der ich immer wieder auch leide, nur ausbrechen kann, indem ich mich selbst zerstöre.

Aggression und Todeswünsche sind wie Liebe und Fürsorge ein Grundbestandteil menschlicher Bindungen. Insofern ist ein „Bruderkrieg“ gar nicht so unwahrscheinlich, auch wenn wir uns das ungern ausmalen. Vielleicht sollten wir es uns auch gar nicht zu sehr ausmalen, weil sich der mehr oder weniger friedliche Bruder im Verlauf dieser Projektionen in einen gefährlichen Feind verwandelt, und weil diese vermeintliche Gefahr (die nur das Spiegelbild der eigenen Aggression ist) dann die Tür zu feindseligen Handlungen öffnet.

Die vorauslaufende Täter-Opfer-Umkehr der russischen Propaganda ist freilich unzureichend charakterisiert, wenn wir sie als aus dem Ruder gelaufenes ethisches Gedankenexperiment lesen. Sie ist wohl eher das Resultat einer gewaltigen und lange andauernden Verdrängung von Schuld, wie Olga Romanowa diese Woche in der Zeit schrieb:

"… der russische Staat und die russische Regierung haben sich nie bei ihren Bürgerinnen und Bürgern entschuldigt, und sie hatten nie die Absicht, die Verbrechen der vor ihnen Herrschenden zu verurteilen. Die grausamsten unter ihnen – Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Josef Stalin – gelten jetzt als Sammler der "russischen Erde" und als Vorbilder. Sie hatten niemals Erbarmen für ihre Mitbürger, ganz zu schweigen von den Bürgerinnen anderer Länder. Im 21. Jahrhundert braucht es das aber. Ob Russland das will oder nicht – klar ist, dass wir alle den Preis für die Verbrechen des Putin-Regimes zahlen werden müssen."

Dass Militär, aber auch Polizei und Justiz ungestraft Menschen schikanieren und töten, ist auch für Russland selbst eine Gefahr. Was ist also nötig, um einen anderen Umgang mit Schuld, Macht und Verantwortung zu bewirken? Und auf welche Zeiträume müssen wir uns dabei einstellen?

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Die Macht der Gewaltlosigkeit (2)

Die Debatte läuft auf vielen Kanälen. Benjamin Isaak-Krauß hat in der „Eule“ einen sehr gründlichen und lesenswerten Überblick über die Argumente für gewaltlosen Widerstand verfasst. Die Skepsis gegenüber gewaltsamen Konfliktlösungen, die ja auch in der Einleitung zu Butlers Buch eine große Rolle spielt, bekommt dort ausführlich Raum.

Inzwischen wird weiter geschossen und gebombt, fliehen und sterben Menschen in der Ukraine. Putin ist die handstreichartige Übernahme des demokratischen Nachbarstaates misslungen. Nun scheint sich seine Armee auf die unmenschlichen Taktiken zu verlegen, die sie schon in Syrien angewandt hat. Im Unterschied dazu erinnert der Kampf der Ukrainer an den erfolgreichen Widerstand der zahlenmäßig unterlegenen Finnen im Winterkrieg von 1939.

Antje Schrupp denkt in diesen Tagen laut darüber nach, wie sich „Bullies“ in die Schranken weisen lassen.

Im Übrigen stellt sich die Frage nach Blutvergießen und der Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, sowohl beim bewaffneten wie beim gewaltlosen Kampf. John F. Harris hat diesen Mut in den letzten Jahren im ‚Westen vermisst. Wir Deutschen diskutieren gerade erst einmal, welchen ökonomischen Preis wir zu zahlen bereit sind, um Putin zu stoppen (Filmtipp für die Zeit, als diese Frage sich schon einmal stellte: München – im Angesicht des Krieges. Und die irische TV-Serie „Rebellion“ zum Easter Rising 1916 zeigt das verzweifelte Elend des militanten Aufstands gegen die englischen Besatzer. Trotz ihres vordergründigen Scheiterns gilt die Aktion heute als Wendepunkt in der Geschichte Irlands).

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Judith Butler zu lesen erfordert einen größeren Abstand zu den aktuellen Kriegsereignissen. Sie schreibt gerade keine praktische Anleitung, wie das bei Gene Sharp oder auch Srdja Popovic (OTPOR) der Fall ist. Sie antwortet auch nicht auf Alternativen wie: Waffen liefern oder nicht? Flugverbotszone oder nicht? Stattdessen fragt sie danach, was wir immer übersehen, wenn wir zum Beispiel über Selbstverteidigung als Legitimation von Gewalt diskutieren und die Alternative gewaltlos/gewaltsam als Thema individueller Moral betrachten.

Die Robinson-Illusion

Vor allem übersehen wir, dass wir viel weniger autark und autonom sind, als uns lieb ist. Fast ein wenig amüsiert betrachtet sie das Menschenbild der Aufklärung, den Menschen im Naturzustand bei Rousseau und Hobbes: Männlich, erwachsen, weiß und Herr seiner selbst – wie Robinson Crusoe. Eine Fiktion, die verschweigt und verbirgt, dass wir alle von Frauen geboren werden und nur dank der Fürsorge anderer überleben. Im Lauf des Lebens nimmt diese Abhängigkeit nicht ab, sie ändert nur ihre Form.

Diese Interdependenz leugnen wir nicht nur als einzelne, auch unsere politischen und ökonomischen Systeme sind darauf ausgelegt, sie unsichtbar zu machen. Im Konflikt mit Putin taucht das Verdrängte nun wieder auf: Unsere Abhängigkeit von Energielieferungen, unsere Erpressbarkeit durch Atomwaffen und drohende nukleare Unfälle an ukrainischen Atommeilern, Fluchtbewegungen ungekannten Ausmaßes, Inflation und Nahrungsmittelknappheit. Umgekehrt gilt das freilich auch, daher auch die Sanktionen.

Die Perspektive der Interdepenz macht es erstens möglich, über globale Pflichten gegenüber Mitmenschen und Mitgeschöpfen zu sprechen, ganz besonders da, wo deren Leben und Wohlbefinden bedroht und in Frage gestellt wird. Zweitens lässt sich Gleichheit dann neu denken: Nicht als etwas, das dem Individuum zukommt und von diesem eingefordert wird, sondern relational – als Merkmal sozialer Beziehungen. Denn diese sozialen Verhältnisse sichern nicht nur unser Überleben, sie machen uns auch verletzbar und angreifbar.

"Wie dargelegt, besteht die Aufgabe meines Erachtens nicht darin, Selbstgenügsamkeit durch die Überwindung von Abhängigkeiten zu erlangen, sondern darin, Abhängigkeit als Voraussetzung für Gleichheit zu akzeptieren." (S. 65f.)

Emanzipationsprozesse, die für den unterdrückten Teil der Bevölkerung dieselbe Souveränität und Dominanz anstreben wie zuvor für die Unterdrücker, führen nur in endlose Konflikte und verhindern ein „postsouveränes Verständnis des Zusammenlebens“, schreibt Butler mit Blick auf die Kolonialgeschichte und ihre Nachwirkungen bis heute.

"Meine Gegenthese zur Naturstandshypothese lautet, dass kein Körper sich aus eigener Kraft erhalten kann. Der Körper ist kein und war nie ein selbstgenügsames Wesen und unter anderem aus diesem Grund war die Metaphysik der Substanz mit ihrer Auffassung des Körpers als ausgedehntes, von Grenzen umgebenes Wesen nie ein besonders guter Rahmen, um zu verstehen, was ein Körper ist. Der Körper ist für sein Bestehen auf andere verwiesen, er ist auf andere Hände angewiesen, bevor er seine eigenen gebrauchen kann. […] das verkörperte Subjekt ist gerade durch seinen Mangel an Selbstgenügsamkeit definiert."

Gewalt und Notwehr

Das relationale Selbst spielt eine entscheidende Rolle für die Frage nach Gewaltlosigkeit. In der Regel wird das Tötungsverbot da eingeschränkt, wo es um Notwehr und Selbstverteidigung geht. Zu diesem geschützten Selbst gehört meist auch das engere persönliche Umfeld der Familie, in einem weiteren Sinne (und darum geht es beim Krieg in der Ukraine) dann auch alle, die so sind wie ich oder mit denen ich mich identifiziere. Die Frage, wann Gewaltanwendung rechtens ist, wird also demografisch beantwortet, folgert Butler. Sie führt unmittelbar ins konfrontative Gegenüber von „uns“, die Schutz verdient haben, und „denen“, die nicht nur keine Solidarität verdienen, sondern auch immer schon eine latente Gefahr für „uns“ darstellen – und damit schürt sie die Kriegslogik:

"Wenn das stimmt (dass ich manche zu verletzen oder zu töten bereit bin im Namen anderer, mit denen ich meine soziale Identität teile oder die ich in der einen oder anderen Art liebe, die für mein Selbstsein wesentlich ist), dann gibt es eine moralische Rechtfertigung von Gewalt, deren Basis demografischer Art ist." (S. 75)

Keine demografischen Ausnahmen verspricht nur die „radikale Gleichheit der Betrauerbarkeit“. Gleichheit zwischen Menschen ist so lange nicht erreicht, wie Betrauerbarkeit nicht für jedes Leben im gleichen Maß gilt. Und diese gleiche Betrauerbarkeit müsste das Prinzip werden, „nach dem die soziale Organisation von Gesundheitsversorgung, Nahrungsverteilung, Wohnung, Arbeit, Liebesleben und bürgerlichem Leben geregelt wird.“ Hier hätte möglicherweise der Schutz vor Bullies seinen Platz, von dem Antje Schrupp schrieb.

Neben der Kriegslogik lässt vor allem der Rassismus paranoide Versionen von „Selbstverteidigung“ entstehen. Die politische Rechte lebt ja davon, immer schon Notwehr und Ausnahmezustand zu propagieren. Um Gewalt aktiv einzudämmen, müssen wir uns also erst einmal gründlich die Frage stellen: Wessen Leben erscheint als Leben und wessen Verlust gälte als Verlust?

Hier endet das erste Kapitel und ich erinnere mich an das weitgehende Achselzucken der westlichen Öffentlichkeit angesichts der erschütternden Nachrichten aus Syrien über die letzten Jahre. Irgendwie waren hier zwar alle gegen Assad, aber Putin durfte die Städte der Rebellen, ihre Kliniken und Kindergärten bombardieren. Die Appelle von Adopt a Revolution lösten eher überschaubare Resonanz aus. Und so haben wir damals schon wertvolle Zeit verloren und Gelegenheiten vertan, den Aggressor energisch zur Rechenschaft zu ziehen. Menschen arabischer Herkunft und muslimischen Glaubens sind bis heute nicht im gleichen Maß betrauerbar wie Europäer.

Über dem nächsten Kapitel steht: „Das Leben der anderen bewahren“. Was für eine Aufgabe!

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Ein neues Wir-Gefühl

In letzter Zeit habe ich öfter mit den Tieren im Garten gesprochen. Den Eichhörnchen, die sich bis auf zwei Meter herangewagt haben. Den Meisen, Amseln und Rokehlchen. Den cleveren Krähen, die draußen Nüsse knacken, indem sie sie auf den Asphalt meiner Straße fallen lassen. Ich weiß schon, dass sie den Inhalt meiner Worte nicht verstehen. Aber vielleicht verstehen sie ja, dass ich mit ihnen rede: Dass sie für mich ein Gegenüber sind, auch wenn sie keine Haustiere sind, bei denen wir das alle tun.

Diese Woche kam ich an einem Baum vorbei, dem jemand ein Schild umgehängt hatte. Darauf steht: „Ich mach Dir Luft.“ Ich fand es schön, dass hier „Ich“ und „Dir“ stand und nicht: „Bäume produzieren Sauerstoff“ oder etwas ähnlich Objektivierend-Belehrendes.

Mit dem Baum habe ich kein Gespräch angefangen, aber ich habe ihn als Verbündeten und Verbundenen wahrgenommen. So ähnlich wird das gerade auch im Weltklimabericht thematisiert, der leider im Kriegsgetöse ziemlich untergeht: Wir Menschen müssen mit allen Lebewesen auf dem Planeten an einem Strang ziehen, um den Kollaps und das Massensterben abzuwenden und gut Lebensverhältnisse für alle zu schaffen. 

Im Essay von Volker Demuth über Landscape Writing, Poesie und Ökologie lese ich vom Einüben einer neuen Perspektive: „Weltwahrnehmung und Weltbewahrung hängen aufs Engste zusammen. Was mir nicht nahegeht, geht mich nichts an. Was mich nicht berührt, kann leicht von mir weggeschoben werden. In andere Kontinente, in die Zukunft, irgendwohin.“

Natürlich: Die Bäume und Tiere werden uns nicht sagen, was zu tun ist. Aber mit ihnen zu reden und sie als Mitgeschöpfe und  lebendige Partner zu sehen, mich berühren zu lassen, das lenkt die Aufmerksamkeit in Richtung der Lösungen und hilft dem Herzen, sich nicht allzu einsam und verloren zu fühlen.

Rede ich also um meinetwillen mit ihnen? Vielleicht rede ich, um die Alternative von „um meinetwillen“ und „um ihretwillen“ hinter mir zu lassen und ein „um unseretwillen“ daraus werden zu lassen.

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Judith Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit (1)

Knapp 30 Seiten verwendet Judith Butler auf die Einleitung ihres Buches, das deutet schon an, dass sie gründlich an die Sache herangehen will. Es ist 2020 erschienen, der Überfall auf die Ukraine ist also noch nicht am Horizont, es stehen vielmehr die „Black Lives Matter“-Proteste in den USA im Vordergrund und die Reaktionen der Trump-Regierung.

Butler beginnt mit der Feststellung, dass schon die Semantik von Gewalt und Gewaltfreiheit umstritten ist. Längst reicht es nicht mehr aus, sich für Gewaltlosigkeit auszusprechen, wenn vor allem staatliche Akteure alles unternehmen, gewaltlose Praktiken zu gewaltsamen umzuetikettieren. Erdogan etwa bezeichnete die Demonstrationen im Gezi-Park als „Terrorismus“. In Putins Russland ist es seit einigen Tagen verboten, den Krieg in der Ukraine überhaupt als solchen zu benennen. Der jüdische Demokrat Selenskyi wird in der Propaganda aus Moskau zum völkermordenden Nazi.


(Photo by Jason Leung on Unsplash)

Es ist also in vielen Fällen alles andere als klar, was als Gewaltakt gilt und wie sich das von gewaltlosem Handeln unterscheiden lässt. Gewalt ist immer schon interpretiert, und das bedeutet, dass auch der Interpretationsrahmen, innerhalb dessen etwas als „Gewalt“ eingestuft wird, mitbetrachtet werden muss. Wenn Gewalt zur Selbstverteidigung in Ordnung ist, dann ist zu klären, wer oder was dieses Selbst ist, wo seine Grenzen verlaufen und wie seine sozialen Bindungen und Bezüge aussehen.

Lässt sich Gegengewalt gegen ein Regime wie das der Apartheid pragmatisch bzw. als Mittel zu einem legitimen Zweck rechtfertigen? Hier stellt Judith Butler Fragen, auf die sie im Verlauf der folgenden Kapitel eingehen wird, zum Beispiel:

"Muss man unter Umständen hinnehmen, dass sich kein Unterschied zwischen der einen und der anderen Gewalt mehr angeben lässt?"
"Verdoppelt der Einsatz von Gewalt die Gewalt, und zwar in Richtungen, die sich nicht vorher eingrenzen lassen?"
"Kann Gewalt bloßes Instrument und Mittel sein, um gegen Gewalt – ihre Strukturen, ihre Regime – anzugehen, ohne selbst zum Zweck zu werden?"
"Was, wenn Gewalt eben die Art von Phänomen ist, das immer wieder "außer Kontrolle" gerät?"
"Wenn Werkzeuge sich ihre Benutzer zunutze machen können, und Gewalt ein Werkzeug ist, folgt dann nicht, dass Gewalt sich ihren Nutzer zunutze machen kann?"
"Wenn Gewaltlosigkeit wie eine »schwache« Haltung erscheint, sollten wir fragen: »Was gilt als stark?« Wie oft sehen wir, dass Stärke mit der Ausübung von Gewalt oder dem Hinweis auf die Bereitschaft zur Gewaltausübung gleichgesetzt wird?"

Dann formuliert Butler ihre Ziele für das Buch: Sie möchte Gewaltlosigkeit weniger als eine Frage indivdueller Moral, sondern als soziale und politische Praxis verstehen, die sich systemischer Zerstörung widersetzt und die Freiheit und Gleichheit fördert. Sie möchte die Rolle von Wut, Empörung und Aggression für Gewaltlosigkeit in den Blick nehmen. Sie möchte bewusst machen, dass Gewaltlosigkeit ein Ideal ist, das sich nicht immer zu hundert Prozent umsetzen lässt, dass also immer Unschärfen und Ambiguitäten bleiben.

Gewaltlosigkeit bedeutet nicht in erster Linie, dass man keine Gewaltakte begeht (sie ist also nicht in erster Linie Verzicht), sondern sie ist handfester „Einsatz für die Ansprüche des Lebens“. Damit unterläuft sie das entscheidende Ziel gewaltsamer Macht, nämlich „die Randständigen als entbehrlich hinzustellen und sie in die Zone des Nichtseins abzudrängen“.

Eben das geschieht gerade in der Ukraine: Wie schon in Syrien und Tschetschenien werden ganze Städte in die „Zone des Nichtseins“ gebombt. Was können wir angesichts dessen für die Ansprüche des Lebens tun? Ein Schritt wäre sicher, Putins Gewaltexzesse nicht als „stark“ und das Zögern und die Zurückhaltung beim Einsatz von Gewalt als „schwach“ zu framen. In verschiedenen Kommentaren und Berichten der letzten Wochen kam das immer wieder so vor. Auch der Vergleich mit einem Bären ist für einen Kriegsverbrecher mehr als schmeichelhaft (oder für das Raubtier eine Beleidigung).

Stark ist hingegen die Unbeugsamkeit der Ukrainer, stark ist die Hilfsbereitschaft in den Nachbarländern, stark ist auch die Bereitschaft vieler hier, für den Frieden Verzicht zu üben – durch Spenden, das Aufnehmen und Versorgen von Geflüchteten. Noch stärker wäre der vollständige Verzicht auf fossile Energieträger aus Russland (und mittelfristig aus allen Regionen der Welt, wo Despoten regieren, die mit dem Gewinn ihre Kriege finanzieren, langfristig müssen wir ohnehin ganz raus). Schwach hingegen war jeder Schritt, der uns seit dem Einmarsch auf der Krim in Abhängigkeit von russischen Energielieferungen gehalten hat. Mit diesem Makel wird vor allem Angela Merkel und ihre Ministerriege um Peter Altmaier leben müssen.

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Das Ende der Gewaltfreiheit?

Putin hat die Ukraine überfallen und damit mehr als die halbe Welt gegen sich aufgebracht. Die Bundesregierung hat ihren Kurs radikal geändert. Sie liefert der Ukraine nun Waffen und stockt das Budget der Bundeswehr kräftig auf. Die Mehrheit im Land findet das nach heutigem Stand richtig.

Welche Rolle kann in dieser Situation gewaltfreier Widerstand spielen? Lassen sich die Strategien von Gandhi, Martin Luther King und anderen hier überhaupt anwenden? George Lakey verwies letzte Woche auf den Widerstand der Tschechen 1968 gegen die Truppen des Warschauer Pakts und auf den Widerstand der Dänen gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg.

Den Ukrainern dürfte freilich vor allem der Widerstand gegen Lukaschenko in Belarus vor Augen gestanden haben, der beinahe zum Erfolg geführt hätte. Aber dann schaltete sich Putin ein. Mit seiner Hilfe und Billigung wurde die Demokratiebewegung niedergeschlagen und inhaftiert. Yuval Noah Harari kommentierte jüngst im Guardian:

As a child, he [Putin] grew up on a diet of stories about German atrocities and Russian bravery in the siege of Leningrad. He is now producing similar stories, but casting himself in the role of Hitler.

Aus der Ukraine ist nun beides zu hören: Die einen stellen sich den Invasoren gewaltfrei entgegen, die anderen kämpfen mit der Waffe. Ich hatte diese Woche immer wieder Bruce Cockburn im Ohr, wenn ich Nachrichten las:

Zur Gewaltfreiheit muss sich jede:r Betroffene selbst entschließen. Insofern finde ich es problematisch, wenn wir anderen diese Entscheidung dadurch abnehmen, dass wir ihnen keine Waffen liefern, wenn sie uns darum bitten. Die Frage ist eher, was wir ihnen noch an Unterstützung und Rat anbieten können.

Gandhi hat mal sinngemäß gesagt, er halte nur solche Leute für geeignet zum gewaltfreien Widerstand, die auch mit der Waffe kämpfen würden. Er selbst fand den gewaltfreien Kampf richtiger und aussichtsreicher, aber der bewaffnete Kampf ist so gesehen besser als gar nicht zu kämpfen.

Putin hat wohl eine schnelle Kapitulation erwartet, insofern hätte ihm das in die Karten gespielt, wenn Selenskyis Truppen die Waffen kampflos niedergelegt hätten. Nun staunt die Welt über den verzweifelten Mut der Ukrainer. Der hat, sagt Harari, auch dem Rest der Welt Mut und Entschlossenheit gegeben, die zuvor nicht da waren:

The stories of Ukrainian bravery give resolve not only to the Ukrainians, but to the whole world. They give courage to the governments of European nations, to the US administration, and even to the oppressed citizens of Russia. If Ukrainians dare to stop a tank with their bare hands, the German government can dare to supply them with some anti-tank missiles, the US government can dare to cut Russia off Swift, and Russian citizens can dare to demonstrate their opposition to this senseless war.

Ich habe (wie Cockburn, der hat nur seine Gitarre) keinen Raketenwerfer zur Hand und mir deshalb vorgenommen, Judith Butlers „Macht der Gewaltfreiheit“ noch einmal zu lesen und hier im Blog einige ihrer Kerngedanken im Licht der gegenwärtigen Weltlage nachzubuchstabieren. Wenn Ihr mögt, lest und diskutiert gerne mit.

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Die dezentrierte Welt

Wenn Kinder geboren werden, geschieht (in der Regel) Seltsames mit ihren Eltern: Die Kleinen werden quasi über Nacht zum Mittelpunkt ihres Lebens – bei Müttern schon vor, bei Vätern meist nach der Geburt. Nicht weil sie so süß sind (das kommt erst noch, tendenziell jedenfalls). Sondern weil sie so bedürftig sind: Total angewiesen auf unsere Fürsorge.

Eltern leben dezentriert. Nicht mehr die eigenen Bedürfnisse und Wünsche stehen im Mittelpunkt, sondern die des Neugeborenen. So ist es auch in den Geburtsgeschichten der Bibel. Der Engel, der Maria aufsucht, kündigt ihr im Grunde genau das an: Gott hat dich auserwählt. Aber es geht dabei nicht in erster Linie um dich, sondern um dein Kind.

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Dieses Kind freilich hat eine ganz besondere Mission. Es dezentriert nicht nur Maria (und mit ihr auch Joseph), sondern die ganze Welt. Durch seine Bedürftigkeit, seine Verletzlichkeit, seine Schutzlosigkeit. Selbst beim erwachsenen Jesus hört das ja nicht auf. An seiner Schwachheit bricht die Macht des Todes.

Sich auf Weihnachten einzustimmen, bedeutet, sich darauf einzulassen, dass sich mein Leben und meine Welt von nun an um dieses bedürftige Menschenkind dreht. Und mit diesem einen um immer mehr andere. Maria entschließt sich in der Begegnung mit dem Engel, das als Glück zu verstehen. Und viele Eltern können (ansatz- und phasenweise wenigstens) nachempfinden, dass dezentriert sein kein Unglück sein muss.

Aber es tut gut, das immer wieder einmal bewusst anzunehmen. Dass die Welt sich nicht um mich dreht, bedeutet ja auch, dass sie sich nicht um die Despoten und Größenwahnsinnigen dreht, nicht um die Eitlen und Aufdringlichen, nicht um die Reichen und Rücksichtslosen. So gesehen ist das eine wirklich gute Nachricht.

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Wozu Religion?

Weihnachten steht vor der Tür und auf DLF Kultur wird wieder einmal gefragt, ob „der Mensch“ Religion braucht. Es werden kluge Antworten gegeben, selbst der Fußball spielt eine Rolle, aber das geht auch kürzer und weniger intellektuell:

Manche kennen vielleicht die amerikanische TV-Serie „The Good Doctor“ mit Freddie Highmore als Shaun Murphy. Ich fand die erste Staffel ganz ansprechend, in der zweiten gab es für meinen Geschmack ordentliche Durststrecken. Und nun, in Season 3 wirkt die Erzählung wieder dichter.

Am Ende von Folge 4 gibt es einen Gänsehautmoment. Claire Brown offenbart der Kollegin Morgan Reznick den Tod ihrer Mutter. Sie hat die Urne im Kofferraum ihres Autos liegen. Der letzte Wunsch der Mutter war, dass ihre Asche zu den Seelöwen im Meeresaquarium kommt. Die beiden mischen sich dort in funkelnder Abendgarderobe unter die Gäste einer Drag Pride Party. Und dann merken sie (und Morgan spricht es aus): Ohne Ritual geht es nicht. Und auch nicht ohne Religion. „Jeder hat eine Religion“, sagt Morgan. „Vielleicht keinen Gott, aber eine Religion.“

Die Lösung für die nichtreligiöse Claire besteht in dem Angebot, Musik als die Religion ihrer Mutter zu begreifen. Sie singt ein Lied.

Ich hätte an der Stelle vielleicht „Let it be“ oder einen anderen Popsong mit dehnbarem Sinngehalt erwartet. Stattdessen singt Claire Amazing Grace. Und ich denke: Mehr christliche Religiosität geht eigentlich kaum. Im Hintergrund erscheinen erst die übrigen Partygäste und dann ein anderer Handlungsstrang dieser Folge, der auf dem Standesamt spielt. Tod und „bis der Tod euch scheidet“, Seite an Seite: The holy and the broken Hallelujah.

Die unorthodoxe Urnenbeisetzung zeigt auch: Geistliche Lieder tragen oft weiter als trockene Bibelworte ohne Melodie. Und die wirklich guten erkennt man daran, dass man sie in den glücklichsten Momenten ebenso singen kann wie in den traurigsten.

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Aus:gewertet

(Evangelische Morgenfeier im BR am 3. Advent 2021)

Mein Internet geht nicht. Es ist schon das x-te Mal innerhalb weniger Wochen. Ich rufe also wieder einmal bei der Hotline meines Anbieters an, um das Problem zu melden. Zum Schluss des Telefonats bittet mich die Person am anderen Ende der Leitung, noch nicht aufzulegen. Erst soll ich noch eine Bewertung abgeben. Das sei ganz wichtig für sie.

Ich bleibe grollend in der Leitung. Nicht genug damit, dass mich die Verbindungsabbrüche Zeit und Nerven kosten, ich muss jedesmal auch noch Zeit dranhängen, um die Mitarbeiter zu bewerten. Denn wenn ich das nicht tue, kreidet der Arbeitgeber es seinen Kundenberatern anscheinend an.

Ich kenne den Dialog mit dem Computer inzwischen auswendig. Während die Automatenstimme noch die Frage formuliert, sage ich schon ebenso mechanisch „Zehn“ – „Zehn“ – „Zehn“. Und als ich dann noch gefragt werde, was ich noch sagen will, gebe ich zornig zu Protokoll, wie nervtötend ich diese ständige Bewerterei finde. Wie entwürdigend der unterschwellige Zwang dazu auf mich wirkt. Null von zehn Punkten für diesen Umgang mit Kundinnen und Personal. Bitte gleich wieder abschaffen! 

Jeder popelige Online-Shop will von mir inzwischen eine Bewertung der Ware und des Einkaufserlebnisses, auch wenn es nur Büroklammern sind. Und jetzt, mit all den Weihnachtseinkäufen, komme ich gar nicht mehr hinterher. Überall soll ich Punkte, Sterne und so weiter vergeben. Für meinen Hotelaufenthalt auf einem Kärtchen im Zimmer. Für denselben Hotelaufenthalt einen Tag später im Buchungsportal, wo ich ihn ausgewählt hatte – aufgrund der vielen guten Bewertungen natürlich…

Ich lege auf und denke: Das muss doch wahnsinnig anstrengend sein, permanent beobachtet und beurteilt zu werden. Mir fallen Situationen ein, in denen ich das Gefühl hatte, dass andere auf Fehler von mir lauern. Oder Maßstäbe anlegen, die mir fremd oder zuwider sind. Forderungen aufstellen statt Wünsche formulieren. Und wie schwer es war, zu verhindern, dass diese äußeren Stimmen zu Stimmen in meinem Kopf werden: Ein ständiges Selbstgespräch mit dem inneren Kritiker, der sich die Argumente und Positionen der äußeren Kritiker zu eigen macht. Übrigens: Auch diese Morgenfeier im BR können Sie online bewerten!

Journalisten sprechen von der „Schere im Kopf“, die eine Zensur von außen oder von oben überflüssig macht. Wenn der Chefredakteur oder ein potenter Anzeigenkunde immer wieder mal durchblicken lässt, was er künftig nicht mehr lesen möchte, dann redigieren sich die Texte quasi von alleine. Und wenn das Bewerten im digitalen Zeitalter dann auch noch in Echtzeit stattfindet, werden Mitarbeiter dann nicht früher oder später konditioniert wie Pawlows Hund? Anders gesagt: Sind die erfolgreichsten Influencer und Selbstvermarkter am Ende die, die gar nichts Originelles an sich haben, sondern einfach nur Kunstfiguren, die die vorhandenen Erwartungsschablonen perfekt bedienen?

Wenn ich darüber nachdenke, spüre ich diese Dankbarkeit in mir für alle Situationen, in denen ich mich unbefangen bewegen kann. In denen eine Atmosphäre des Wohlwollens und der Wertschätzung herrscht, in denen ich Fehler machen darf, weil ich als Person gesehen werde und nicht nur meine Leistung zählt. 

Aber das gibt es halt nicht immer…

Kein Fünf-Sterne-Apostel 

Paulus, der umtriebige Apostel aus der Bibel, ist so jemand, der sich seine Unbefangenheit auch unter schwierigen Umständen bewahrt hat. Im Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt er:

Dafür soll man uns halten: für Diener von Christus
und Verwalter von Gottes Geheimnissen.
Nun verlangt man ja von Verwaltern, dass sie zuverlässig sind.
Aber mir ist es völlig gleichgültig,
ob ihr oder ein menschliches Gericht mich beurteilt.
Ja, ich beurteile mich nicht einmal selbst.
Ich bin mir zwar keiner Schuld bewusst.
Aber deswegen gelte ich noch nicht als gerecht.
Nur der Herr kann über mich urteilen.
Urteilt also nicht schon jetzt.
Wartet, bis der Herr kommt!
Er wird alles ans Licht bringen, was im Dunkeln verborgen liegt,
und die geheimsten Absichten enthüllen.
Dann wird jeder von Gott gelobt werden, wie er es verdient.

1. Korinther 4,1-5 (Basisbibel)

Paulus ist in Korinth in einem schwierigen Umfeld unterwegs. In der geschäftigen Hafenstadt herrscht ein reges Kommen und Gehen, und wer nicht ausreichend trommelt, wird übersehen und gerät in Vergessenheit. Da muss man sich gut präsentieren und verkaufen. Und in der Gemeinde werden Zweifel laut, ob Paulus das ideale Aushängeschild ist. Rein äußerlich macht er nicht viel her. Im Vergleich zu den muskulösen Statuen der Superhelden von damals schneidet er ähnlich schlecht ab, wie er das heute unter all den aufgebrezelten Influencer*innen im Netz täte. Er schafft es auch nicht, den Nachteil durch eine sonore Stimme und gewinnende Redekunst auszugleichen. Noch ärgerlicher: Aussehen und gewandtes (wir würden sagen: professionelles) Auftreten scheinen ihm egal zu sein. Offenbar kennt er die „Karrierebibel“ nicht, die mir verrät: Bei den meisten Menschen geht innerhalb von wenigen Sekunden der Rolladen herunter. Sie verlieren das Interesse, wenn mein Aussehen nicht passt, mein Duft (japp, steht da…) oder der Klang meiner Stimme.

Paulus ist also kein Fünf-Sterne-Apostel, sondern eher Mittelmaß in den Augen und nach den Maßstäben seiner Umgebung. Aber er nimmt sich das nicht besonders zu Herzen. Er lässt es einfach stehen. Ohne zu diskutieren. Ohne sich zu beschweren über unfaire oder verletzende Kritik. Ohne sich zu rechtfertigen oder zu verteidigen. Und auch darin unterscheidet er sich von den Reflexen, die ich von mir und anderen kenne. „Ich beurteile mich nicht einmal selbst“, sagt er. Wenn ich mich gegen Kritik wehre, anderen das Recht oder Kompetenz abspreche, über mich zu urteilen, dann wäre das immer noch ein Urteilen über mich selbst: „Ihr sagt, ich mache meinen Job nicht richtig. Aber das zeigt nur, dass ihr keine Ahnung habt – oder unkollegial und arrogant seid.“ Wie leicht wäre es für Paulus gewesen, einen auf unverstandenes Genie zu machen und um sich herum einen Fanclub zu scharen, der ihn anhimmelt. Aber selbst das ist ihm egal. 

Ich staune über diese Größe und Unabhängigkeit. Ein bisschen erinnert es mich an eine andere Geschichte aus dem alten Korinth. Alexander der Große stattet dem Philosophen Diogenes in seiner legendären Tonne einen Besuch ab. Auf die gönnerhafte Frage, was Diogenes sich an diesem Glückstag von ihm wünsche, antwortet der lapidar: „Ach, geh doch bitte aus der Sonne“. 

Noch ein bisschen trotzig-rotziger bringen es die Ärzte auf den Punkt: „Was sagen denn die Leute?“ ist nicht immer die beste Frage für ein glückliches Leben:

Die Marke Ich

Das Lebensideal der Antike, für das Alexander steht (und auf das Diogenes pfeift) war der unsterbliche Ruhm. Heute, in der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie, taucht das wieder auf. Wir werden vielleicht nicht alle finanziell reich, aber wir können alle bekannt werden. Theoretisch jedenfalls. Praktisch entwickeln viele junge Menschen durch Instagram, wo sie sich sich täglich dem Vergleich mit den Schönsten und Stärksten aussetzen, vielfach ein negatives Selbstbild. Eine Expertin stellt fest: „Die jungen Frauen spüren sich nicht mehr, sie horchen nicht in sich hinein, es geht nur ums Äußerliche und sie werden unglaublich sensibel für Ablehnung.“

Aber auch Jungs und Männer wollen gut ankommen: Sebastian Kurz hat dieses Spiel mit Medien und Aufmerksamkeit so gut beherrscht wie nur wenige Politiker. Was wurde nicht gefeiert als Senkrechtstarter, Wunderkind, Lichtgestalt. Das Drehbuch für seinen kometenhaften Aufstieg verrät uns der Business-Beststeller „Die Marke Ich“. Dessen Grundgedanke lautet, dass positives Denken allein noch nicht ausreicht. Es muss auch offensiv zur Schau gestellt werden.

Damit andere mich positiv bewerten, muss ich mich selbst so unwiderstehlich finden, dass es mir zu jedem Knopfloch herauskommt. Und darauf setzen, dass der Funke überspringt. Andere sind nur dann überzeugt von mir, wenn ich mich selbst feiere. Am besten, ich erscheine überall mit einer Entourage, die mir auf Schritt und Tritt Bussis zuwirft.

Diese Strategie der Selbstglorifizierung hat lange funktioniert. Menschen lassen sich anscheinend gern bezaubern. Freilich musste dazu auch eine Menge Dreck unter den Teppich gekehrt werden, wie wir heute wissen. Irgendwann war die Kluft zwischen Wunschbild und Wahrheit nicht mehr zu überbrücken. Nun ist die „Marke Ich“ ruiniert und Kurz zieht sich lieber aus allen Ämtern zurück als ohne Strahlemann-Nimbus weiterzumachen – und Politik als Handwerk zu betreiben statt als Show.

Ich fange an zu verstehen, warum Paulus sich nichts aus Beifall und Bewunderung macht. Die einzige Bewertung, die für ihn zählt, kommt von seinem göttlichen Auftraggeber. Und sie steht noch aus – „bis der Herr kommt“. Da liegt auch der Bezug zum Advent: Christen betrachten das Leben und die Welt im Horizont des Kommens Gottes. Der Morgenstern ist schon aufgegangen. Bald ist die Dunkelheit vorbei. Und erst dann sehen wir klar.

Geschenkte Selbstvergessenheit

Ben Zander ist Dirigent des Boston Philharmonic Orchestra und unterrichtet am Konservatorium. Schon bald fällt ihm auf, dass viele seiner Studierenden unter Prüfungsangst leiden und deshalb total blockiert in den Kursen sitzen. Das muss doch anders gehen, denkt er sich, und verkündet zu Beginn des nächsten Semesters: „Ich werde euch allen eine Eins geben. Einzige Bedingung: Ihr schreibt mir einen Brief, in dem Ihr erzählt, was für ein Mensch Ihr am Ende dieses Kurses sein wollt.“ Von da an unterrichtet er keinen ängstlichen Haufen mehr, sondern eben die Menschen, denen er beim Lesen der Briefe begegnet ist. Die Spaß am Lernen haben, weil sie sich nicht auf Schritt und Tritt beobachten und sich nicht ständig fragen, ob das, was sie können, denn reicht. 

Die Eins, die Zander vergibt, ist eigentlich ja keine Bewertung im technischen Sinn, sondern die Einladung, auf Bewertungen zu verzichten und sich stattdessen auf das Wesentliche zu konzentrieren. Oder anders gesagt: Einfach mal zu machen, einfach mal einzutauchen in die Musik und den Umgang mit dem Instrument, also bei der Sache selbst zu sein und nicht beim Messen, Vergleichen und Bewerten. Sie, liebe HUH, kennen das vielleicht auch: Musiker*innen, die ihre Augen schließen, weil sie so versunken sind in ihr Spiel, und erst beim Applaus des Publikums aus ihrer Trance aufzuwachen scheinen. 

Glaube, sagte einer meiner Professoren im Studium – und ich habe es nie wieder vergessen –, Glaube ist gewährte Selbstvergessenheit. Ich vergesse, über mich nachzudenken und mich mit anderen zu vergleichen. Es ist ein bisschen wie Verliebtsein: Wenn ich dieser einen Person nahe bin und gefalle, spielt es für mich kleine große Rolle mehr, was andere über  mich denken oder sagen. Und manchmal ist es auch wie Trauern: Weil mir diese eine geliebte Person so fehlt, können auch die freundlichsten Worte und Gesten aller anderen die Lücke nicht füllen. So oder so – alles, woran ich denken kann, ist die oder der Geliebte. Und wenn wir zusammen sind, ist es fast egal, was wir machen (und ob wir damit Erfolg haben), so lange wir nur zusammen sind. Liebende finden sogar die Schwächen des anderen noch liebenswert.

In der Liebe hört das Bewerten und Beurteilen auf. Oder andersherum: Das Bewerten schadet der Liebe. Denn wenn ich eine andere Person beurteile, verlasse ich damit die Augenhöhe. Mit einem guten Freund ging es mir eine Weile lang so, dass ich mich immer wieder beurteilt fühlte. Es war zwar deutlich mehr Lob als Kritik, aber auch ein positives Urteil ist ein Urteil. Das Analysieren und Bewerten war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er es schwer ausknipsen konnte, nicht einmal sich selbst gegenüber. Da konnte er noch härter und fordernder sein als anderen gegenüber. 

Die Alternative zu Lob und Tadel ist ganz einfach: Statt zu bewerten kann ich einfach beschreiben, was ich an anderen sehe und was ich für sie empfinde. Und schon bin ich draußen aus solchen Gegensätzen wie richtig/falsch, gut/schlecht, schön/hässlich, Gewinn/Verlust. Auf die liebenswerten Eigenarten, die einen Menschen unverwechselbar machen, lassen die sich sowieso nicht anwenden. Die kommen erst dann in den Blick, wenn ich das wertende Urteil aussetze. Wenn ich nicht mehr im Denken bin, sondern im Schauen. Und im wortlosen, selbstvergessenen Staunen.

Die vielen Widersinne

In Rainer Maria Rilkes Stundenbuch habe ich die folgenden Zeilen gefunden:

Wer seines Lebens viele Widersinne
versöhnt und dankbar in ein Bildnis fasst
der drängt die Lärmenden aus dem Palast
wird anders festlich und du bist der Gast
den er an sanften Abenden empfängt

Vieles passt in meinem Leben nicht zusammen. Nicht im Inneren, nicht im Äußeren. Überall bleiben Widersprüche stehen. Sie lassen sich auch nicht gegeneinander aufrechnen, so dass unter dem Strich eine klare Bilanz zu erkennen wäre. Oder dass gute Taten ein Versagen an anderer Stelle tilgen. 

Es bleibt nur das Schauen, die „Kontemplation“. Das alles bin ich, das alles geht in mir vor, das alles gehört zu meinem Leben. So ist es, und so darf es vor Gott auch sein. Es ist eine Momentaufnahme. Ein Wimmelbild vielleicht, ein Bild mit starken Kontrasten und Farben, die sich manchmal beißen. Aber es ist die gegenwärtige Wirklichkeit. 

Irgendwann trollen sich dann die Lärmenden, die Ansprüche und wertenden Urteile meiner Umgebung, die Stimmen in meinem Kopf. Und eine andere Stimme, eine andere Gegenwart stellt sich ein. Diesem Gast muss ich nichts erklären, nichts kaschieren oder beschönigen. Er kennt alle meine Geheimnisse. Und er hält es mit mir auch dann aus, wenn ich selbst lieber davonlaufen würde.

Das Urteil aussetzen. Nicht taxieren, nicht werten, messen, vergleichen oder aufrechnen. Schauen mit dem Herzen. Atmen und spüren, was da ist. Präsent sein, leiblich, an diesem Ort und in diesem Moment. Und nicht im Kopf schon wieder woanders. Braucht es nicht genau diesen Blick, um in dem Jesuskind, für das kein Platz war, den kommenden Messias zu erkennen? Und im verurteilten und gekreuzigten Christus die Liebe Gottes, die sich für uns zerreißt? Gottes „Widersinne“ – sie sind das Geheimnis, das Gott Paulus anvertraut hat und dessen Hüter er ist. 

In der Erfahrung, dass Gott diesen liebevollen, festlichen Blick auf mich hat, finde auch ich die Freiheit, meinen Weg zu gehen. Unbefangen, selbstvergessen, manchmal fast spielerisch – und zugleich ernsthaft und mutig. 

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Der leere Stuhl

Der gleichnamige Song passt vom Thema her in die Jahreszeit: Sting hat „The Empty Chair“ für Jim Foley um Thanksgiving herum geschrieben, und bei uns steht das Thema Tod und Trauer auch zum Ende des Kirchenjahres an.

Jim Foley war Reporter und wurde vom IS ermordet. An ihn zu erinnern heißt auch, an alle Journalistinnen und Aktivisten zu erinnern, die sich in Gefahr begeben, bedroht werden oder Gefangenschaft und Gewalt erleiden. Diese Aufnahme stammt aus dem Bataclan, ein sehr passender Ort.

Wer den Text dazu mitlesen möchte (man versteht ihn eigentlich auch so recht gut…), kann hier mitlesen. Traurig, aber nicht hoffnungslos. Für alle, die am kommenden Sonntag einen leeren Stuhl am Tisch stehen haben.

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Fanatiker

Aus dem Buchladen des jüdischen Museums in München komme ich nie ohne eine Neuerwerbung raus. Diesmal war es „Wie man Fanatiker kuriert“ von Amos Oz. Als jemand, der in Jerusalem groß geworden ist, bezeichnet er sich augenzwinkernd als „Experten in vergleichender Fanatismusforschung“.

Das Thema ist hier und heute wieder aktuell, weil Bayern und andere östliche Bundesländer hohe Inzidenzwerte haben, die unter anderem auf die vielen Querdenker dort zurückgehen. Und weil in diesem Segment und bei dieser Thematik auch ein gewisser Hang zum Fanatismus und zur Radikalisierung (ganz aktuell z.B. hier) besteht.

(Photo by Jon Tyson on Unsplash)

So liest sich die Charakterisierung unseres Experten, die vielleicht auch hilft, zu unterscheiden, wer tatsächlich fanatisch ist und wer eine andere, vielleicht auch merkwürdige oder problematische Meinung vertritt:

Der Fanatiker ist die uneigennützigste Kreatur. Der Fanatiker ist ein ungemeiner Altruist. Oft ist der Fanatiker mehr an Ihnen interessiert als an sich selbst. Er will Ihre Seele retten, Sie erlösen, Sie von der Sünde befreien, vom Irrtum, vom Rauchen, vom Glauben oder vom Unglauben, er will Ihre Essgewohnheiten verbessern, Sie vom Trinken heilen oder von Ihren Wahlgewohnheiten. Dem Fanatiker liegt viel an Ihnen, er fällt Ihnen entweder permanent um den Hals, weil er sie wahrhaft liebt, oder er will Ihnen den Hals umdrehen, sollten Sie sich als nicht erlösbar erweisen.

Amos Oz, Wie man Fanatiker kuriert, Frankfurt 2004, S. 50

Im Grunde, schreibt Oz, wollte auch Bin Laden den Westen nicht vernichten, sondern nur von tragischen Verblendungen befreien, die in Wahrheit gesundheitsschädlich sind.

Die Ambivalenz von „um den Hals fallen“ und „den Hals umdrehen“ hat mich besonders angesprochen. Da erinnere ich mich an Begegnungen mit religiösen Fanatikern, aber auch an die Bilder von den Querdenkern am und im Reichstagsgebäude. Vielleicht liegt hier ein Schlüssel, was den Fanatismus neben seiner Selbstgerechtigkeit (und dem damit verbundenen Überlegenheitsgefühl) und dem Schwarz-Weiß-Denken (und der damit verbundenen „Klarheit“) noch interessant macht: Diese schlagartige Nähe, die er unter Menschen entstehen lässt.

Da können reflektiertere Positionen, die mehr Distanz zu sich und der eigenen Meinung pflegen, oft schwer mithalten. Andererseits ist ja niemandem geholfen, wenn wir jetzt alle fanatische Antifanatiker werden. Mit Humor und ohne Bitterkeit zu leben, das kann man von Amos Oz wunderbar lernen.

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Ein Vergebungsministerium?

Ich bin über diesen Begriff gestolpert in diesem Text von Georg Diez auf Zeit Online (inzwischen hinter der Paywall verschwunden). Es handelt sich also nicht um eine neue Aufgabe für Jens Spahn, der ja zu Beginn der Corona-Maßnahmen anmerkte: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“

Aber vielleicht deutet sich in Spahn Worten ja eben dieser Umbruch an, um den es Diez geht: Dass wir nämlich ein ganz neues Vokabular brauchen, um die Zukunft zu gestalten und dass unsere alten Begriffe wie „Vernunft“ und „Realismus“, „Freiheit“ und „Individuum“ oder das Etikett „bürgerlich“ dazu nichts mehr beitragen. Sie stammen aus den Umbrüchen des 17. und 18. Jahrhunderts. Jetzt steht ein neuer Umbruch an, für den wir noch keine Worte, Bilder und Erzählungen haben. Deshalb regt er im selben Atemzug auch noch ein „Hoffnungsministerium“ an. Der prosaische Pragmatismus (nicht zuletzt der Merkel-Ära) hat uns in all die Sackgassen hineinbefördert, aus denen wir jetzt mühsam wieder herausfinden müssen.

Da landen also zwei schwergewichtige theologische Begriffe in der gesellschaftspolitischen Debatte. Freilich kann heute noch niemand sagen, ob Diez ein Rufer in der Wüste bleibt oder ob sein Impuls sich durchsetzt. Doch was spräche dagegen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen? Man muss ja nicht gleich den Minister stellen und den Diskurs kapern wollen. Es könnte freilich sein, dass uns beim Mitdenken auffällt, wie sehr manche unserer binnenkirchlichen Struktur- und Reformdiskussionen auch unter den „Chiffren im deutschen Schrumpf-Diskurs“ leiden und nach einer unverbrauchten Sprache verlangen. Oder wie sehr uns derzeit noch die Worte fehlen, um den Übergang vom Alten ins Neue zu meistern.

Photo by Leighann Blackwood on Unsplash

Was ich damit sagen will: Reden wir doch mit möglichst vielen anderen darüber, was für eine Gesellschaft wir haben wollen. Dann können wir vielleicht irgendwann auch sagen, was für eine Kirche dazu passt. Sonst gilt auch für viele unserer kircheninternen Gespräche: „…wenn die Worte fehlen, ein Morgen zu beschreiben, bleibt Politik fast zwangsläufig im Status quo verhangen, Verwaltungspolitik“. So erleben viele Haupt- und Ehrenamtliche derzeit die Gespräche über den bevorstehenden Landesstellenplan: Es geht um Zahlen, um Vorgaben, die zu erreichen sind, aber wir sprechen kaum mehr davon, wie die Veränderung der kirchlichen Landschaft mit den Veränderungen zusammenhängt, die um uns herum geschehen. Oder geschehen müssten, aber durch diese oder jene Interessengruppe blockiert werden.

Die Sprache der Veränderung

Man könnte auch sagen: Die Zeiten werden härter – die Sprache der Veränderung wiederum wird das nicht unbedingt sein, vielleicht sogar gerade nicht, wird eher weich sein und offen und verletzlich: Sie wird neue Worte hervorbringen oder ins Zentrum rücken, die näher sind an dem, was den Menschen ausmacht, an Körper, Ängsten, Zweifeln, Hoffnungen und Gefühlen. Es können Begriffe von Schönheit und „Sharing“ sein und auch alte Worte wie Glaube, neu kodiert für unser säkulares Zeitalter.

Georg Diez

Was können wir also beitragen zu dem „emotional turn“, von dem Diez schreibt? Es geht ja nicht um Rührseligkeit. Eher vielleicht darum, dass unsere politischen Diskurse derzeit entweder technokratisch-sterile Formulierungen verwenden oder aber – ganz überwiegend im rechten Spektrum – von einem Gemisch aus Angst und Wut dominiert werden. Man konnte den Effekt gut im Wahlkampf beobachten. Um nicht als Angstmacher zu erscheinen, versuchten Politiker*innen über die Klimakrise betont „sachlich“ zu reden, und das heißt bei uns eben: möglichst emotionslos. Umgekehrt verlief die Debatte hochgradig emotional, wo Union, Springerpresse und andere Akteure den Klimaschutz als Angriff auf die Freiheit und Bedrohung unseres Wohlstands und Lebensstils framen konnten, hinter dem wahlweise kopflose Hysteriker stecken oder eiskalte Öko-Diktatoren.

Der Weg durch die Trauer

Mir scheint, viel von dem Ärger ist eine Art maskierte Trauer. Trauer wirkt, wenn sie sich öffentlich zeigt, oft schwach, während Ärger aggressiv auftritt, sich irgendwie stärker anfühlt und sich daher auch leichter zeigen lässt. Wir trauern um die Welt, die wir kannten und in der wir groß geworden sind. Die einen betrauern vor allem die Zerstörung der Natur, die anderen das nahe Ende des fossilen Kapitalismus und dessen Verheißung von materiellem Wohlstand. Trauer ist legitim, Ärger kann schnell übergriffig werden. Wenn Diez oben von Ängsten und Zweifeln spricht – könnte das unser Beitrag sein, der Trauer einen Raum und Rahmen zu geben, damit sie nicht im Gewand des Ärgers und der Spaltung zurückkehrt?

Vielleicht hilft der bewusste Weg über die Trauer auch dabei, die übrigen theologischen Begriffe wie Glaube, Vergebung oder Hoffnung für die aktuelle Situation neu zu kodieren, wie Diez es fordert. In der biblischen Tradition sind es die weinenden Propheten, die dann vollmächtig von Hoffnung reden können. Die Versuchung, die Trauer zu überspringen oder zu umgehen, könnte eine Erklärung dafür sein, warum uns diese neue Sprache, die Sprache der Veränderung, so schwerfällt.

Also, vielleicht fangen wir mal mit dem Trauerministerium an.

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Adieu Erlangen

Vor 45 Jahren zogen meine Eltern mit uns nach Erlangen. Knapp die Hälfte dieser Zeit wohne ich – ohne Eltern freilich – im Röthelheimpark. Länger als an irgendeinem anderen Ort. Unsere Kinder sind hier groß geworden und von hier ausgeflogen. Die ganze Gegend ist aufgeladen mit Erinnerungen. Weggezogen und wieder hergezogen bin ich schon mal für ein paar Semester, auch das gehört in Erlangen dazu. So seßhaft zu sein hatte ich eigentlich gar nicht vor. Gestern saßen wir bis zum frühen Morgen mit den Nachbarn zusammen an einer langen Tafel. Und haben noch einmal gespürt, wie viel Verbindung über diese zwei Jahrzehnte gewachsen ist, in denen wir gemeinsam älter geworden sind. Und wie kostbar und selten so etwas ist.

Nun lege ich viele Alltagswege zum letzten Mal zurück. Ich mag die kurzen Entfernungen in die Stadt und in den Wald. Die kleinen Dörfer, die man von hier aus so schnell erreicht und deren Biergärten sich auf uns Stadtmenschen eingestellt haben. Mit diesem „das letzte Mal“-Blick bin ich gerade unterwegs: Was macht diese Orte einzigartig? Wie werde ich sie im Gedächtnis behalten? Wie wird es sich anfühlen, später als Besucher hier wieder vorbeizukommen?

Das Reisebüro im nahen Ladenzentrum verquickt derzeit das Reisen mit der Identität: Erst wenn ich hier rauskomme, bin ich angeblich wirklich ich. Bei Descartes hat wenigstens noch der Zweifel das Subjekt ausgemacht, hier heißt es lapidar: „Ich düse, also bin ich.“

Also – ich muss sicher nicht irgendwo anders hin, um endlich 100% ich zu werden. Wer ich bin, das hat mit den Menschen zu tun, mit denen ich mein Leben geteilt habe und sie mit mir. Und jetzt freue ich mich darauf, im Nürnberg Osten noch mehr Leben teilen zu können als bisher. Wird mich das verändern? Vermutlich, sonst wäre es kein echtes Teilen. Auf den meisten Alltagswegen den Leuten im Stadtteil zu begegnen, auf spontane Besuche neben den geplanten. Es liegen anspruchsvolle Aufgaben vor uns, Konzepte und Gebäude müssen runderneuert werden. Vieles, was durch die Pandemie auf Eis lag, muss wieder behutsam in Gang gesetzt werden. Aber die Stimmung in der Auferstehungskirche ist gut im Sommer 2021. Ein passender Zeitpunkt, den privaten Fuß nachzuziehen und den Schritt in die große Stadt zu Ende zu gehen. Und mit einem „das-erste-Mal-Blick“ dort den Alltag zu

In den kommenden Tagen packe ich mein Leben in hundert oder mehr Kartons. Den nächsten Blogpost werde ich dann schon als Nürnberger schreiben. Falls Ihr dann den Eindruck habt, dass ich anders klinge, wird es wohl daran liegen.

Habt einen schönen Sommer und bleibt gesund!

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Generation Jona

September 2019. Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen. „How dare you“, wie könnt Ihr es wagen“ ruft sie, und „Ich möchte dass Ihr in Panik geratet“. Ich stelle mir vor, diese historische Rede hätte derart eingeschlagen, dass die anwesenden Staatschefs hinterher nicht nur ein paar nette Worte gesagt hätten. Stattdessen hätten sie damals schonungslos eingestanden, dass die Weltgemeinschaft bei der Bekämpfung der menschengemachten Erdüberhitzung bisher versagt hat. Und hätten dann gemeinsam mit Wissenschaftlern und Aktivisten überlegt, was zu tun ist und wie die Lasten dabei fair verteilt werden können. Wie wäre das wohl gewesen? 

Wie wäre das wohl gewesen, wenn die Regierenden bei uns und anderswo Anfang 2020 die ersten Warnungen vor dem neuartigen Coronavirus radikal ernst genommen, sich informiert und miteinander abgestimmt hätten um dann grenzüberschreitend wirksame Maßnahmen zum Schutz der Menschen zu ergreifen? 

Wunderbar wäre das gewesen, aber so läuft es eben nicht. Stattdessen werden solche Warnungen totgeschwiegen oder zerredet. Ihren Überbringern werden die übelsten Motive unterstellt. Ihre Glaubwürdigkeit mit allen Mitteln beschädigt. Greta wird als naiv und hysterisch diffamiert. Klimaforscher (oder Virologen) wollen sich doch bloß wichtig machen, sagen manche, und uns den Spaß verbieten oder sich als Diktatoren aufspielen.

Also passiert erst einmal lange nichts. Jede und jeder, der sich in einer größeren Gruppe oder Organisation für Veränderung eingesetzt hat, kann ein Lied davon singen. Auch den Propheten in der Bibel von Mose bis Jesus ist es so ergangen. Die Mehrheit schlägt ihre Warnungen in den Wind. Prophet zu sein ist in der Regel ein einsames und schmerzhaftes Geschäft.

Photo by Gian Porsius on Unsplash

Sagenhaft erfolgreich

Einmal, ein einziges Mal, erzählt die Bibel diese Geschichte vom einsamen „Rufer in der Wüste“ allerdings anders. Ganz anders. Der Prophet Jona marschiert durch die Straßen von Ninive, der Metropole des Assyrischen Weltreiches. Er hat nichts Erfreuliches zu sagen:

Jona begann, in die Stadt hineinzugehen; er ging einen Tag lang und rief: Noch vierzig Tage und Ninive ist zerstört! 
Und die Leute von Ninive glaubten Gott. Sie riefen ein Fasten aus und alle, Groß und Klein, zogen Bußgewänder an. Als die Nachricht davon den König von Ninive erreichte, stand er von seinem Thron auf, legte seinen Königsmantel ab, hüllte sich in ein Bußgewand und setzte sich in die Asche. 

Was für eine überwältigende Reaktion, die Jona da entgegenschlägt! Davon wagt ein einfacher Pfarrer wie ich ja gar nicht zu träumen: Ein Ruck geht durchs Land. Veränderungsbereitschaft bricht sich Bahn, und zwar auf der ganzen Linie. 

Ausgerechnet Jona, denken jetzt alle, die die Vorgeschichte kennen: Das ist doch der Typ, der versucht, vor Gott abzuhauen. Der verrückt genug ist, das per Schiff zu tun, das in die entgegengesetzte Richtung fährt, keineswegs Richtung Ninive, und damit seine Mitreisenden in Lebensgefahr bringt. So etwas kann nicht gutgehen!  Und es geht auch nicht gut. Aber es geht wenigstens insofern gut aus, als Jona wundersam überlebt. 

Es gibt nicht viele Witzfiguren in der Bibel, aber für mich ist dieser Jona definitiv eine Karikatur. Und die hat sich keineswegs zufällig in die Heiligen Schriften hineingemogelt. Sie wurde bewusst hineingeschrieben, in der Hoffnung, dass wir Leser*innen den schrägen Vogel amüsant finden. Und dass beim Fremdschämen dann auch noch ein Stück Selbsterkenntnis abfällt. Denn Jona lebt all das ungehemmt aus, was wir  – meistens jedenfalls – gerade noch so im Zaum halten. Und er scheitert damit spektakulär.

So sagenhaft überzeichnet wie die verbohrte Hauptperson sind auch die Umstände der Jona-Geschichte: Der Riesenfisch etwa, den Gott als Vorläufer aller Seenotretter im Mittelmeer schickt. Oder die gigantischen Ausmaße von Ninive: Drei Tage braucht man angeblich, um die Weltstadt zu Fuß zu durchqueren. Ebenso krass fällt auch die Reaktion des namenlosen Königs und seines Volkes aus: Sack und Asche als Zeichen der Buße und Umkehr, sogar für die Tiere. Ein schlagartiger Kurswechsel – als hätte jemand den Schalter umgelegt. Die Menschen in Ninive scheinen felsenfest davon überzeugt, dass Jonas Gott barmherzig ist. Mit Mann und Maus stellen sie sich ihrer Schuld und flehen Gott an, die Stadt zu verschonen.

Der Jubel fällt aus

Ganz Ninive kleidet sich plötzlich in Sack und Asche. So läuft das nicht im richtigen Prophetenleben, natürlich nicht, aber das spielt keine Rolle, denn das Drama geht weiter. Jona hätte an diesem Punkt als größter Prophet aller Zeiten nach Hause zurückkehren können. Er hätte seine Memoiren schreiben können, Vortragsreisen durch ausgebuchte Synagogen machen, Prophetenworkshops halten und an seinem Haus eine Tafel anbringen lassen, die daran erinnert, wie er ganz im Alleingang ein Weltreich umgekrempelt hat. Aber Jona tut nichts von alledem. Die Kehrtwende der Leute in Ninive lässt jede Hoffnung auf einen schaurigen Showdown schwinden. Jona ist schlicht sauer:

„Das aber verdross Jona sehr und er ward zornig und betete zum Herrn und sprach: Ach, Herr, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war, weshalb ich auch eilends nach Tarsis fliehen wollte; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben.“

Jona 4,1-3

Schlagartig wird hier deutlich, warum Jona sich die ganze Zeit so und nicht anders verhalten hat: Gott ist ihm einfach zu nett zu den Assyrern. Er müsste mehr „klare Kante zeigen“, kräftig Furcht und Schrecken verbreiten. Nicht nur halbherzig drohen, sondern das Strafgericht durchziehen. Dann würde ihm Jona mit Stolz dienen. So tut er es missmutig und fühlt sich – trotz dieses gewaltigen Erfolges – als das betrogene Opfer. Und als wäre die ganze Empörung noch nicht theatralisch genug, will er am Ende auch gleich noch sterben.  

Zu Tränen geschmeichelt

Unser Jona – der so mühelos zum Erfolg kommt, während andere Propheten beschimpft, bedroht und verjagt werden – versinkt im Selbstmitleid. Das ist ein ganz besonderer Zustand: Irgendwie eine wohlige Melancholie. Sie steigt mir zu Kopf, sie berauscht. Und dann dreht sich alles im Kreis. „Zu Tränen geschmeichelt“ ist man, hat mal ein Dichter gesagt. Zum Unverstandensein braucht es eben eine gewisse Größe. So 08/15 Typen versteht ja jeder, aber so eine Ausnahmeerscheinung wie mich – das schafft nicht jede*r.

 Je höher meine Meinung von mir selbst, um so größer fällt die Kränkung aus, wenn andere sie nicht teilen oder erwidern. Wer sich selbst bemitleidet, ist meist davon überzeugt, dass er zu kurz gekommen ist und eigentlich mehr oder besseres verdient hätte. 

In seinem gekränkten Stolz zieht Jona sich zurück in den Schmollwinkel. Selbstmitleid genießt man nämlich am besten allein. Andere können das nie ganz nachempfinden, schreibt der irische Autor Fintan O’Toole. Er hat studiert, wie sich Selbstmitleid in menschlichen Gemeinschaften auswirkt. Es trifft ja nicht nur Einzelne – kollektives Selbstmitleid erfasst auch die, die persönlich nicht dazu neigen. Und es treibt seltsame Blüten; deswegen ist es wichtig, genau hinzusehen. O’Tooles Beispiel, die Engländer, sind von uns aus gesehen weit genug weg, um nüchtern hinzusehen. Und ähnlich genug, um die Absurditäten zu entdecken. 

O’Toole zeichnet nach, wie es vor fünf Jahren zum Brexit kommen konnte. Auch da waren gewisse Stimmungen ganz entscheidend. England dachte nach dem gewonnenen Krieg gegen Hitler, dass ihm eine Vormachtstellung in Europa zufallen würde, schreibt o’Toole. Als sich dann die EU allmählich formiert, sind die Briten sich zu schade, bei den Verlierern mitzuspielen. Irgendwann treten sie dann doch bei, weil die Wirtschaft lahmt und man Sorge hat, etwas zu verpassen. Aber es ist eher eine Vernunftehe als eine Liebesheirat. Und weil sich der Zwiespalt trotz vieler Sonderrechte nie so recht auflöst, gelingt es den nationalistischen Gegnern der EU, die Mehrheit im Land davon zu überzeugen, dass die Europäer neokoloniale Unterdrücker sind, die das große England kleinhalten. Gleichzeitig malen sie den ach so gegängelten Briten die strahlende Zukunft eines globalen „Empire 2.0“ vor Augen. Opferstatus küsst Größenwahn. 

Gibt es das auch auf Deutsch? Na klar: Zum Beispiel, wenn wir uns weismachen, wir hätten uns das Wirtschaftswunder mit Fleiß und Disziplin erarbeitet. Und uns dann empören über die Zumutung, mit unseren sauer verdienten Euros für das Dolce Vita der verschuldeten Südeuropäer zu zahlen – oder Menschen aufzunehmen, die vor Krieg, Diktatur und Dürre fliehen. 

Jona will lieber sterben, als zuzusehen, wie Gott Ninive verschont. Selbstmitleid auf die Spitze getrieben. Es geht nicht so, wie er es sich ausgedacht hat. Nun ist es an Gott, ihm die Augen zu öffnen. Er stellt ihm eine schlichte Frage:

Meinst du, dass du mit Recht zürnst?“

Jona 4,4

So leicht lässt sich Jona nicht aus dem Konzept bringen. Natürlich zürnt er mit Recht! Er bleibt in Sichtweite der Stadt sitzen und hofft weiter, dass Feuer vom Himmel fällt. Die Vierzig-Tage-Frist ist schließlich noch nicht um. Jona wettet quasi darauf, dass Gott seinem Einspruch stattgibt und an Ninive doch noch ein Exempel statuiert. Die Büßer in der Stadt wetten ihrerseits darauf, dass Gottes Barmherzigkeit größer ist als sein berechtigter Zorn. So wie zuvor die heidnischen Seeleute, die Jona auch dann nicht über Bord werfen wollen, als er sich schuldig bekennt und sie dazu auffordert: Werft mich ins Meer! Stattdessen rudern sie erst einmal wie verrückt, um ihn noch zu retten. Und selbst als es unausweichlich wird, bitten sie um Vergebung dafür, dass sie diesen Passagier auf Abwegen nicht schützen können.

Solche Solidarität ist Jona freilich fremd. Er sitzt da wie mit einem Eimer Popcorn im Kino und wartet fest entschlossen darauf, dass der Katastrophenfilm endlich losgeht. Und Gott startet die zweite Phase seiner Therapie: Er spielt Jona einen Streich. Während der in der heißen Sonne des heutigen Iraks brutzelt, wächst neben ihm eine Rizinusstaude, die ihm Schatten spendet. Doch kaum hat sich Jona an die Annehmlichkeit gewöhnt, lässt ein Parasit sie wieder eingehen. Als der Ostwind bläst und die Sonne immer höher steigt, und kein Schatten mehr Erleichterung verschafft, will Jona – na klar – schon wieder sterben.

Ein Anstoß zum Umdenken

Natürlich fällt uns an anderen deutlich schneller auf, wie albern Selbstmitleid ist. Das Bemerkenswerte an der Jona-Geschichte ist jedoch, dass Israel eine Geschichte erzählt, in der der einzige Israelit, Jona, denkbar schlecht wegkommt. Es zeigt nicht mit den Fingern auf die anderen, sondern fasst sich an die eigene Nase. Nicht anklagend, sondern humorvoll. Das ist schon ein entscheidender Schritt weg vom Größenwahn. Wer Humor hat, hat Distanz zu sich selbst und den eigenen Launen. Jona freilich gehört nicht zu dieser Sorte Mensch oder er ist noch dabei, es zu begreifen. Also spricht Gott noch einmal mit ihm:

Gott aber fragte Jona: Ist es recht von dir, wegen des Rizinusstrauches zornig zu sein? Er antwortete: Ja, es ist recht, dass ich zornig bin und mir den Tod wünsche. Darauf sagte der Herr: Dir ist es leid um den Rizinusstrauch, für den du nicht gearbeitet und den du nicht großgezogen hast. Über Nacht war er da, über Nacht ist er eingegangen. Mir aber sollte es nicht leid sein um Ninive, die große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht einmal rechts und links unterscheiden können — und außerdem so viel Vieh?

Mit diesen Worten bricht die Geschichte ab. Wir erfahren nicht mehr, ob Jona sich auf den Perspektivwechsel einlässt, den Gott ihm hier anbietet: Du jammerst, weil dir heiß ist, Jona? Dir ist ein Strauch mehr wert als über hunderttausend Menschen, die genauso verpeilt sind, wie du selbst? Und von den Tieren haben wir dabei noch gar nicht geredet!

Die Geschichte bricht ab, weil nicht Jona die Antwort auf diese Frage geben muss, sondern wir, die Leserinnen und Hörer. Wir kennen das mit dem offenen Ende auch von den Gleichnissen Jesu. Dieses Gleichnis, dieses Jona-Selbstmitleid-Gleichnis stellt uns vor die Frage: Will ich eine Witzfigur sein, oder aus meinem Selbstmitleid herausfinden und lernen, die Welt mit Gottes Augen zu sehen? Selbstmitleid ist ja nicht angeboren, sondern erlernt. Und es wird besonders schnell und gründlich erlernt, wenn es in meinem Umfeld die verbreitete Stimmung ist. 

Selbstmitleid ist daher auch etwas völlig anderes als Mitgefühl. Wenn ich mit anderen fühle,  sind sie nicht meine Konkurrenten um Anerkennung und Privilegien. Und Jonas Gemaule ist auch etwas ganz anderes als die Klagen leidender Menschen. Es vergrößert seine Distanz zu Gott. Echte Klage aber verbindet Menschen mit Gott. So wie im folgenden Lied von Coldplay, in dem es heißt: „Wenn mir elend zumute ist, dann lass du, Gott, dein Licht über mir leuchten.“

Deprivilegiert euch!

Humorlose Wehleidigkeit. Mir scheint, dass unsere öffentlichen Debatten gerade schwer darunter leiden, und das vergiftet den Umgangston. Autofahrer, die jahrzehntelang von den Verkehrsplanern privilegiert wurden, fassen es als Kriegserklärung auf, dass sie vom Gas gehen und sich die Fahrbahn mit Fahrradfahrern teilen sollen. Jugendliche und junge Erwachsene: ihre Chancen in Bildung und Beruf sind durch den Lockdown spürbar beeinträchtigt, Gutverdiener aus dem Homeoffice aber haben sie im Winter beschimpft, wenn sie ab und zu Freunde trafen. Impfgegner, denen niemand ein Haar krümmt, stilisieren sich zu Holocaustopfern. Menschen, die nie Opfer von Sexismus und Rassismus waren, beschimpfen jedes Bemühen um gerechte Sprache als Diktatur. Kaum etwas scheint schwerer aufzugeben, als der grundlose Anspruch auf bevorzugte Behandlung. 

„Für ihre kleine heile Welt muss anderswo die Sache den Bach heruntergehen.“, las ich kürzlich. Vielleicht teilen wir nicht Jonas Lust am Untergang der anderen. Aber wir haben uns wie er immunisiert gegen das Leid der anderen, das wir ungerührt in sicherer Entfernung geschehen lassen. 

„Hier schwimmt meine, die Boomer-Generation, gleichsam als Fettauge auf einer Suppe, die die Jüngeren auszulöffeln haben.“

taz futurzwei vom 8. Juni 2021

Der Satz oben stammt von Harald Welzer. Er gehört, wie ich auch, zur Altersgruppe der „Boomer“. Das sind die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1969, die Kinder des Wirtschaftswunders und der Wohlstandsgesellschaft. Groß geworden mit viel Sicherheit und wenig Verzicht. Aber auch wenig Bewusstsein für die Folgen unseres Konsums, die wir einfach den kommenden Generationen aufbürden. Wir hatten unsere Privilegien, wir haben sie genossen, aber jetzt, sagt Welzer, ist es höchste Zeit, unsere Ansprüche herunterzuschrauben. Uns zu „deprivilegieren“. 

Und ich merke: Ich kann mich fröhlich und freiwillig deprivilegieren und anderen damit ein gutes Beispiel geben. Oder ich kann mir zeternd und beleidigt ein Zugeständnis nach dem anderen abringen lassen. Das Ergebnis wäre dasselbe, aber ich hätte mich unsterblich blamiert. 

Zusehen oder Zupacken?

Mein Vater erzählte einmal von einem baltischen Pfarrer aus dem 19. Jahrhundert. Der war am Meer aufgewachsen, aber er stieg nur höchst ungern in ein Schiff. „Da ist man zu sehr in Gottes Hand“, lautete seine fromme Erklärung. Dem hätte Jona nach seinem Ausflug übers Meer wohl zugestimmt. Später, an einem eisigen Wintertag, brach vor den Augen dieses Pfarrers jemand im zugefrorenen Haff ein. Da fasste sich die alte Landratte ein Herz und riskierte Kopf und Kragen. Der Rettungsversuch kostete ihn tatsächlich das Leben. Aber das Mitgefühl mit dem Ertrinkenden war im Ernstfall doch stärker als die Angst und die Sorge um sich selbst. Er konnte den Untergang nicht mit ansehen.

Totale Selbstaufgabe ist in den seltensten Fällen nötig – eher viele kleine Schritte der Selbstzurücknahme. Und wenn mir dabei etwas sauer aufstößt, hilft hoffentlich immer wieder der Gedanke an Jona, die Witzfigur, und die Frage: „Meinst du, dass du mit Recht zürnst?“ Gern auch aus dem Mund der Gretas und Luisas und aller, die nach ihnen kommen. Und hoffentlich auch das Gespräch mit dem Gott, der nicht nur die netten Menschen und nicht nur die niedlichen Tiere liebt. 

Wenn ich Gottes Einladung annehme, mit meinen Mitgeschöpfen so barmherzig zu werden, wie er es ist, dann hat die Jona-Geschichte doch noch ein Happy End.

Nachtrag: Diesen Text habe ich für die Evangelische Morgenfeier vom 11.7.2021 auf Bayern 1 Radio geschrieben.

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Viele kleine Flammen

Leider ohne den schönen Gesang und die Begleitung von heute vormittag - ein pfingstlicher Weg von Eden über Babel und Jerusalem  bis nach Rom aus dem Gottesdienst heute morgen in der Auferstehungskirche. Die Lesungen habe ich in Form von Anmerkungen eingefügt, so ist es etwas kompakter und übersichtlicher. Frohe Pfingsten!

Lesung aus Genesis 1 und 2 1Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. 
Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz.
Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser. 
Gott sprach: Licht werde! Licht ward. 
Gott sah das Licht: daß es gut ist.
Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis. 
Gott rief dem Licht: Tag! und der Finsternis rief er: Nacht!
Abend ward und Morgen ward: Ein Tag. 

Am Tag, da Er, Gott, Erde und Himmel machte, 
noch war aller Busch des Feldes nicht auf der Erde,
noch war alles Kraut des Feldes nicht aufgeschossen, 
denn nicht hatte regnen lassen Er, Gott, über die Erde,
und Mensch, Adam, war keiner, den Acker, Adama, zu bedienen: 
aus der Erde stieg da ein Dunst und netzte all das Antlitz des Ackers, 
und Er, Gott, bildete den Menschen, Staub vom Acker,
er blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens,
und der Mensch wurde zum lebenden Wesen. 

Ach ja, die da drüben. Ja, früher waren wir mal ganz eng. Wie eine ganz große Familie. Dann kam irgendwer auf die Idee mit dem Bau. Tolle Pläne haben wir gemacht: Türme, einer größer als der andere. So etwas schafft Zusammenhalt, haben alle gesagt. Und es zeigt, dass mit uns zu rechnen ist. Wir schaffen eine Attraktion, um die sich alle sammeln. Die Geburt einer großen Nation, und wir Erdlinge sind ihre Schöpfer.

Bild: Laurenz Heymann via unsplash.com

Ich weiß nicht, was die von drüben euch erzählt haben. Oder habt ihr sie noch gar nicht gesprochen? Das wird auch nicht ganz leicht, die versteht man nämlich nicht. Ganz komisch reden sie da drüben. Das kam fast über Nacht. Plötzlich hat nichts mehr funktioniert. Bestellungen wurde nicht ausgeliefert, Material kam am falschen Ort an, Rechnungen wurden nicht bezahlt. Steinmetze gegen Maurer, Zimmerleute gegen Flößer, alle schreien sich an, bis sie irgendwann frustriert verstummen.

Ich sage euch: Die wollen nicht, dass wir sie verstehen. Irgendwas verheimlichen sie uns, ganz sicher nichts Gutes. Selbst wenn sie unsere Sprache sprechen würden, wir würden ihnen nichts mehr glauben. Und das Beste ist ja, dass sie jetzt uns vorwerfen, wir seien es, die anders reden, und die schuld sind an den Missverständnissen. 

Wir überlegen jetzt, ob wir aus diesem Tohuwabohu der Bauruine eine Mauer hochziehen. Ich meine, irgendwie muss man sich ja schützen vor denen. Aber vielleicht verläuft sich das auch alles noch. Wenn man nicht redet, verliert man sich leicht aus den Augen und kriegt sich nicht in die Wolle.

Ezechiel 362Meinen großen, bei den Völkern entweihten Namen, 
den ihr mitten unter ihnen entweiht habt, werde ich wieder heiligen.
Und die Völker werden erkennen, dass ich der Herr bin,
wenn ich mich an euch vor ihren Augen als heilig erweise.
Ich hole euch heraus aus den Völkern,
ich sammle euch aus allen Ländern und bringe euch in euer Land…
Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.
Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust
und gebe euch ein Herz von Fleisch.
Ich lege meinen Geist in euch und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt
und auf meine Gebote achtet und sie erfüllt.

Vielleicht haben wir uns einfach übernommen. Und nicht bedacht, dass wir neben dem Fortschritt am Bau auch auf die Beziehungen achten müssen. 

Manche sagen, da steckt Gott dahinter. Der wollte nicht, dass wir so hoch hinaus kommen. Andere sagen, ja vielleicht war es Gott, aber er wollte uns vor uns und unserem Übereifer beschützen. Der Turmbau hätte uns allmählich aufgefressen. Früher waren wir alle gleich. Jetzt gibt es Chefs und Untergebene, Zeitdruck und Einschüchterung, Peitsche und Zuckerbrot. 

Und wenn wir einander ansehen, dann sind die Blicke stumpf und die Sorgen- und Zornesfalten hart eingeschnitten, wie eingemeißelt in Stein. Nicht nur mit der Sprache stimmt etwas nicht mehr, sondern auch mit den Herzen. Vielleicht war das ja schon länger das Problem, als wir dachten. Aber wie lässt sich das jetzt noch ändern?

Markus 13Johannes verkündete: Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich; 
ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Schuhe aufzuschnüren.
Ich habe euch nur mit Wasser getauft, er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.
In jenen Tagen kam Jesus aus Nazaret in Galiläa
und ließ sich von Johannes im Jordan taufen.
Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel sich öffnete
und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam.
Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: 
Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.
Danach trieb der Geist Jesus in die Wüste.

Manchmal denke ich, wie das wohl wäre, wenn wir nur für einen Tag wieder die alten wären. Wenn ein Wunder geschähe und wir wieder unbeschwert reden könnten. Oder vielleicht auch zum ersten Mal überhaupt zu Lebzeiten dieselbe Sprache sprächen. Wenn jeder von jedem gehört werden könnte. Was würden wir entdecken an Gemeinsamkeiten? Könnten wir wieder produktiv streiten und würden uns die Unterschiede dann noch so viel Angst machen? 

Welche Sprache spricht eigentlich Gott: Unsere? Die von drüben? Keine von beiden, sondern eine ganz andere, eine himmlische? Oder gar alle Sprachen? Und wenn wir ihn hören und verstehen könnten, was würde er uns sagen? Würde er freundlich zu uns reden oder uns zornig die Leviten lesen? Vielleicht ist ja das die richtige Antwort auf unsere Sprachverwirrung: Einfach mal still sein und nicht ständig anklagen oder mich rechtfertigen? 

Das Gegenteil von Reden ist nicht das Schweigen, hat mal jemand gesagt, sondern die Geschwätzigkeit. Man kann Dinge ja auch tot reden. Vielleicht ist unsere größte Angst ja die, wir könnten nichts zu sagen haben. So lange man zetert und zankt, braucht man sich der Stille und Leere nicht zu stellen. Was passiert wohl, wenn wir einfach mal warten und dem Gesang des Windes lauschen? Manche sagen, der Wind ist so eine Art Atem Gottes.

Apostelgeschichte 24Dann kam der Pfingsttag.
Alle, die zu Jesus gehört hatten, waren an einem Ort versammelt.
Plötzlich kam vom Himmel her ein Rauschen wie von einem starken Wind.
Das Rauschen erfüllte das ganze Haus, in dem sie sich aufhielten.
Dann erschien ihnen etwas wie züngelnde Flammen.
Die verteilten sich und ließen sich auf jedem Einzelnen von ihnen nieder.
Alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt.
Sie begannen, in fremden Sprachen zu reden –
ganz so, wie der Geist es ihnen eingab.
In Jerusalem lebten auch fromme Juden aus aller Welt,
die sich hier niedergelassen hatten.
Als das Rauschen einsetzte, strömten sie zusammen.
Sie waren verstört, denn jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.
Erstaunt und verwundert sagten sie:
»Sind das denn nicht alles Leute aus Galiläa, die hier reden?
Wie kommt es, dass jeder von uns sie in seiner Muttersprache reden hört?
Wir kommen aus Persien, Medien und Elam.
Wir stammen aus Mesopotamien, Judäa, Kappadozien,
aus Pontus und der Provinz Asien, aus Phrygien und Pamphylien.
Aus Ägypten und der Gegend von Zyrene in Libyen, ja sogar aus Rom sind Besucher hier.
Wir sind Juden von Geburt an und Fremde, die zum jüdischen Glauben übergetreten sind.
Auch Kreter und Araber sind dabei.
Wir alle hören diese Leute in unseren eigenen Sprachen erzählen,
was Gott Großes getan hat.«
Erstaunt und ratlos sagte einer zum anderen: »Was hat das wohl zu bedeuten?«
Wieder andere spotteten: »Die haben zu viel neuen Wein getrunken!«

Kann das geschehen, dass Gott mitten unter den Trümmern der alten Welt noch einmal neu beginnt? Dass er sich einfach nicht abhalten lässt von unserem Misstrauen, unseren Feindseligkeiten, unserer Resignation und unserem Selbstmitleid? 

Das wären auf jeden Fall heftige Geburtswehen, die uns bevorstehen, wenn die alte Welt neu werden soll. Andererseits – wir wissen ja, wozu es gut ist. Meine Nachbarn erwarten ein Baby. Die Übelkeit während der Schwangerschaft, die beschwerliche Entbindung und der Schlafmangel in den Monaten, die folgen, beschäftigt sie dabei nur am Rande. Viel größer ist die Vorfreude darauf, ihre Liebe mit diesem Neugeborenen zu teilen und es aufwachsen zu sehen. 

Und wir Älteren drum herum stellen uns auf mehr Lärm in der Straße ein. Aber wenn wir die beiden strahlen sehen, dann schaffen es selbst die Griesgrämigsten unter uns nur mit Mühe, sich davon nicht anstecken zu lassen. 

Römer 8 5Wir wissen ja:
Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz
wie in Geburtswehen – bis heute.
Und nicht nur sie! Uns geht es genauso.
Wir haben zwar schon als Vorschuss den Heiligen Geist empfangen.
Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Innern.
Denn wir warten ebenso darauf, dass Gott uns endgültig als seine Kinder annimmt – und dabei unseren Leib von der Vergänglichkeit erlöst.
Denn wir sind zwar gerettet, aber noch ist alles Hoffnung. (…)

Wir wissen ja nicht einmal, was wir beten sollen.
Und auch nicht, wie wir unser Gebet in angemessener Weise vor Gott bringen.
Doch der Geist selbst tritt mit Flehen und Seufzen für uns ein –
in einer Weise, die nicht in Worte zu fassen ist.

Wir wissen aber: Denen, die Gott lieben, dient alles zum Guten.

Das Neue müsste aber überall geboren werden. Hier bei uns und drüben bei all den anderen. Wir brauchen es ganz nah, in der Nachbarschaft. Wir müssen es eine Weile beäugen, uns dafür erwärmen dürfen. Ein großes Feuer hält alle auf Abstand. Viele kleine Flammen lassen es gleichmäßig warm und hell werden. Niemand darf das Neue kontrollieren und anderen den Zugang verwehren. 

Was tun wir uns schwer, die Kontrolle abzugeben. Wir finden tausend Ausreden, um sie uns zurückzuholen. Und doch gehören die Momente zu den glücklichsten im Leben, wo wir auf die Kontrolle pfeifen. Vielleicht also drehen wir das einfach mal um mit dem Bauen. Gott ist der Architekt und wir sind sein Material. Lebendige Steine quasi. So wird ein Schuh draus. Kein Turm vielleicht, aber ein Schuh. Sagt man das auch so, da wo ihr herkommt?

Die Welt liegt in Wehen. 
 Die Völker streiten um eine gerechte Ordnung. 
 Kinder sterben, aus Wohnhäusern werden Ruinen. 
 Segne die Friedensstifter im Nahen Osten und anderswo.
 Komm heiliger Geist. Komm und erbarme dich.
 
 Die Welt liegt in Wehen. 
 Menschen sehnen sich nach Normalität nach der Pandemie.
 Öffne uns die Augen für die Nöte und Bedürfnisse des anderen.
 Lass Ausgleich und Verständigung gelingen.
 Komm heiliger Geist. Komm und erbarme dich.
 
 Die Kirche liegt in Wehen. 
 Wir wissen nicht, wie wir beten können und wo wir etwas ausrichten sollen.
 Wer werden wir künftig sein, wenn sich so vieles ändert?
 Sprich zu uns in der Wüste des vertrockneten Glaubens, 
 und der Zerstreuung in Konfessionen, Milieus und Prägungen.
 Komm heiliger Geist. Komm und erbarme dich. 
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Was bitte sind „Verschwörungsmystiker“?

Der Ausdruck „Verschwörungsmystiker“ ist mir inzwischen ein paarmal begegnet – in Pressetexten und sogar bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Er ist, ich kann es nicht anders sagen, leider ein terminologischer Totalschaden.

Zwei Dinge kommen hier zusammen: Erstens gab und gibt es Stimmen, die darauf drängen, nicht von „Verschwörungstheorien“ zu sprechen, um seriöse Theoriebildung in den Wissenschaften nicht zu diskreditieren. Stattdessen solle man besser von „Verschwörungsmythen“ sprechen.

Photo by Mika Baumeister on Unsplash

Probleme verlagern statt lösen

Damit wird das Problem freilich nur aus dem Bereich der Naturwissenschaft in den der Sprach- und Literaturwissenschaft verlagert. Denn die Protokolle der Weisen von Zion, Gerüchte über Chemtrails oder Bill Gates, der uns Chips implantieren möchte, sind einfach böswillige Konstrukte und vorsätzliche Fälschungen. Man muss als schon die Vulgärdefinition von Mythos als einer unwahren Geschichte zugrundelegen, um die argumentative Kurve noch zu kriegen. Eigentlich aber geht es in Mythen, wenn man sie richtig versteht, um etwas ganz anderes, wie die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong schön erklärt:

In popular parlance, a “myth” is something that is not true.  But in the past, myth was not self-indulgent fantasy; rather, like logos, it helped people to live effectively in our confusing world, though in a different way.  Myths may have told stories about the gods, but they were really focused on the more elusive, puzzling, and tragic aspects of the human predicament that lay outside the remit of logos.  Myth has been called a primitive form of psychology.  When a myth described heroes threading their way through labyrinths, descending into the underworld, or fighting monsters, these were not understood as primarily factual stories.  They were designed to help people negotiate the obscure regions of the psyche, which are difficult to access but which profoundly influence our thought and behavior.

Karen Armstrong

Was ähnlich klingt, ist noch lange nicht dasselbe

Passend zu Verschwörungstheorien gibt es den Ausdruck „Verschwörungstheoretiker“. Das sind Menschen, die sich Verschwörungstheorien ausdenken oder sie verbreiten. Wer aber meint, „Verschwörungsmythen“ sagen zu müssen, braucht nun eine analoge Wortbildung. Die müsste, wenn schon, „Verschwörungsmythiker“ lauten. Aus Ahnungslosigkeit und Denkfaulheit jedoch wandert hier ein „s“ ein und macht die Mythiker zu Mystikern. Klingt ja ganz ähnlich, kommt beides aus dem Griechischen, das muss doch reichen…? Ein bisschen wie: Obama oder Osama – Hauptsache Hassfigur, der Rest ist egal.

Damit sind nun zwar alle Theoretiker aus dem Schneider, allerdings auf Kosten der Mystiker. Denn Mystik hat mit Mythen erst einmal gar nichts zu tun. Mystiker üben sich im Schweigen und der Meditation, sie fabrizieren also keine Mythen. Mystik setzt auch keine Mythen voraus. Möglicherweise fällt es Menschen, die Erfahrung mit Meditation haben, leichter, mit echten, gewachsenen Mythen umzugehen. Sie verstehen die Sprache der Seele und finden Zugang zu deren Codes und Bildern, ohne diese mit Historie, Tatsachenbehauptungen oder „Informationen“ zu verwechseln.

Mystiker sind nicht weniger rational und vernünftig als andere Menschen. Im besten Fall wissen sie um die Grenzen von Vernunfterkenntnis und Argumenten und um den Wert spiritueller Erfahrung. Einer Erfahrung, die (um es mal mit Martin Buber zu sagen) nicht im instrumentellen und objektivierenden Ich/Es Modus stattfindet, sondern sich im Ich/Du-Verhältnis zu Gott und Schöpfung bzw. Welt vollzieht.

Es waren Theoretiker wie Immanuel Kant, die im 18. Jahrhundert den Kampfbegriff „Mystizismus“ prägten, der zum Synonym für dumpfen Aberglauben wurde und differenziertes Hinsehen überflüssig machte. Aberglauben und religiösen Wahn gibt es freilich auch. Aber es gibt eben ein weites, buntes Feld zwischen diesen beiden Polen: der monarchischen Vernunft und dem magischem Denken oder Spiritualismus (was wiederum ganz ähnlich klingt wie „Spiritualität“, aber etwas ganz anderes ist).

Der Versuch, die Theorie vor dem Wahn zu retten, indem man die Verschwörung erst Richtung Mythos und dann weiter zur Mystik verschiebt, produziert also allerhand sprachliche Kollateralschäden. Dabei wäre das Gegenteil nötig: Auf begriffliche Klarheit zu achten, die gedankliche Klarheit ja überhaupt erst ermöglicht.

Nicola Gess hat an dieser Stelle mit ihrem Buch Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit hilfreiche Arbeit geleistet. Merkt Euch also schon mal den Begriff – Fortsetzung folgt.

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